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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern
Beschluss verkündet am 22.09.2004
Aktenzeichen: 3 M 140/04
Rechtsgebiete: LBauO MV


Vorschriften:

LBauO MV § 6 Abs. 5
LBauO MV § 14
LBauO MV § 15
Zwischen zwei Gebäuden, die dem Aufenthalt von Menschen zum Zweck der Erholung und der Verwirklichung der Privatsphäre dienen, kann in einem Sondergebiet Fremdenverkehr grundsätzlich gemäß § 6 Abs. 5 LBauO MV keine unter den allgemeinen gesetzlichen Abstandsflächentiefen liegende Tiefe von Abstandsflächen gestaltet werden.
Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Beschluss

Az.: 3 M 140/04

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Baurecht

hat der 3. Senat des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern am 22. September 2004 in Greifswald

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Beigeladenen gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 29. April 2004 wird zurückgewiesen.

Die Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Baugenehmigung, die die Antragsgegnerin der Beigeladenen für den Bau einer Mutter-Kind-Kurklinik erteilt hat.

Die Antragsteller sind Eigentümer einer Eigentumswohnung in der St.Straße 10 in B. (Flurstück 117 der Flur 2 der Gemarkung B.). Auf den östlich benachbart liegenden Flurstücken 116 und 115 will die Beigeladene eine Mutter-Kind-Klinik errichten.

Ausweislich des Lageplans zum Bauantrag hält das bauliche Vorhaben der Beigeladenen zum Flurstück 117 einen Grenzabstand zwischen 3,00 und 3,36 m ein. Zum Flurstück 117 hat das bauliche Vorhaben ein Wandhöhe von 6,88 m. Das Satteldach soll eine Dachneigung von 45 Grad haben. Zum Flurstück 117 soll das Vorhaben vier Dachgaupen ohne Balkon haben. Im zweiten Dachgeschoss findet sich ein aus dem Dach herausstehender Ausbau, der bei einer Gesamtlänge des Gebäudes von 25,00 m vermutlich 13,10 m lang ist.

Die Flurstücke liegen im Geltungsbereich eines Bebauungsplanes, der dort ein Sondergebiet "Fremdenverkehr", eine Baulinie zur St.straße und auf jedem Flurstück Baugrenzen im Westen, Osten und Süden, zwei Vollgeschosse und eine offene Bauweise festsetzt. Die westlichen und östlichen Baugrenzen lassen einen Grenzabstand von jeweils ca 3 m zu.

Die Beigeladene hat für ein ähnliches Projekt auf den Flurstücken 116 und 115 am 05.03.2003 eine Baugenehmigung und eine Ausnahmegenehmigung nach §§ 70, 6 Abs. 14 und 5 LBauO erhalten. Diese Ausnahmegenehmigung legt die Mindestabstandsfläche auf 3 m fest. Dieses genehmigte Vorhaben wurde abgewandelt und erneut zur Genehmigung gestellt. Die entsprechende Baugenehmigung wurde am 07.01.2004 erteilt.

Mit Datum vom 20.01.2004 legten die Antragsteller gegen die Baugenehmigung vom 05.03.2003 und die Baugenehmigung vom 07.01.2004 Widerspruch ein. Die Beigeladene verzichtete am 26.02.2004 durch das von ihr beauftragte Architekturbüro auf die Baugenehmigung vom 05.03.2003. Das Widerspruchsverfahren ist gegenwärtig nicht abgeschlossen.

