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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern
Beschluss verkündet am 17.01.2005
Aktenzeichen: 3 M 37/04
Rechtsgebiete: LBauO M-V, VwVfG M-V, VwGO


Vorschriften:

LBauO M-V § 6 Abs. 14
VwVfG M-V § 40
VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 80a Abs. 1 Nr. 2
VwGO § 80a Abs. 3
1. Zur Frage, welche Ermessenserwägungen bei einer Entscheidung über die Gestattung geringerer Abstandsflächen nach § 6 Abs. 14 LBauO M-V anzustellen sind.

2. Verletzt nur ein Teil einer streitbefangenen Baugenehmigung den Nachbarn in seinen Rechten, kann das Gericht die Baugenehmigung nur dann teilweise aufheben, wenn sie auch ohne den Teil, der den Antragsteller in seinen Rechten verletzt, objektiv-rechtlich Bestand haben kann.

3. Im Eilrechtsschutzverfahren nach §§ 80, 80a VwGO kann das Gericht gegenüber dem beigeladenen Bauherrn eine Baueinstellung regelmäßig nur aussprechen, wenn der Beigeladene die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs voraussichtlich missachten wird.


Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Beschluss

Az.: 3 M 37/04

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Nachbaranfechtung einer Baugenehmigung

hat der 3. Senat des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern am 17. Januar 2005 in Greifswald

beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Schwerin vom 22. Januar 2004 geändert.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die vom Antragsgegner der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 27.07.2003 wird angeordnet.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Der Streitwert wird für beide Instanzen auf je 3.834, 69 Euro festgesetzt. Insoweit wird die Streitwertfestsetzung im Beschluss des Verwaltungsgerichts Schwerin von Amts wegen geändert.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Baugenehmigung, die der Antragsgegner der Beigeladenen erteilt hat.

Der Antragsteller ist Eigentümer des Flurstücks 850/1 der Flur 1 des Flurbezirks I. Das Flurstück liegt im Stadtgebiet der Stadt R. in der Straße "E.". Das Flurstück ist unbebaut. Auf dem nord-östlich angrenzenden Flurstück 849 ist ausweislich der Verwaltungsvorgänge ein Gebäude direkt an die Grenze zum Flurstück 850/1 errichtet worden, das eine Traufhöhe von 11,98 m hat. Auf dem süd-westlich angrenzenden Flurstück 851 befindet sich ausweislich der in den Verwaltungsvorgängen vorgefundenen Pläne ebenfalls grenzständig zum Flurstück 850/1 ein Gebäude mit einer Traufhöhe von 7,26 m. Das südlich an das Flurstück 851 angrenzende Flurstück 872 steht ebenfalls im Eigentum des Antragstellers. Die Gebäude auf den genannten Flurstücken stehen in einer Linie. Ausweislich der Karte S. 41 der "1. Fortschreibung städtebaulicher Rahmenplan Sanierungsgebiet Stadtzentrum R." ist die Bebauung unmittelbar an der Grundstücksgrenze zur öffentlichen Verkehrsfläche errichtet.

Die Beigeladene hat mit Bauantrag vom 18. Dezember 2002, beim Antragsgegner am 23. Dezember 2002 eingegangen, die Genehmigung der Bebauung der Flurstücke 853, 854/2, 855, 856, 857/2, 858/2 und 860 beantragt. Die Flurstücke 853 und 854/2 grenzen mit ihrer östlichen Grenze an die Straße "E.". Die weiteren vom Bauantrag erfassten Flurstücke grenzen beginnend mit dem Flurstück 855/1 westlich fortlaufend an die Flurstücke 854/2 und 853 an und sind über die Straße "B. W." über öffentliche Verkehrsflächen erreichbar. Mit dem Bauantrag begehrte die Beigeladene die Genehmigung der Errichtung eines Wohn- und Geschäftshauses mit 18 Wohn- und 2 Gewerbeeinheiten.

Am 17. März 2003 informierte die Beigeladene den Antragsteller über das Bauvorhaben. Mit Schreiben eingegangen am 28. März 2003 verweigerte der Antragsteller die von ihm erbetene Zustimmung unter Hinweis auf die Abstandsflächenproblematik.

