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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 29.11.2007
Aktenzeichen: S2 B 443/07
Rechtsgebiete: SGB II


Vorschriften:

SGB II § 7 Abs. 3 a
Die gesetzliche Vermutung nach § 7 Abs. 3 a SGB II kann widerlegt werden. Ist dem Gericht im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sachlage nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden.
Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: S2 B 443/07

In dem Rechtsstreit

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 2. Senat für Sozialgerichtssachen - durch Richterin Dreger, Richter Dr. Grundmann und Richter Dr. Bauer am 29.11.2007 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Bremen - 7. Kammer für Sozialgerichtssachen - vom 10.10.2007 aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab 01.09.2007 bis zum Erlass eines Widerspruchsbescheids darlehensweise Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen des Herrn Joachim H. zu gewähren.

Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten 1. und 2. Instanz zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

Die 1965 geborene Antragstellerin lebt seit dem Jahre 2004 zusammen mit Herrn Joachim H. (geboren 1960) in Bremen, Oslebshauser Dorfstraße 1. Herr H. ist berufstätig.

Mit Bescheid vom 12.09.2007 lehnte die Bremer Arbeitsgemeinschaft für Integration und Soziales (BAgIS) den Antrag der Antragstellerin auf Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts ab, weil aufgrund des Einkommens ihres Lebensgefährten Hilfebedürftigkeit nicht vorliege.

Gegen diesen Bescheid legte die Antragstellerin Widerspruch ein.

Zudem hat sie beim Verwaltungsgericht am 21.09.2007 beantragt,

der Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung aufzugeben, der Antragstellerin vorläufig Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in gesetzlicher Höhe als Darlehen zu zahlen.

Die Antragsgegnerin hat beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Das Verwaltungsgericht - 7. Kammer für Sozialgerichtssachen - hat den Antrag durch Beschluss vom 10.10.2007 abgelehnt.

Gegen diesen Beschluss wendet sich die Antragstellerin mit der Beschwerde.

Das Verwaltungsgericht hat der Beschwerde durch Beschluss vom 19.10.2007 nicht abgeholfen.

II.

Die Beschwerde hat Erfolg.

Der Antragstellerin sind vorläufig darlehensweise Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren.

Nach § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung müssen hiernach sowohl ein Anordnungsgrund, nämlich die Eilbedürftigkeit einer gerichtlichen Entscheidung, als auch ein Anordnungsanspruch, d. h. ein Anspruch auf die begehrte Regelung, glaubhaft gemacht werden (§ 86 Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Ein Anordnungsgrund ist glaubhaft gemacht. Der Senat nimmt der Antragstellerin ab, dass Herr H. nicht bereit ist, für ihren Unterhalt aufzukommen. Herr H. hat entsprechende, unmissverständliche schriftliche Erklärungen wiederholt abgegeben und die Antragstellerin auch nach Auslaufen der Leistungen für die Umschulungsmaßnahme im April 2007 nicht unterstützt. Ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung drohen der Antragstellerin somit wesentliche Nachteile.

Ob die Antragstellerin einen Anspruch auf die geltend gemachte Leistung hat, lässt sich im Eilverfahren nicht klären. Deshalb ist aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden, die zu Lasten der Antragsgegnerin ausgeht.

Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen erhält. § 9 Abs. 2 S. 1 SGB II bestimmt, dass bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen ist. Zur Bedarfsgemeinschaft gehört nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 c SGB II eine Person, die mit dem erwerbstätigen Hilfebedürftigen in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung für einander zu tragen und für einander einzustehen.

Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung für einander zu tragen und für einander einzustehen wird nach § 7 Abs. 3 a Nr. 1 SGB II vermutet, wenn Partner länger als ein Jahr zusammenleben. Diese gesetzliche Vermutung greift hier zwar ein, denn die Antragstellerin und Herr H. leben seit 2004 zusammen.

Jedoch kann die gesetzliche Vermutung widerlegt werden. Einem Antragsteller bleibt die Möglichkeit, Gründe darzulegen und glaubhaft zu machen, die die gesetzliche Vermutung entkräften (vgl. Senatsbeschluss vom 28.06.2007 - S2 B 203/07, S2 B 204/07 -).