Im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren, das die Antragsteller mit Antrag vom 13.02.2004 beim Verwaltungsgericht Greifswald anhängig gemacht haben, hat das Verwaltungsgericht durch Beschluss vom 29.04.2004 die aufschiebende Wirkung der Widersprüche der Antragsteller vom 20.01.2004 gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 05.03.2003 und die der Beigeladenen von der Antragsgegnerin erteilte Baugenehmigung vom 07.01.2004 für den Neubau einer Erweiterung der Mutter-Kind-Kurklinik mit Familien- und Gesundheitshotelbetrieb in B., Flurstücke 115 und 116, Flur 2, Gemarkung B. angeordnet. Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, dass die Baugenehmigungen offenkundig unter Verletzung der bauordnungsrechtlichen Bestimmungen über freizuhaltende Abstandflächen erteilt worden seien. Nach den zum Bestandteil der Baugenehmigungen gewordenen Bauvorlagen erforderten die streitgegenständlichen Bauvorhaben zur Grundstücksseite der Antragssteller auch unter Anwendung des Schmalseitenprivilegs eine Abstandsfläche von jedenfalls deutlich mehr als 3 m. Eine Reduzierung der Tiefe der Abstandsfläche nach § 6 Abs. 15 LBauO M-V sei bereits tatbestandlich nicht erfüllt, denn aus den vorliegenden Unterlagen ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Bebauungsplan "St.Straße" zwingende Festsetzungen der Bauweise, der überbaubaren Grundstücksflächen oder der Zahl der Vollgeschosse enthalte, aus denen sich geringere Tiefen der Abstandsflächen ergeben würden.

Nicht zu erkennen sei, warum die Nutzung der streitgegeständlichen Bauvorhaben es rechtfertigen sollte, bis zu 3 m das Grundstück der Antragsteller heranzurücken. Der Tatbestand des § 6 Abs. 5 Satz 2 3. Alternative LBauO M-V sei nicht erfüllt. Eine Ermessenentscheidung nach § 6 Abs. 14 LBauO M-V liege nicht vor. Die Nichteinhaltung der Abstandsflächenvorschriften verletze den Nachbarn in seinen Rechten, ohne dass zusätzlich eine tatsächliche Beeinträchtigung festgestellt werden müsse.

Gegen diesen Beschluss hat die Beigeladene am 12.05.2004 beschränkt auf die vom Verwaltungsgericht angeordnete aufschiebende Wirkung des Widerspruches der Antragsgegnerin gegen die Baugenehmigung vom 07.01.2004 Beschwerde eingelegt, die sie am 03.06.2004 näher begründet hat. Die Beigeladene führt im Einzelnen aus, warum aus ihrer Sicht sich aus den Festsetzungen des Bebauungsplanes zwingende Festsetzungen geringerer Tiefen der Abstandsflächen ergeben, die Abstandsflächen von 3 m erlaubten. Weiter wird in der Beschwerde näher ausgeführt, aus welchen Gründen die Nutzung des Sondergebietes Fremdenverkehr geringere Tiefen der Abstandsflächen bis zu 3 m rechtfertige und das Ermessen durch den Aktenvermerk der Antragsgegnerin vom 27.05.2004 rechtmäßig ausgeübt und begründet worden sei. Auch das von den Antragstellern genutzte Gebäude sei nur deswegen zulässig, weil es die Sondergebietsregelung gemäß § 6 Abs. 5 Satz 2 3. Alternative LBauO M-V in Anspruch nehme. Die Reduzierung der Abstandsflächen für das Bauvorhaben der Beigeladenen könne schließlich auf die Regelungen des § 6 Abs. 14 LBauO M-V gestützt werden. Dessen Tatbestand liegt aus Sicht der Beigeladenen, die dies näher begründet hat, vor.

Die Beigeladene ist weiter der Auffassung, dass der Antrag der Antragsteller vom Verwaltungsgericht hätte abgelehnt werden müssen, da diese eine unzulässige Rechtsausübung vorgenommen hätten, weil sie selbst unter Verletzung der Abstandflächenvorschriften gebaut hätten, späterhin vom nachbarlichen Bauherrn jedoch die Einhaltung eben dieser Vorschriften verlangten. Die Antragsteller hätten mindestens mit einer Fläche von 22,712 m2 zu Lasten der Beigeladenen die Abstandsflächen nicht eingehalten. Die Beigeladene selbst werde die Abstandsflächen mit einer Fläche von 21,1 m2 nicht einhalten. Zu berücksichtigen sei weiter, dass durch das von den Antragstellern genutzte Gebäude massive Wirkungen auf das Grundstück der Beigeladenen ausgingen. Das Objekt der Antragsteller überschreite die im Bebauungsplan zugelassene maximale Oberkante von 12,5 m um 1,1 m. Die Nutzung der Antragsteller sei rechtswidrig, da sie den Festsetzungen des Bebauungsplanes widerspreche. Schließlich liege eine Baulastübernahmeerklärung des Geschäftsführers einer ZBO GmbH vor, durch die sich die Eigentümer des Flurstücks 117 verpflichteten, im Rahmen ihrer Abstandsflächenüberschreitung entsprechende Überschreitungen durch eine bauliche Anlage auf dem Flurstück 116 hinzunehmen.