Am 26. Juni 2003 erteilte der Antragsgegner der Beigeladenen eine Teilbaugenehmigung umfassend die Erdarbeiten, die Gründung und das Kellergeschoss. Am 25. Juli 2003 erteilte der Antragsgegner sodann die beantragte Baugenehmigung. Unter anderem bezogen auf das Flurstück 850/1 wurde eine Abstandsfläche von 2,0 m (entspricht 0,21 H) wegen der besonderen städtebaulichen Verhältnisse gestützt auf § 6 Abs. 14 Landesbauordnung (LBauO) M-V genehmigt. Zur Begründung führte der Antragsgegner aus, dass die geplante Bebauung sich mit einer Höhe von 3 Geschossen und einem Staffelgeschoss nach § 34 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge. Im Bereich der Straße E. wäre bei Einhaltung der Abstandsflächen von 1 H auf beiden Straßenseiten jegliche Bebauung unmöglich. Die in Höhe des Flurstücks 850/1 auf 9,33 m reduzierte Höhe der geplanten Bebauung entspreche der Höhe, die bei einer späteren Bebauung des Flurstücks 850/1 genehmigungsfähig wäre, da sie zwischen der Höhe des Eckgrundstücks (wohl gemeint Flurstück 849) mit ca. 11,9 m und den Gebäuden auf den Flurstücken 851 und 872 mit ca. 7,25 m bis 9,10 m vermittele. Der Antragsgegner sah keine unzumutbare Beeinträchtigung des Flurstücks 850/1 durch die genehmigte Bebauung. Am 30. Juli 2003 wurde dem Antragsteller die Mitteilung über die Erteilung der Baugenehmigung zugestellt.

Am 12. August 2003 legte der Antragsteller Widerspruch gegen die Baugenehmigung ein. Am 18. August 2003 beantragte er beim Verwaltungsgericht Schwerin einstweiligen Rechtsschutz. Am 21. August 2003 teilte der Antragsgegner dem Antragsteller unter anderem die Erteilung der Teilbaugenehmigung vom 26. Juni 2003 mit. Gegen die Teilbaugenehmigung hat der Antragsteller keinen Rechtsbehelf eingelegt.

