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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 31.07.2009
Aktenzeichen: RL 04/38
Rechtsgebiete: FreizügG/EU, RL 04/38


Vorschriften:

FreizügG/EU § 5 Abs. 2
RL 04/38 Art. 10
RL 04/38 Art. 25 Abs. 1
Die Ausstellung einer Bescheinigung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU an den Familienangehörigen eines Unionsbürgers darf jedenfalls dann nicht von der Vorlage eines gültigen Reisepasses abhängig gemacht werden, wenn die Identität des Familienangehörigen auf andere Weise (hier: durch einen türkischen Personalausweis) nachgewiesen ist.
Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: 1 B 169/09

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch die Richter Göbel, Prof. Alexy und Dr. Grundmann am 31.07.2009 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen - 4. Kammer - vom 21.04.2009 wird - mit Ausnahme der darin enthaltenen Streitwertfestsetzung - aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller eine Bescheinigung darüber zu erteilen, dass die erforderlichen Angaben für eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern gemacht worden sind (§ 5 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU).

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten der Beschwerde.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 1.250,00 Euro festgesetzt.

Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren bewilligt; ihm wird Rechtsanwalt ... zur Vertretung beigeordnet.

Gründe:

A.

Der Antragsteller, ein türkischer Staatsangehöriger, wird wegen Reiseunfähigkeit im Bundesgebiet geduldet (nach den vorliegenden Behördenakten zuletzt bis zum 20.07.2009). Seit dem 01.10.2008 ist er mit einer im Bundesgebiet lebenden niederländischen Staatsangehörigen verheiratet. Am 20.10.2008 beantragte er bei der Antragsgegnerin eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern nach § 5 Abs. 2 FreizügG/EU, hilfsweise eine Bescheinigung über die Antragstellung für eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern, weiter hilfsweise eine Aufenthaltserlaubnis. Mit dem Antrag legte er eine Heiratsurkunde und eine Kopie des Reisepasses seiner Ehefrau vor; die Vorlage eines gültigen türkischen Reisepasses lehnte er mit der Begründung ab, er betreibe ein Asylverfahren und könne deshalb nicht gezwungen werden, sich mit Behörden des Verfolgerstaats in Verbindung zu setzen. Die Antragsgegnerin reagierte zunächst nicht auf den Antrag. Am 27.01.2009 erhob der Antragsteller Untätigkeitsklage beim Verwaltungsgericht. Zugleich beantragte er, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller eine Bescheinigung darüber zu erteilen, dass die erforderlichen Angaben für eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern (§ 5 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU) gemacht worden seien. Mit Schreiben vom 04.03.2009 forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller auf, Nachweise über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel sowie einen gültigen Nationalpass vorzulegen. Der Antragsteller erklärte, der verlangten Nachweise bedürfe es nicht, weil seine Ehefrau bis 2008 als Arbeitnehmerin tätig gewesen sei und auch während ihrer derzeitigen Schwangerschaft als arbeitssuchend angesehen werden müsse.

Über die Untätigkeitsklage ist noch nicht entschieden. Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 21.04.2009 abgelehnt. Der Antragsteller habe die erforderlichen Angaben nicht gemacht, weil er keinen gültigen Nationalpass vorgelegt habe; von der Verpflichtung dazu sei er auch als Asylbewerber nicht befreit. Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller sein Begehren weiter. Er trägt vor, die türkischen Generalkonsulate stellten nur dann Reisepässe aus, wenn die zuständige Ausländerbehörde schriftlich bescheinige, dass kein Asylantrag anhängig sei und nach Ausstellung des Passes eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt werde. Während des Beschwerdeverfahrens hat er einen Nachweis über eine Krankenversicherung und einen Arbeitsvertrag seiner Ehefrau vorgelegt.

B.

Die Beschwerde ist begründet.

I.

Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Erteilung der Bescheinigung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/ EU, denn er hat die "erforderlichen Angaben" im Sinne dieser Vorschrift gemacht. Diese Angaben lassen sich seinem Personalausweis (N.), der der Behörde vorliegt (vgl. den Vermerk Bl.160 der Behördenakte), der Heiratsurkunde und der Darlegung der Beschäftigung seiner Ehefrau in der Vergangenheit, zumindest aber dem Vertrag über das derzeitige Arbeitsverhältnis entnehmen. Die Vorlage eines gültigen Reisepasses ist für die Ausstellung der Bescheinigung nicht erforderlich.

Welche Angaben im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU erforderlich sind, lässt sich der Vorschrift selbst nicht entnehmen (vgl. Harms, in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms, Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl. 2008, Rn 5 zu § 5 FreizügG/EU: "unklar"). Zur Interpretation ist deshalb § 5 Abs. 3 FreizügG/EU heranzuziehen, in dem gleichfalls von "Angaben" die Rede ist (Harms, a. a. O.). Diese beziehen sich auf die "Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1" FreizügG/EU.