Die Beigeladene beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 29. April 2004 den Antrag der Antragsteller, die aufschiebende Wirkung der Widersprüche vom 20. Januar 2004 gegen die der aw. GmbH erteilte Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 07. Januar 2004 für den Neubau einer Erweiterung der Mutter-Kind-Kurklinik mit Familien- und Gesundheitshotelbetrieb in Ba., St.Straße 12-14, Gemarkung B., Flur 2, Flurstücke 115 und 116, anzuordnen, zurückzuweisen.

Die Antragsgegnerin hat im Beschwerdeverfahren einen Aktenvermerk "Ermessenausübung im Bezug auf die Anwendung des § 6 Abs. 5 Satz 2 Landebauordnung Mecklenburg-Vorpommern" vom 27.05.2004 vorgelegt. Inhalt dieses Aktenvermerks ist die Ausübung des Ermessens betreffend die Verringerung der Abstandsflächen für das mit Bescheid vom 07.01.2004 genehmigte Bauvorhaben in Anwendung des § 6 Abs. 5 Satz 2 LBauO M-V.

Die Antragsteller beantragen sinngemäß,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie treten dem Vortrag der Beigeladenen im Einzelnen entgegen. Sie verweisen insbesondere darauf, dass das Verwaltungsgericht Greifswald mit Beschluss vom 12.07.2004 einen auf den Aktenvermerk vom 27.05.2004 gestützten Antrag der Beigeladenen und der Antragsgegnerin gemäß § 80 Abs. 7 VwGO abgelehnt hat. Das Verwaltungsgericht habe die nachgeholte Ermessensausübung der Antragsgegnerin als fehlerhaft angesehen und die Antragstellerin als berechtigt angesehen, den zu geringen Abstand des Bauvorhabens der Beigeladenen zu rügen.

Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie der beigezogenen Behördenakten und die Gerichtsakte im Verfahren VG Greifswald - 1 B 1344/04 -, die Gegenstand der Beschlussfassung waren, verwiesen.

II.

Die zulässige Beschwerde der Beigeladenen gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 29.04.2004 bleibt ohne Erfolg. Aus den vom Beschwerdegericht allein zu prüfenden, in der fristgerecht eingelegten Beschwerdebegründung dargelegten Gründen (vgl. § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO) ergibt sich für das Beschwerdegericht keine Veranlassung, den angefochtenen Beschluss zu ändern.

Die Beschwerde dringt nicht mit der Überlegung durch, auf Grund der rechtswidrigen Nutzung ihrer Eigentumswohnung hätten die Antragsteller die Antragsbefugnis wegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens verloren. Die Beigeladene beruft sich dabei auf die sogenannte Sperrgrundstücksrechtsprechung.