Nach Durchführung eines Ortstermins am 14. Oktober 2003 lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 22. Januar 2004 die Anträge des Antragstellers im Eilrechtsschutzverfahren ab. Das Abstandflächenrecht habe generell drittschützenden Charakter. Das Bauvorhaben der Beigeladenen werde die gemäß § 6 Abs. 1 und Abs. 5 LBauO M-V zu wahrende Abstandsfläche von mindestens 3 m nicht einhalten, da von der öffentlichen Verkehrsfläche der Straße E. gemäß § 6 Abs. 2 S. 2 LBauO M-V nur maximal 2 m in Anspruch genommen werden dürften. Dabei werde bereits berücksichtigt, dass das Staffelgeschoss des Gebäudes der Beigeladenen keine zusätzliche Abstandsfläche auslöse, da es weit genug hinter die Vorderkante des Gebäudes zurücktrete. Der Antragsgegner habe aber in ermessensfehlerfreier Weise von der Ausnahmeregelung des § 6 Abs. 14 LBauO M-V Gebrauch gemacht. Die östliche Altstadt R. bilde ein überwiegend bebautes Gebiet. Die Ausnahme vom Abstandflächenrecht zugunsten der Beigeladenen sei sowohl aus straßengestalterischen Gründen als auch aufgrund der besonderen städtebaulichen Verhältnisse geboten. Die bislang auf der Ostseite der Straße E. errichteten Gebäude befänden sich auf einer Baulinie. Gleiches sei für die Gebäude auf der Westseite, wo sich das Gebäude der Beigeladenen befinden werde, vorgesehen. Würde sich der Antragsteller mit seinem Anliegen durchsetzen, müsste das Gebäude der Beigeladenen auf dem Teilstück, welches dem unbebauten Grundstück des Antragstellers gegenüberliegt, selbst unter Ausnutzung des Schmalseitenprivilegs um 3,5 m zurückgesetzt werden. Ein solches Zurückspringen widerspräche den sonst einheitlichen Baulinien in E.. Die Wahrung der Einheitlichkeit des Straßenbildes rechtfertige die Ausnahme zugunsten der Beigeladenen. Darüber hinaus lägen besondere städtebauliche Verhältnisse vor, die eine Ausnahme rechtfertigten. Das Bauvorhaben der Beigeladenen liege in einem der ältesten Stadtteile R., der Jahrhunderte vor der Automobilisierung entstanden sei und zahlreiche sehr schmale Straßen aufweise. Der städtebauliche Rahmenplan lasse erkennen, dass in einer Reihe von Straßen des Viertels generell an den Blockrändern gebaut sei, sodass die nach der Landesbauordnung vorgesehenen Abstandstflächen häufig nicht eingehalten würden. Die Blockrandbebauung solle nach der Rahmenplanung auch für bestehende Baulücken beibehalten werden. Angesichts dieser städtebaulichen Situation, die auch als historische Vorbelastung des Grundstücks des Antragstellers bezeichnet werden könne, sei eine Ausnahme gemäß § 6 Abs. 14 LBauO M-V ebenfalls gerechtfertigt. Bedenken aus Brandschutzgründen seien nicht ersichtlich. Der Antragsgegner habe das ihm eingeräumte Ermessen ausgeübt und die Nachteile, die die Ausnahmegenehmigung für das Grundstück des Antragstellers auslöse, als zumutbar bewertet. Ermessensreduzierende Aspekte zugunsten des Antragstellers seien nicht ersichtlich, zumal zu berücksichtigen sei, dass diesem ebenfalls eine gleich hohe Bebauung möglich wäre. Die Rahmenplanung sehe für das Grundstück 853, welches nur zur Hälfte dem Grundstück des Antragstellers gegenüberliege, eine zweistöckige Bebauung vor. Von der nichtverbindlichen Rahmenplanung eine Ausnahme zugunsten der Beigeladenen zu machen, erscheine der Kammer vertretbar. Eine Untersuchung des geplanten Bauvorhabens unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Rücksichtnahmegebotes des § 34 BauGB erübrige sich, nachdem festgestellt worden sei, dass die angegriffene Baugenehmigung mit den Normen des Abstandflächenrechts vereinbar sei. Die konkrete Entscheidung des Bauordnungsrechts präjudiziere nämlich die vom allgemeinen Rücksichtnahmegebots geforderten Bewertungen.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die am 04. Februar 2004 beim Verwaltungsgericht eingegangene Beschwerde, die mit am 20. Februar 2004 eingegangenem Schriftsatz begründet wurde. Die Beschwerdebegründung rügt zum einen, dass die Anwendung des § 6 Abs. 14 LBauO M-V durch das Verwaltungsgericht fehlerhaft sei. Die Gestaltung des Straßenbildes rechtfertige die Verringerung der Abstandsflächen nicht. Dafür wäre die Einheitlichkeit der Bebauung erforderlich. Dies verlange, dass die östliche Altstadt R. von engen Gassen und Gängen geprägt werde. Dies sei allerdings nicht der Fall. Bei den im Ortstermin gezielt abgeschrittenen und in den Gründen vergleichsweise herangezogenen Gassen handele es sich um eine absolute Ausnahmesituation der östlichen Altstadt R., die nicht die vorhandenen baulichen Strukturen repräsentiere. Zudem sei der dortige Bebauungszusammenhang mit der nunmehr in der Straße E. entstehenden Bausituation ganz und gar nicht vergleichbar. Das Besondere an der Situation in der Straße E. sei, dass das Grundstück des Antragstellers zwischen den anderen Grundstücken gefangen sei. Bei einer dortigen Bebauung bestehe an keiner Seite mehr die Möglichkeit des Lichteinfalls. Die an der E. geplante Blockbebauung ergänze und erhalte keine vorhandenen baulichen Strukturen. Die (ebenfalls von der Beigeladenen errichtete) Bebauung an der Ecke H. Straße/E, führe zu einer kompletten Verschattung. Die Blockrandbebauung schließe keine Baulücke. Auf den Flurstücken 853 und 854/2 habe sich bislang keine Bebauung befunden. An dieser Seite der E. sei keine Flucht vorgegeben, an der sich die Bebauung zu orientieren hätte. Auch auf der Seite der Straße "A. W." sei das gegenüberliegende hohe Gebäude einige Meter zurückversetzt gebaut worden. Nichts spreche dagegen, dies auch von dem Bauvorhaben der Beigeladenen zu verlangen. Unverständlich sei, wieso das Gericht gerade für die Bebauung durch den Beigeladenen eine Abweichung von der Rahmenplanung zulasse. Diese sehe dort eine zweigeschossige Bebauung vor. Mit der zweigeschossigen Planung solle den Vorschriften zu den Abstandsflächen Rechnung getragen werden. Die dreigeschossige Bebauung für das Eckgrundstück 854/2 rechtfertige sich daraus, dass sowohl dieses Flurstück wie auch das gegenüberliegende Flurstück 849 genügend Licht aus der Ecke zur Straße B. W. erhielten. Das Ermessen sei vom Antragsgegner überhaupt nicht ausgeübt worden. Der Baugenehmigung ließen sich Ermessenserwägungen nicht entnehmen. Auch die Begründung lasse nicht erkennen, dass Ermessen ausgeübt worden sei. Bauplanungsrechtlich sei die Baugenehmigung ebenfalls mit dem geltenden Recht unvereinbar. Die Abstandsvorschriften seien nicht eingehalten worden. Das Bauvorhaben lasse es hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche an der Grenze an der gebotenen Rücksichtnahme fehlen. Die nachbarlichen Belange ausreichender Belichtung, Belüftung sowie der Begrenzung der Einsichtmöglichkeiten könnten auch Gegenstand des Gebots der Rücksichtnahme sein. Nach Realisierung des Bauvorhabens komme es zu einer völligen Verschattung des Grundstücks des Antragstellers. Die Höhe und das Ausmaß der Geschossfläche, die grenznahe Anordnung und die erdrückende Wirkung in Hinblick auf das Grundstück des Antragstellers würden von dem Antragsgegner in der Baugenehmigung nicht problematisiert.

