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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 01.08.2008
Aktenzeichen: 1 S 89/08
Rechtsgebiete: VwGO, EG


Vorschriften:

VwGO § 94
VwGO § 146 Abs. 1
EG Art. 234
1. Gegen einen Beschluss, mit dem das Verwaltungsgericht ein bei ihm anhängiges Klageverfahren im Hinblick auf ein Vorabentscheidungsersuchen aussetzt, das ein anderes Gericht an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet hat, ist die Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht zulässig. In dem Beschwerdeverfahren prüft das Oberverwaltungsgericht nur, ob die (formellen) Tatbestandsvoraussetzungen für eine Aussetzung vorlagen und ob das Verwaltungsgericht ermessensfehlerfrei entschieden hat.

2. Ein Verfahren kann in entsprechender Anwendung von § 94 VwGO ausgesetzt werden, wenn gemeinschaftsrechtliche Fragen, die in dem Verfahren entscheidungserheblich sind, bereits Gegenstand eines beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft anhängigen Vorabentscheidungsverfahrens sind. Die Entscheidungserheblichkeit bedarf der Darlegung; fehlt es daran, ist der Aussetzungsbeschluss aufzuheben.


Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: 1 S 89/08

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch die Richter Göbel und Dr. Grundmann sowie die Richterin Feldhusen am 01.08.2008 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Beklagten wird der Aussetzungsbeschluss des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen - 5. Kammer - vom 07.02.2008 aufgehoben.

Gründe:

A.

Die Beteiligten streiten vor dem Verwaltungsgericht über eine Verfügung, mit der die Beklagte der Klägerin untersagt hat, im Gebiet der Stadtgemeinde Bremen öffentliche Wetten, insbesondere Sportwetten, zu veranstalten, zu vermitteln oder zu bewerben, für die von der im Land Bremen zuständigen Behörde keine Genehmigung erteilt worden ist. Das Verwaltungsgericht hat das Klageverfahren bis zu einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (EuGH) über die Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Gießen vom 07.05.20007 in dem Verfahren 10 E 13/07 und des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 24.07.2007 in dem Verfahren 4 K 4435/06 (GewArch 2007, 382) ausgesetzt. Zur Begründung hat es lediglich ausgeführt, die Aussetzung erfolge in analoger Anwendung des § 94 VwGO; die in den genannten Beschlüssen vorgelegten Fragen seien entscheidungserheblich sowohl für die Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen Entscheidungen als auch für die Rechtslage seit dem 1.1.2008. Mit der Beschwerde begehrt die Beklagte die Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses.

B.

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

I.

Die Zulässigkeit der Beschwerde ergibt sich aus § 146 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Danach steht den Beteiligten gegen die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts, die nicht Urteile oder Gerichtsbescheide sind, die Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht zu, soweit nicht in diesem Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Einen Ausschluss der Beschwerde für Aussetzungsbeschlüsse enthält die VwGO nicht. § 146 Abs. 2 VwGO ist insoweit nicht anwendbar.

1.

Zwar wird die Vorschrift von Teilen der Rechtsprechung entsprechend angewandt, wenn das Verwaltungsgericht ein Verfahren ein Verfahren aussetzt und zugleich den EuGH um eine Vorabentscheidung gemäß § 234 EG ersucht (vgl. z. B. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 17.04.1986 - 11 S 216/86 - InfAuslR 1986,206). Daraus kann aber nicht gefolgert werden, Gleiches habe auch dann zu gelten, wenn das Verwaltungsgericht von einem Vorabentscheidungsersuchen nur deshalb absieht, weil bereits ein anderes Gericht ein solches Ersuchen an den EuGH gerichtet hat. Beide Verfahrensgestaltungen unterscheiden sich nämlich dadurch, dass im Falle des Vorabentscheidungsersuchens das ursprüngliche Verfahren als Zwischenverfahren vor dem EuGH seinen Fortgang nimmt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 19.09.2001 - 9 S 1464/01 - NVwZ-RR 2002, 236). An diesem Zwischenverfahren können sich die Prozessparteien beteiligen (vgl. Art. 23 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs), während sie im Fall der Aussetzung ohne gleichzeitiges Vorabentscheidungsersuchen zum passiven Abwarten des Ausgangs eines anderen Verfahrens gezwungen sind.