Voraussetzung dieser Rechtsprechung ist aber, dass der Rechtstitel Eigentum ausschließlich zu dem Zweck erworben wurde, eine behördliche (Planungs-)Entscheidung bekämpfen zu können und dass mit dem Erwerb des Eigentums kein weiterer, üblicherweise mit dem Eigentum verbundener Zweck verfolgt wird (vgl. OVG Greifswald, Urteil vom 19.11.2003 - 3 K 29/99, NuR 2004, 53 = NordÖR 2004,155). Im hier zu entscheidenden Einzelfall ist nicht zu erkennen, dass die Antragsteller ihr Wohnungseigentum allein zu dem Zweck erworben haben, die Bebauung des Nachbarflurstücks 116 zu verhindern. Vielmehr gehen alle Beteiligten davon aus, dass die Antragsteller ihr Wohnungseigentum zu Wohnzwecken nutzen. Dass dies möglicherweise den Festsetzungen des Bebauungsplanes widerspricht, nimmt den Antragstellern nicht die Widerspruchs- und Antragsbefugnis im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren. Denn diese knüpft an die Eigentümerstellung, nicht aber an die Nutzung an.

Die in der Baugenehmigung ausgesprochene Verringerung der Abstandsfläche des baulichen Vorhabens der Beigeladenen auf 3 m kann sich zunächst nicht auf die Bestimmung des § 6 Abs. 15 LBauO M-V stützen.

Die genannte Vorschrift setzt voraus, dass sich geringere Abstandsflächen aus zwingenden Festsetzungen über die Bauweise, die überbaubaren Grundstücksflächen oder über die Zahl der Vollgeschosse in einem Bebauungsplan ergeben. Aus den Festsetzungen des Bebauungsplanes muss sich ergeben, dass eine andere Bebauung als die, die zu einer Unterschreitung der nach den allgemeinen Regeln vorgegebenen Abstandsflächen führt, dem Bebauungsplan widerspricht. Lassen hingegen die Festsetzungen des Bebauungsplanes eine Bebauung zu, durch die die sich aus den allgemeinen Regelungen des Landesbauordnungsrechts ergebenden Abstandsflächen eingehalten werden, enthält der Bebauungsplan keine zwingenden Festsetzungen im Sinne des § 6 Abs. 15 LBauO M-V.

Die von der Beigeladenen für eine Bebauung vorgesehenen Flurstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplanes Nr. 1 "St.Straße". Der Bebauungsplan sieht für diese Flurstücke eine Baulinie zur St.straße sowie zwei Vollgeschosse als zwingende Vorgaben vor. Daraus ergibt sich für die Bebauung, dass sie mit zwei Vollgeschossen, errichtet an der Baulinie, zu erfolgen hat. Hinsichtlich der Abstandsflächen zu den westlich und östlich gelegenen Nachbargrundstücken enthält der Bebauungsplan hingegen keine zwingenden Vorgaben. In westlicher und östlicher Ausrichtung enthält der Bebauungsplan jeweils eine Baugrenze im Abstand von ca. 3m zur jeweiligen Flurstücksgrenze. Die Baugrenze zwingt den Bauherrn aber nicht, auf ihr zu bauen, sondern begrenzt ausschließlich ein sogenanntes Baufeld, innerhalb dessen gebaut werden darf (§ 23 Abs. 3 BauNVO). Eine zwingende Verringerung von Abstandsflächen ergibt sich daher aus der Festsetzung einer Baugrenze nicht. Gleiches gilt für die Festsetzung der offenen Bauweise, durch die im Bebauungsplan allein festgelegt wird, dass zwischen den Baukörpern Grenzabstände einzuhalten sind. Die Tiefe des Grenzabstandes bemisst sich bei einer Festsetzung der offenen Bauweise nach dem jeweiligen Landesrecht (Fickert/Fieseler, BauNVO, 10. Aufl. 2002, § 22 Rn. 4). Auch in der Kombination von offener Bauweise und Baugrenze ergeben sich noch keine im oben dargelegten Sinne zwingenden Festsetzungen über die Bebauung, aus denen sich andere, insbesondere verringerte Abstandsflächen als die, die nach dem allgemeinen Bauordnungsrecht einzuhalten wären, ergeben. Dies gilt auch dann, wenn die Baulinie und die Festsetzung von zwei Vollgeschossen hinzugenommen werden. Der Bebauungsplan lässt auch unter Berücksichtigung dieser Festsetzungen bei summarischer Betrachtung die Errichtung von baulichen Anlagen zu, die der im Bebauungsplan festgesetzten Zweckbestimmung zugeführt werden können und die die Abstandsflächen nach den Vorschriften des § 6 Abs. 1 bis 4 LBauO M-V einhalten. Dass der Bebauungsplan auch eine andere Bebauung zulässt, die geringere Abstandsflächen einhalten würde, ist für § 6 Abs. 15 LBauO M-V unerheblich (anders z.B. Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Bayerische Bauordnung).