Der Antragsteller beantragt,

1. die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die der Beigeladenen von dem Antragsgegner erteilte Baugenehmigung vom 25. Juli 2003 anzuordnen,

2. der Beigeladenen einstweilen aufzugeben die Bauarbeiten einzustellen und alle Maßnahmen zur Ausführung des genehmigten Vorhabens zu unterlassen,

3. bis zur Entscheidung des Senats der Beigeladenen die Bauausführung zu untersagen.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er trägt vor, dass in der östlichen Altstadt von R. nicht nur in der Straße E. die auch von dem Antragsteller beschriebenen Verhältnisse herrschten. Es fänden sich dort nicht selten nur einspurig zu befahrende Straßen sowie schmale Gehwege und verhältnismäßig hohe Gebäude, die sämtlich die heute geltenden Abstandvorschriften nicht einhielten. Die mit dem Verwaltungsgericht abgeschrittenen Straßen stünden beispielhaft für diese Situation. Eine Besonderheit der Straße E. bestehe darin, dass dort aufgrund der Breite der Straßenfläche kein PKW-Verkehr zulässig sei. Die Häuser, die in der Straße E. auf der Straßenseite des Grundstücks des Antragstellers errichtet worden seien, hielten sämtlich die Anforderungen des § 6 LBauO M-V, insbesondere dessen Absatz 2 nicht ein. Bei der Beurteilung des streitgegenständlichen Vorhabens habe man daher auch der Beigeladenen gestattet, die Vorgaben des § 6 Abs. 2 LBauO M-V nicht einzuhalten. Es sei weiterhin gerechtfertigt, der Beigeladenen zu gestatten, die bauliche Anlage entlang der Straße E. in einer Baulinie zu errichten. Diese "Art" der Bebauung finde ihre Entsprechung auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Ecksituation und die für den Antragsgegner bindenden Vorgaben des städtebaulichen Rahmenplanes in seiner ersten Fortschreibung für das Sanierungsgebiet "Stadtzentrum R." rechtfertigten es, die dreigeschossige Bebauung auf dem Grundstück der Beigeladenen nicht zurückzusetzen, wie dies der Antragsteller verlange. Die Errichtung des Vorhabens werde zur Folge haben, dass die Sonneneinstrahlung auf dem Grundstück des Antragstellers dann reduziert werde, wenn die Sonne im Westen stehe. Wenn der Antragsteller sein Grundstück bebaue, werde die Sonneneinstrahlung auf dem Grundstück der Beigeladenen von Osten ebenfalls reduziert, ohne dass ein qualitativer Unterschied zu erkennen sei. Mit Blick auf die in der östlichen Altstadt herrschenden städtebaulichen Verhältnisse könne auf das Bauvorhaben der Beigeladenen die Regelung des § 6 Abs. 14 LBauO M-V angewandt werden. Die Ermessensentscheidung sei nicht zu begründen gewesen. Nach § 72 Abs. 1 S. 2 LBauO M-V müsse nur die Befreiung nach § 70 Abs. 3 LBauO M-V gegenüber dem Nachbarn begründet werden. Es sei auch nicht erkennbar, welcher Schutz dem Antragsteller durch die Kenntnis tragender Ermessensgründe vermittelt werde. Die Baugenehmigung verletze nicht das Gebot der Rücksichtnahme. Dem Antragsgegner sei keine Rechtsprechung bekannt, die einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme zugunsten eines Dritten darin sehe, dass ein Bauherr auf einer bestimmten Fläche seines Grundstücks ein Gebäude errichtet. Wegen der fehlenden Verletzung von Abstandflächenrecht entfalle zudem ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme.