Der Besitz eines gültigen Reisepasses gehört nicht zu den Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, auf die § 5 Abs. 3 FreizügG/EU verweist. Das zeigt schon die Systematik des Gesetzes. Fragen der Passpflicht sind nicht in § 2 Abs. 1, sondern in § 2 Abs. 4 Satz 2 FreizügG/EU i. V. m. §§ 3 Abs. 1 Satz 1, 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG bzw. § 2 Abs. 5 S atz 2 FreizügG/EU angesprochen.

Auch nach dem Gemeinschaftsrecht besteht das Recht auf Freizügigkeit unabhängig von dem Besitz eines gültigen Reisepasses. Das Recht des Familienangehörigen auf Einreise und Aufenthalt folgt allein aus der familiären Beziehung zu dem freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger (EuGH, Urt. v. 25.07.2002 - C- 459/99 - MRAX, Slg. 2002, I-6591 = InfAuslR 2002, 417, Rn 59; vgl. auch Urt. v. 25.07.2008 - C-127/08 - Metock, NVwZ 2008, 1097, Rn 93). Das Erfordernis eines gültigen Nationalpasses dient in diesem Zusammenhang allein dem Nachweis seiner Identität als Familienangehöriger eines Unionsbürger; lassen sich diese auf andere Art und Weise nachweisen, bedarf es ihrer nicht (a. a. O., Rn 61f.; Urt. v. 17.02.2005 - C-215/03 - Oulane, Slg. 2005 I-1215 = NJW 2005, 1033, Rn 26). Das Erfordernis eines gültigen Reisepasses oder Personalausweises ist nicht Voraussetzung des Freizügigkeitsrechts, sondern erleichtert nur dessen Feststellung (Urt. v. 17.02.2005, a. a. O., Rn 22); es stellt "eine Verwaltungsformalität dar, die nur der Feststellung eines aus der Eigenschaft des Betroffenen unmittelbar fließenden Rechts durch die nationalen Behörden dient" (a. a. O., Rn 24). Daran hat sich nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (RL 04/38), nichts geändert (a. a. O., Rn 20).

Zwar sieht Art. 10 Abs. 2 lit. a) RL 04/38 vor, dass die Mitgliedstaaten für die Ausstellung der Aufenthaltskarte an den Familienangehörigen eines Unionsbürgers, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, die Vorlage eines gültigen Reisepasses verlangen; nach Art 25 Abs. 1 RL 04/38 darf die Ausübung eines Aufenthaltsrechts aber unter keinen Umständen vom Besitz einer Aufenthaltskarte abhängig gemacht werden, wenn das Recht durch ein anderes Beweismittel nachgewiesen werden kann.

Dementsprechend enthält auch § 5a Abs. 2 Freizüg/EU keine Verpflichtung, sondern lediglich eine Ermächtigung ("darf"), von dem Familienangehörigen des Unionsbürgers die Vorlage eines Passes oder Passersatzes für die Ausstellung der Aufenthaltskarte zu verlangen. Ist die Identität des Familienangehörigen auf andere Weise - etwa wie hier durch einen Personalausweis - nachgewiesen, kann die Ausstellung der Aufenthaltskarte nicht von der Vorlage eines gültigen Reisepasses abhängig gemacht werden.

Bedarf es unter den genannten Voraussetzungen aber schon für die Ausstellung der Aufenthaltskarte nicht der Vorlage eines gültigen Reisepasses, gilt dies erst recht für die Bescheinigung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG/EU, die bis zur Erteilung der Karte auszustellen ist.

II.

Dem Antragsteller steht auch ein Anordnungsgrund zur Seite. Zwar besteht das Aufenthaltsrecht des Familienangehörigen eines Unionsbürgers unabhängig von der Ausstellung einer Aufenthaltskarte oder einer Bescheinigung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU, wenn die materiellen Voraussetzungen dafür vorliegen (vgl. Art. 25 Abs. 1 RL 04/38). Die bezeichneten Dokumente sind aber geeignet und dazu bestimmt, die Überprüfung der Rechtsstellung des Familienangehörigen durch die Behörden des Aufenthaltslandes und der übrigen Mitgliedstaaten zu erleichtern und dadurch den Familienangehörigen vor unberechtigten Maßnahmen dieser Behörden zu schützen. Auf diesen Schutz ist der Antragsteller gerade während des noch laufenden Hauptsacheverfahrens angewiesen. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ist er nicht auf eine Duldung zu verweisen, denn diese ist räumlich (vgl. § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) und sachlich (vgl. die Nebenbestimmungen in der zuletzt erteilten Duldung vom 20.01.2009) beschränkt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 GKG.

Die Entscheidung über die Prozesskostenhilfe ergibt sich aus § 166 VwGO i. V. m. §§ 114, 121 Abs. 1 ZPO.

Ende der Entscheidung

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