Die Voraussetzungen für eine Verringerung der Abstandsflächen nach § 6 Abs. 5 S. 2 3. Alt. LBauO M-V liegen nicht vor. Der Senat kann die Rechtsfrage offenlassen, ob die Gestattung der Verringerung der Tiefe der Abstandsflächen nach § 6 Abs. 5 S. 2 3. Alt. LBauO M-V schon tatbestandlich ausgeschlossen ist, wenn ein Sondergebiet "Fremdenverkehr" festgesetzt worden ist. Denn selbst wenn der Rechtsauffassung gefolgt würde, auch in einem solchen Sondergebiet könnte grundsätzlich in Ausübung des gesetzlich eingeräumten Ermessens bei einzelnen Vorhaben die Abstandsfläche verringert werden, gilt folgendes: Zwischen zwei Gebäuden, die dem Aufenthalt von Menschen zum Zweck der Erholung und der Verwirklichung der Privatsphäre dienen, kann gerade in einem Sondergebiet "Fremdenverkehr" regelmäßig keine Tiefe von Abstandsflächen gestattet werden, die unter den gesetzlich in § 6 Abs. 5 S. 1 LBauO M-V festgesetzten Mindesttiefen liegt. Das ergibt sich aus der Überlegung, dass Abstandsflächen bauordnungsrechtlich auch die Aufgabe haben, bei Gebäuden, die dem genannten Zweck dienen, die Wahrung der Privatsphäre und des nachbarlichen Friedens zu ermöglichen. Dazu gehört, dass die gegenseitige Wahrnehmung des nachbarlichens Lebens durch Mindesttiefen von Abstandsflächen auf ein sozialverträgliches Maß begrenzt wird. Dieses Maß hat der Gesetzgeber durch die in § 6 Abs. 5 S. 1 LBauO M-V festgesetzen Mindesttiefen von Abstandsflächen definiert. Der Senat hat dabei bedacht, dass Betriebe des Beherbergungsgewerbes auch in einem Gewerbegebiet allgemein zulässig sind (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 BauN-VO) und für Gewerbegebiete geringere Tiefen von Abstandsflächen als nach § 6 Abs. 5 S. 1 LBau M-V zulässig sind (§ 6 Abs. 5 S. 2 2. Alt. LBauO M-V). Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, bei Beherbergungsbetrieben in einem Sondergebiet "Fremdenverkehr" müssten die gleichen Abstandsflächentiefen wie in einem Gewerbegebiet gelten. Denn das Sondergebiet "Fremdenverkehr" hat eine andere Nutzungsbestimmung als ein Gewerbegebiet; bei einem solchen Sondergebiet ist der Erholungszweck bei der Nutzung des Sondergebiets mit zu berücksichtigen. Ein solcher Zweck ist der Nutzung eines Gewerbegebiets fremd. Dieser Unterschied rechtfertigt die bauordnungsrechtliche Ermessensreduzierung auf Null jedenfalls bei der Entscheidung über die Abstandsflächen vor Gebäuden, die der Beherbergung von Urlaubern/Feriengästen dienen.