Mit Schreiben vom 30. November 2004 hat der Antragsgegner die Fertigstellung des Rohbaus gegenüber dem Oberverwaltungsgericht angezeigt und daraus die Rechtsfolgerung gezogen, der Eilantrag sei unzulässig geworden. Der Antragsteller ist dieser Rechtsauffassung entgegengetreten.

Die Beigeladene hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.

Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie der - vom OVG beigezogenen - Behördenakte verwiesen.

II.

A. Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig, sie ist insbesondere fristgerecht eingelegt und begründet worden.

Sie ist auch nicht dadurch unzulässig geworden, dass zwischenzeitlich der Rohbau der genehmigten baulichen Anlage fertiggestellt worden ist. Allerdings hat der Senat in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, mit der Fertigstellung des Rohbaus einer genehmigten baulichen Anlage entfalle das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz, wenn die Verletzung subjektiver Rechte des rechtsschutzsuchenden Nachbarn allein durch den Baukörper ausgelöst wird (so bereits B. v. 22.03.1994 - 3 M 66/93). Der Senat hat aber in dem genannten Beschluss auch ausgeführt, dass anderes gelte, wenn auch die Nutzung der baulichen Anlage eine Verletzung subjektiver Rechte der Nachbarn bewirkt und beispielhaft die Einsichtsmöglichkeiten in den Ruhebereich eines Hausgrundstücks benannt (vgl. weiter Beschluss des Senats v. 03.06.1994 - 3 M 94/93). Aus dieser bisherigen ständigen Rechtsprechung des Senats ergibt sich für den hier zu entscheidenden Einzelfall, dass die Fertigstellung des Rohbaus nicht zum Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Antragstellers führt. Ausweislich der Baugenehmigung weist die an der Grundstücksgrenze zur Straße E. errichtete Gebäudeaußenwand im 1. und 2. Geschoss größere Fensteröffnungen auf und ist für das 3. Geschoss eine Dachterrasse zur Straße E. vorgesehen. Damit werden Einsichtsmöglichkeiten auf das Grundstück des Antragstellers eröffnet, die angesichts der Unterschreitung der Regel-Mindestabstandsfläche eine Verletzung subjektiver Rechte des Antragstellers möglich erscheinen lassen.

B. Die Beschwerde ist begründet, soweit mit ihr die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung begehrt wird. Aus den vom Antragsteller in der Beschwerdebegründung dargelegten und für die Prüfung des angefochtenen Beschlusses maßgeblichen Gründen (vgl. § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO) ergibt sich, dass die streitbefangene Baugenehmigung sich als überwiegend wahrscheinlich rechtswidrig erweisen und den Antragsteller in seinen Rechten verletzen dürfte (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs überwiegt unter diesen Umständen das öffentliche Interesse und das Privatinteresse der Beigeladenen am Vollzug der Baugenehmigung.