2.

Im Beschwerdeverfahren gegen den Aussetzungsbeschluss prüft das Oberverwaltungsgericht nur, ob die (formellen) Tatbestandsvoraussetzungen für eine Aussetzung vorlagen und ob das Verwaltungsgericht ermessensfehlerfrei entschieden hat. Dieser Überprüfung ist die Würdigung der Sach- und Rechtslage durch das Verwaltungsgericht zugrunde zu legen. Die materielle Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts unterliegt nicht der Überprüfung des Beschwerdegerichts, weil dieses andernfalls in einem Zwischenstreit über die Aussetzung den gesamten Streitstoff beurteilen und damit dem Verwaltungsgericht praktisch sein Urteil in der Hauptsache vorgeben würde; dadurch würde die Reihenfolge, in der die Instanzen mit der Sache zu befassen sind, in ihr Gegenteil verkehrt (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 04.06.1991 - 8 C 91.1185 - NVwZ-RR 1992,334; Rudisile, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Rn 41 zu § 94). Ob etwas Anderes gilt, wenn das Verwaltungsgericht die materielle Rechtslage grob fehlerhaft beurteilt hat, bedarf hier keiner Entscheidung.

II.

Die Beschwerde ist auch begründet.

1.

Nach § 94 VwGO kann das Gericht das Verfahren bis zur Erledigung eines anderen Rechtsstreits aussetzen, wenn die Entscheidung dieses Rechtsstreits ganz oder zum teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand dieses Rechtsstreits bildet. Diese Voraussetzungen liegen hier unstreitig nicht vor. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der beschließende Senat folgt, ist § 94 VwGO aber entsprechend anwendbar, wenn gemeinschaftsrechtliche Fragen, die in einem Verfahren entscheidungserheblich sind, bereits Gegenstand eines beim EuGH anhängigen Verfahrens sind. Eine neuerliche Anrufung des Gerichtshofs würde diesen nämlich zusätzlich belasten, ohne dass davon ein Erkenntnisgewinn zu erwarten wäre. Unter diesen Umständen steht der der Vorschrift des § 94 VwGO zugrunde liegende Grundsatz der Prozessökonomie einer weiteren Vorlage entgegen (BVerwG, Beschlüsse vom 10. November 2000 - 3 C 3.00 - BVerwGE 112, 166 = NVwZ 2001, 319, vom 4. Mai 2005 - 4 C 6.04 - BVerwGE 123, 322 <341ff.> = NVwZ 2005, 1061 <1067>- und vom 15.03.2007 - 6 C 20.06 -<juris>).

2.

Dem angefochtenen Beschluss lässt sich nicht entnehmen, dass die gemeinschaftsrechtlichen Fragen, die die Verwaltungsgerichte Gießen und Stuttgart dem EuGH gleichlautend vorgelegt haben, für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit erheblich sind. Die Erheblichkeit der Fragen lässt sich auch nicht durch einen Rückgriff auf die Vorlagebeschlüsse der genannten Verwaltungsgerichte erschließen. Das Verwaltungsgericht gibt nämlich nicht zu erkennen, inwieweit es sich die - zum Teil zumindest in ihrer Gewichtung unterschiedlichen - Begründungen der beiden Vorlagebeschlüsse zu eigen macht. Einer pauschalen Übernahme dieser Begründungen steht im Übrigen auch schon entgegen, dass jedenfalls das Verwaltungsgericht Gießen für die Erheblichkeit der ersten Vorlagefrage maßgebend auf die tatsächlichen Verhältnisse im Land Hessen abstellt.

Das Begründungsdefizit, unter dem der angefochtene Beschluss leidet, lässt sich nicht dadurch heilen, dass das Beschwerdegericht von sich aus prüft, ob und ggf. unter welchen Gesichtspunkten die von den anderen Verwaltungsgerichten vorgelegten gemeinschaftsrechtlichen Fragen in dem hier ausgesetzten Verfahren erheblich sein könnten. Für eine solche Prüfung fehlt der Maßstab, weil es für die Rechtmäßigkeit der Aussetzung - wie dargelegt - auf die materielle Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts ankommt, diese aber nicht dargelegt ist.

Der Aussetzungsbeschluss ist daher aufzuheben.

Ende der Entscheidung

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