Der Senat weist - ohne dass dies entscheidungserheblich ist - auf Bedenken gegen die in dem Aktenvermerk niedergelegte Ermessensausübung der Antragsgegnerin hin: Auf Grund der systematischen Stellung des § 6 Abs. 5 Satz 2 LBauO M-V wird das behördliche Ermessen - soweit nicht wie hier eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt - im Wesentlichen bauordnungsrechtliche Aspekte zu berücksichtigen haben. Die bauplanungsrechtlichen Belange sind bereits im Tatbestand der Norm "Nutzung des Sondergebietes rechtfertigt" normativ verortet. Die Ermessensentscheidung muss daher insbesondere die verschiedenen Schutzziele der Anordnung von Abstandsflächen beachten. Dazu gehört die Sicherung ausreichender Belüftung und die Verhinderung unzumutbarer Verschattungen, Gründe des baulichen und abwehrenden Brandschutzes und Gründe zur Sicherung der Privatheit. In der Literatur wird folgerichtig für die Ermessensausübung verlangt zu prüfen, ob eine ausreichende Beleuchtung von Aufenthaltsräumen und ein ausreichender Brandschutz gewährleistet sind (vgl. Gädtke/Böckenförde/Themme/Heintz, LBauO NRW, 9. Aufl. 1998, § 6 Rn. 93). Die planungsrechtlichen Erwägungen in der von der Antragsgegnerin nachgeschobenen Ermessensentscheidung dürften ebenso ermessensfehlerhaft sein wie die Überlegung, dass der Investitionsdruck eine möglichst hohe Ausnutzung von Grundstücken im Interesse des Investors erlaube. Dabei handelt es sich ersichtlich nicht um bauordnungsrechtlich zu beachtende Belange.

Ebenfalls ermessensfehlerhaft wäre eine Verringerung der Abstandsflächen auf ein Maß unterhalb von 0,5 H gestützt auf § 6 Abs. 14 LBauO M-V. Der Senat kann dabei dahingestellt sein lassen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm vorliegen. Denn es ist nicht erkennbar, dass die Gestaltung des Straßenbildes eine Verringerung der Abstandsflächentiefen rechtfertigen könnte. Weder den Verwaltungsvorgängen noch den Einlassungen der Beteiligten lässt sich dazu Substantielles entnehmen. Auch für das Vorliegen besonderer städtebaulicher Verhältnisse ergibt sich aus den Verwaltungsvorgängen und dem Vortrag der Beteiligten nichts Substantielles. Dafür wäre in der Regel erforderlich, dass ein städtebauliches Ensemble besteht, das aus städtebaulichen Gründen wert ist, erhalten und ergänzt zu werden (vgl. OVG Greifswald, Beschl. v. 10.07.1997 - 3 M 82/97, NVwZ-RR 1998, 269). Die Darstellung des Bestandes im Bebauungsplan läßt daran erheblich zweifeln.

Auch § 6 Abs. 14 LBauO M-V verlangt die Ausübung des Ermessens durch die Ausgangsbehörde. Daran fehlt es im zu beurteilenden Baugenehmigungsbescheid, der sich allein auf § 6 Abs. 5 LBauO M-V stützt. Da die tatbestandlichen Voraussetzungen unterschiedlich ausgestaltet sind, sind in die Ermessensentscheidung auch unterschiedliche Aspekte einzustellen und unterschiedlich zu gewichten. Die Ermessensentscheidung nach § 6 Abs. 5 LBauO M-V kann daher nicht in eine solche nach § 6 Abs. 14 LBauO M-V umgedeutet werden. Im Übrigen hat auch die Antragsgegnerin in ihrem Aktenvermerk vom 27.05.2004 § 6 Abs. 14 LBauO M-V nicht in den Blick genommen. Ersichtlich will die Antragsgegnerin die Norm daher nicht als Grundlage ihrer Entscheidung heranziehen.