Die Baugenehmigung erweist sich überwiegend wahrscheinlich als rechtswidrig, weil sie unter Verstoß gegen das geltende Abstandflächenrecht aus § 6 LBauO M-V erteilt worden ist. Das genehmigte Bauvorhaben der Beigeladenen hält unstreitig die Regel-Mindestabstandflächen der Landesbauordnung nicht ein. Der Antragsgegner hat daher die Inanspruchnahme geringerer Abstandflächen auf der Grundlage des § 6 Abs. 14 LBauO M-V gestattet. Danach können in überwiegend bebauten Gebieten geringere Tiefen der Abstandflächen gestattet werden, wenn die Gestaltung des Straßenbildes oder besondere städtebauliche Verhältnisse dies rechtfertigen und Gründe des Brandschutzes nicht entgegenstehen. Ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 6 Abs. 14 LBauO M-V vorliegen, kann der Senat offenlassen; für die von § 6 Abs. 14 LBauO M-V verlangten besonderen städtebaulichen Verhältnisse mag allerdings die gewachsene und auf die heute erforderlichen Abstandsflächen nicht Rücksicht nehmende Bebauung sprechen. Die Baugenehmigung erweist sich wegen der nicht fehlerfreien Ermessensentscheidung über die Gestattung geringerer Abstandsflächen als rechtswidrig.

§ 6 Abs. 14 LBauO M-V räumt der Baugenehmigungsbehörde bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen ein Ermessen hinsichtlich der Gestattung geringerer Abstandsflächen ein. Das hat der Antragsgegner auch nicht verkannt. Er hat gegenüber der Beigeladenen mit Schreiben vom 21. Mai 2003 zum Ausdruck gebracht, dass er sein ihm in § 6 Abs. 14 LBauO M-V eingeräumtes Ermessen in einer die Beigeladene begünstigenden Weise auszuüben gedenke, wenn bestimmte Anforderungen an das bauliche Vorhaben erfüllt werden. Dass der Antragsgegner von dieser Erkenntnis bei der Erteilung der Baugenehmigung abgewichen ist, läßt sich den Verwaltungsvorgangen nicht entnehmen.

Der Senat vermag auch nicht zu erkennen, dass unter dem Aspekt einer Ermessensreduzierung auf Null der Antragsgegner zugunsten der Beigeladenen eine Gestattung geringerer Abstandsflächen erteilen musste. Selbst wenn sich das Vorhaben der Beigeladenen bauplanungsrechtlich als rechtmäßig erweisen sollte, weil es sich im Sinne des §§ 34 Abs. 1 oder 2 BauGB einfügt, was der Senat im Eilverfahren nicht abschließend beurteilen kann, ist der Landesgesetzgeber nicht daran gehindert, bauordnungsrechtliche Anforderungen an die Genehmigungsfähigkeit eines baulichen Vorhabens zu stellen, die zur (teilweisen) Unzulässigkeit des Vorhabens führen können (vgl. VGH München Beschluss vom 10.02.2001 - 20 ZS 01.2775, NVwZ-RR 2002, 259; OVG Berlin Beschluss v. 28.08.1996 - 2 S 15.96, BRS 58 Nr. 104).

Allerdings ist die konkrete Ermessensausübung bei der gebotenen summarischen Betrachtung der Sachlage nicht ordnungsgemäß erfolgt. Die Ermessensausübung hat sich am Zweck der Norm auszurichten (§ 40 Verwaltungsverfahrensgesetz M-V). Eine ordnungsgemäße Ermessensausübung verlangt, dass alle nach dem Zweck der Norm für die zu treffende Entscheidung zu berücksichtigenden Gesichtspunkte hinreichend ermittelt und bei der konkreten Entscheidung eingestellt werden. Dafür genügt nicht, dass der Antragsgegner feststellt, durch das Bauvorhaben der Beigeladenen werde das im Eigentum des Antragstellers stehende Flurstück nicht unzumutbar beeinträchtigt. Vielmehr ist die unzumutbare Beeinträchtigung eines Nachbarn die Grenze einer Ermessensausübung. Liegt sie vor, handelt es sich um einen Fall der Ermessensreduzierung auf Null zugunsten des Nachbarn.