Zwar genügen insoweit nicht das bloße Abstreiten des Vorliegens der Voraussetzungen der Vermutungsregelung und die schlichte Erklärung, nicht in Verantwortungsgemeinschaft zu leben (vgl. Senatsbeschluss vom 28.06.2007, a. a. O.). Darauf hat sich die Antragstellerin im vorliegenden Fall aber auch nicht beschränkt. Vielmehr hat sie weitere Gesichtspunkte dafür vorgetragen, dass in ihrem Fall ein wechselseitiger Wille, Verantwortung für einander zu tragen und für einander einzustehen, nicht angenommen werden könne. Sie hat vorgetragen, Herr H. sei der vierte Mann in ihrem Leben, mit dem sie eine Wohnung teile. Keine ihrer Beziehungen habe die 5-Jahres-Grenze überlebt. Sie sei ein "gebranntes Kind" und nicht in vollem Umfang bereit, in ihre "jetzige Beziehung zu investieren - auch was Gefühle angeht". Ähnlich distanziert sind die Einlassungen von Herrn H. , der im Schreiben vom 17.08.2007 an die Behörde (Blatt 80 BA) ausführt, er habe von Anfang an Frau W. (der Antragstellerin) untersagt, seine persönlichen Unterlagen einzusehen und empfinde es als Zumutung, dass er ein Formular ausfüllen solle, welches seine vertraulichen, persönlichen Daten enthalte und welches von Frau W. gegengezeichnet bzw. von ihr eingesehen werden solle.

Auch betonen beide, dass jeder seinen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln bestreite; jeder habe sein eigenes Konto über das der andere nicht verfügen könne. In diesem Zusammenhang trägt die Antragstellerin zudem vor, Herr H. sei an einer Spielsucht erkrankt und auch deshalb wolle sie nicht für mögliche finanzielle Folgen einstehen.

Schließlich und nicht zuletzt hat die Antragstellerin zur Stützung ihres Vortrages eine "Psychotherapie-Bescheinigung" ihrer Psychotherapeutin Frau Erika S. vom 18.10.2007 vorgelegt. Darin wird ausgeführt, dass die Antragstellerin aufgrund mehrerer Todesfälle innerhalb ihrer Familie an großen Ängsten leide, sich wieder zu binden. Sie wirtschafte mit ihrem jetzigen Freund streng getrennt. Nach der Ablehnung des Eilantrages durch das erstinstanzliche Gericht habe sie sich suizidal geäußert. Den Rat der Therapeutin, sich in eine Klinik zu begeben, habe sie abgelehnt.

Den Sachverhalt abschließend aufzuklären, ist im Eilverfahren nicht möglich. Andererseits stellt Art. 19 Abs. 4 GG an die Ausgestaltung des Eilverfahrens besondere Anforderungen, wenn - wie hier - ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare Beeinträchtigungen entstehen können (vgl. BVerfG, B. v. 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -; siehe auch Senatsbeschlüsse vom 16.12.2005 - S3 B 317/05 - und vom 18.01.2006 - S3 B 232/05 -). Ist dem Gericht in einer solchen Situation eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. In diese sind die grundrechtlichen Belange des Rechtsuchenden einzustellen (vgl. BVerfG, B. v. 12.05.2005, a. a. O.).

Die Folgenabwägung fällt zu Gunsten der Antragstellerin aus. Leistungen der Grundsicherung dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenrechte in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt und die unabhängig von den Gründen der Hilfebedürftigkeit besteht (vgl. BVerfG, a. a. O. m.w.N.). Werden der Antragstellerin diese Leistungen zu Unrecht vorenthalten, wird sie in ihren elementaren Rechten verletzt. Dies wiegt schwerer als eine Belastung des öffentlichen Haushalts durch u. U. rechtlich nicht gebotene Leistungen an die Antragstellerin.

Der Senat hält es für sachgerecht und angemessen, wenn der Antragstellerin im Rahmen einer vorläufigen Regelung die Leistungen vom Beginn des Monats, in dem ihr Antrag beim Verwaltungsgericht eingegangen ist, bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids bewilligt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ende der Entscheidung

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