Fehlt es an einer rechtmäßig zu Stande gekommenen Entscheidung über die Verringerung der Abstandsflächen, bleibt es bei den allgemeinen gesetzlichen Regelungen über die Einhaltung der Abstandsflächen. Diesen Vorschriften wird das Bauvorhaben der Beigeladenen - unstreitig - nicht gerecht. Der Senat kann bei der gebotenen summarischen Betrachtungsweise nicht erkennen, dass das Überschreiten der gesetzlich vorgegebenen Mindestabstandsflächen durch das bauliche Vorhaben der Beigeladenen sich auf eine Fläche von unter 22 m2 beschränkt. Die entsprechenden Angaben der Beigeladenen sind nicht substanziiert belegt. Bei der hier nur möglichen summarischen Berechnung der Abstandsflächen aus den vorliegenden Bauvorlagen ergibt sich, dass die Abstandsfläche von 1 H, berechnet nach § 6 Abs. 4 Sätze 1, 2, 4 Nr. 2 2. Spiegelstrich LBauO M-V, 8,75 m beträgt. Diese Abstandsfläche wird unstreitig nicht eingehalten. Ebenso wird eine Abstandsfläche von 0,5 H = 4,375 m durch das Vorhaben der Beigeladenen nicht eingehalten. Die maximale Abstandsfläche beträgt ca. 3,40 m. Nach dem Vortrag der Beigeladenen überschreitet das Gebäude auf dem Flurstück 117 in einem Umfang von 22,712 m2 die Abstandsfläche, wenn das Schmalseitenprivileg in Anspruch genommen wird. Das bauliche Vorhaben der Beigeladenen überschreitet nach den summarischen Berechnungen des Senats die Abstandsfläche auch bei Inanspruchnahme des Schmalseitenprivilegs um mehr als 32 m2.

Ob sich bereits aus dieser überschießenden Inanspruchnahme von Abstandsflächen auf dem Grundstück der Antragsteller durch die Beigeladene ergibt, dass die Beigeladene sich nicht auf die Inanspruchnahme von Abstandsflächen auf ihrem Grundstück durch die Antragsteller berufen darf, kann offenbleiben. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 14.07.2004 - 3 M 152/04) ist es missbräuchlich, wenn der eine Nachbar dem anderen den Rechtsverstoß zu verwehren sucht, wenn und soweit er selbst Vorteile durch einen gleichartigen Rechtsverstoß zu Lasten des anderen erlangt hat. An einer solchen Gleichartigkeit fehlt es hier. Die von dem Gebäude, an dem die Antragsteller Miteigentum haben, ausgehende Überschreitung der Abstandsfläche auf dem Grundstück der Antragsteller zu Lasten des Grundstücks der Beigeladenen resultiert jedenfalls auch aus der Einbeziehung der Balkone in die Berechnung der Tiefe der Abstandsflächen. Die Beeinträchtigung des Grundstücks der Beigeladenen ergibt sich nicht allein und im vollen Umfang durch eine geschlossene Wand. Hingegen beeinträchtigt das geplante Bauvorhaben der Beigeladenen mit einer geschlossen Wandfront das Grundstück der Antragsteller. Die wechselseitigen Beeinträchtigungen beruhen somit auf unterschiedlichen und nicht gleichartigen Rechtsverstössen. Dies rechtfertigt bei der gebotenen wertenden Betrachtungsweise, der Beigeladenen die Berufung auf die Verletzung der Abstandsflächenvorschriften durch die Antragsteller und einen daraus abgeleiteten Abwehranspruch gegen das Rechtschutzbegehren der Antragsteller zu verwehren. Aus dem gleichen Grund kann die Beigeladene gegenüber den Antragstellern aus der zwischen der aw. GmbH als früherer Eigentümerin der Flurstücke 115 und 116 und dem Geschäftsführer der Z. GmbH geschlossenen Vereinbarung über die jeweilige Übernahme von Abstandsflächen nichts herleiten. Auf die Frage der Rechtsverbindlichkeit dieser Vereinbarung insbesondere für die Antragsteller kommt es nicht an.

Erweist sich damit auch bei Überprüfung der von der Beigeladenen vorgetragenen Überlegungen die streitbefangene Baugenehmigung als rechtswidrig und die Antragsteller in ihren Rechten verletzend, kommt es auf die weiteren Überlegungen der Beigeladenen zur Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung im Übrigen, das heißt aus Gründen, die das Verwaltungsgericht nicht erwogen hat, nicht an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 14 Abs. 1, 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG a.F..

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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