Aus der Erkenntnis, dass sie nicht vorliegt, folgt - anders als wohl der Antragsgegner meint -, dass Ermessen eröffnet ist, das dann aber auch ausgeübt werden muss. Bei dieser Ermessensausübung ist der vom Antragsgegner in der Baugenehmigung angesprochene Gesichtspunkt, dass der Antragsteller sein Grundstück ebenfalls mit einem Gebäude mit einer Traufhöhe von 9,33 m bebauen können, nicht allein in den Blick zu nehmen.

Ebensowenig reicht es für eine ordnungsgemäße Ermessensausübung aus, wenn der Antragsgegner darauf verweist, dass bei Einhaltung der Abstandsfläche von 1 H eine Bebauung der Flurstücke 853, 854/2 und 850/1 nicht möglich sei. Denn selbst wenn das als richtig unterstellt wird, bleibt zu bedenken, dass auch eine Bebauung in geringerer Höhe als beantragt möglich wäre. Zudem wäre eine Bebauung mit einer Abstandsfläche von 1/2 H möglicherweise realisierbar. Schließlich hat die Beigeladene nicht eine isolierte Bebauung der Flurstücke 853 und 854/2 beantragt, so dass das Gesamtprojekt bei der Ermessensentscheidung zu bedenken gewesen wäre.

Diese vom Antragsgegner angeführten Aspekte genügen den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Ermessensausübung nicht. Vielmehr hätte er bei seiner Ermessensentscheidung das Interesse des Antragstellers an der Einhaltung der Regel-Mindestab-Standsflächen mit dem ihm gebührenden Gewicht in die Entscheidung einstellen müssen. Insbesondere das Maß der Verschattung und die dadurch bedingte Beeinflussung der Art der baulichen Nutzung des Flurstücks des Antragstellers und die durch die genehmigte Bebauung geschaffenen Einsichtsmöglichkeiten hätten gegen das Interesse der Beigeladenen an einer maximalen Ausnutzung der für die Bebauung vorgesehenen Grundstücke abgewogen werden müssen. Der Antragsgegner hätte auch die Abweichung vom städtebaulichen Rahmenplan in die Ermessensentscheidung einstellen müssen. Dieser Rahmenplan ist zwar nicht im strengen Sinne für den Antragsgegner verbindlich, doch dokumentiert sich darin eine grundlegende Planungsabsicht der Stadt R., die von der Verwaltung nicht unbeachtet bleiben darf. Schließlich hätte in die Ermessenentscheidung auch eingestellt werden müssen, ob durch das Bauvorhaben der Beigeladenen eine "Straßenschlucht" entsteht, die städtebaulich bedenklich sein könnte, weil sie der Schaffung gesunder Wohn- und Arbeitsverhältnisse entgegenstehen könnte (vgl. zu diesem Aspekt Temme in: Böcken-förde/Temme/Heintz, LBauO NRW, 9. Aufl. 1998 Nr. 386 Rn. 140 unter Hinweis auf OVG Münster, B. v. 23.10.1995 -10 B 2661/95 -).

Der Antragsteller wird durch die rechtswidrige Gestattung geringerer Abstandflächen in seinen Rechten verletzt. Die Bestimmungen über das Abstandflächenrecht sind regelmäßig drittschützend. Dem Antragsteller kann nicht entgegengehalten werden, seine Rechtsausübung verstoße gegen Treu und Glauben. Das im Eigentum des Antragstellers stehende Grundstück 850/1 ist nicht bebaut. Der Antragsteller nimmt insoweit auch nicht selbst eine Unterschreitung der Abstandflächen in Anspruch, die er der Beigeladenen gerade verwehren will. Dass die Flurstücke 854/2 und 853 möglicherweise für sich genommen nur eingeschränkt bebaubar sind, wenn die gesetzlichen Mindestabstandsflächen einzuhalten sind, kann den Antragsteller auch unter dem Aspekt des nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnisses nicht daran hindern, die Einhaltung von Regel-Mindestabstandsflächen zu fordern.

Die Beschwerde ist nicht deswegen teilweise unbegründet, weil die Verletzung subjektiver Rechte des Antragstellers nur durch Teile der baulichen Anlage und den darauf bezogenen Teil der Baugenehmigung erfolgen kann. Allerdings wird in der Rechtsprechung teilweise die Rechtsauffassung vertreten, in einstweiligen Rechtsschutzverfahren (VGH Mannheim, B. v. 25.11.1996 - 3 S 2913/96 -) oder generell könne ein in seinen Rechten verletzter Nachbar die Baugenehmigung nur in den Teilen erfolgreich angreifen, die seine Rechtsverletzung auslösten (vgl. OVG Berlin, B. v. 25.03.1993 - 3 S 4.93 = BRS 55 Nr. 121; VGH Kassel, B. v. 15.11.1989 - 4 TG 2987/89 -, ESVGH 41, 79 = juris; zurückhaltender OVG Saarlouis, B. v. 23.02.1994 - 2 B 5/94 = BRS 56, 184; OVG Weimar, B. v. 11.05.1995 - 1 EO 486/94 -). Diese Rechtsauffassung vermag nicht zu überzeugen. Sie führt zu dem Ergebnis, dass jedenfalls dann, wenn sich die Baugenehmigung materiell-rechtlich nicht als teilbar erweist, das Gericht eine objektiv rechtswidrige Baugenehmigung "übrig lassen" muss. Dies ist nicht Aufgabe eines Gerichts (vgl. den allgemeinen Rechtsgedanken aus § 139 BGB; zu weiteren Gründen Mampel, BauR 2000, 1817 ff.). Der Senat vermag weiter nicht zu erkennen, dass die streitbefangene Baugenehmigung in der Weise teilbar wäre, dass sie auch ohne den Teil, der den Antragsteller in seinen Rechten verletzt, objektivrechtlich Bestand haben kann. Auch eine Beschränkung auf eine bloße Nutzungsuntersagung des Teils des Gebäudes, der Einsichtsmöglichkeiten auf das Grundstück des Antragstellers bietet, kommt vorliegend wegen des Anspruchs des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz nicht in Betracht. Die Nutzungsuntersagung würde nur einen Teil der durch die Baugenehmigung ausgelösten Rechtsverletzung des Antragstellers erfassen.

Soweit der Antragsteller die Verpflichtung der Beigeladenen zur Einstellung der Bauarbeiten begehrt, ist die Beschwerde unbegründet. Der Senat kann offenlassen, ob sich aus § 80 a Abs. 3 Satz 1 iVm. Abs. 1 Nr. 2 VwGO ergibt, dass ausnahmsweise das Gericht unmittelbar gegenüber einem notwendig Beigeladenen eine gegebenenfalls vom Gericht zu vollstreckenden Verpflichtung auf Baueinstellung aussprechen kann (so Schoch in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 80 a Rn. 53 ff.; Funke-Kaiser in: Bader, VwGO, 2. Aufl. 2002, § 80 a Rn. 27; Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz in Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl. 1998, Rn. 840 jeweils mit Nachweisen zum Streitstand in der Rechtsprechung). Voraussetzung einer solchen Sicherungsmaßnahme ist regelmäßig, dass die vom Gericht ausgesprochene Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs von der Beigeladenen missachtet wird (vgl. VGH München, B. v. 19.04.1993 - 14 AS 93790 -, BayVBl. 1993, 67 = BRS 55, 201; Schoch, a.a.O., Rn. 54, 39). Für ein solchermaßen zukünftig rechtswidriges Verhalten des Beigeladenen ergeben sich aus den Verwaltungsvorgängen keine hinreichenden Anhaltspunkte, sodass es nicht darauf ankommt, ob der Antragsgegner bereit ist, gegebenenfalls die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs durchzusetzen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Das Unterliegen des Antragstellers ist so geringfügig, dass es dem Senat gerechtfertigt erscheint, dem Antragsgegner die volle Kostenlast aufzuerlegen.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.

Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung bei Nachbarstreitigkeiten wegen Erteilung einer Baugenehmigung von einem Eckwert in Höhe von 15.000 DM (entspr. 7.669,38 €) aus. In ständiger Praxis halbiert der Senat den sich im Hauptsacheverfahren ergebenden Streitwert.

Dieser Wert erscheint mit Blick auf die vom Antragsteller näher begründete faktische Wertminderung seines Flurstücks 850/1 bei der Durchführung der vorgesehenen und bereits genehmigten Baugenehmigung als angemessen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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