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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 22.08.2005
Aktenzeichen: 10 A 3611/03
Rechtsgebiete: BauGB, BauNVO, BauO NRW


Vorschriften:

BauGB § 31 Abs. 2
BauNVO § 22
BauNVO § 23 Abs. 3 Satz 2
BauO NRW § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b)
BauO NRW § 6 Abs. 7
BauO NRW § 61 Abs. 1
BauO NRW § 72
BauO NRW § 77 Abs. 1
1.) Das in § 31 Abs. 2 BauGB enthaltene Gebot der Rücksichtnahme ist verletzt, wenn in einer Reihenhauszeile mit Gebäudebreiten von jeweils nur 4,75 m durch die Errichtung eines über 1,50 m vortretenden, die hintere Baugrenze überschreitenden, grenzständigen, die gesamte Gebäuderückseite einnehmenden Balkons erstmalig qualifizierte Einsichtnahmemöglichkeiten wie von einer "Aussichtsplattform" in ein etwa ein Meter entferntes Schlafzimmerfenster sowie in die benachbarten Terrassenbereiche geschaffen werden. Das Gebot der Rücksichtnahme steht der Errichtung eines Balkons an Reihenhäusern allerdings nicht schlechthin entgegen.

2.) Die Anwendung der Abstandflächenvorschriften der BauO NRW setzt voraus, dass zuvor die planungsrechtliche Frage der Bauweise entschieden ist.

3.) Muss nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden, dann gilt dies auch für Gebäudeteile, die gem. § 23 Abs. 3 Satz 2 BauNVO außerhalb der durch Baugrenzen überbaubaren Fläche zugelassen werden können oder für die gem. § 31 Abs. 2 BauGB eine Befreiung von den festgesetzten Baugrenzen erteilt werden kann.


Tatbestand:

Der Kläger begehrte die Beseitigung des auf der rückwärtigen Seite des Gebäudes der Beigeladenen errichteten Balkons.

Der Kläger ist Eigentümer eines mit einem zweigeschossigen Einfamilienreihenhaus bebauen Grundstücks. Nördlich grenzt es an das im Eigentum der Beigeladenen stehende Grundstück an, auf dem ebenfalls ein zweigeschossiges Einfamilienreihenhaus errichtet ist. Beide Gebäude sind Reihenmittelhäuser mit einer Breite von 4,75 m und gehören zu einer aus sechs Häusern bestehenden, insgesamt knapp 29 m langen Hausgruppe.

Die Reihenhauszeile liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 31, 2. Änderung vom 24.2.1987. Darin werden für den hier in Rede stehenden Bereich unter anderem die Festsetzungen "WA" (allgemeines Wohngebiet) und "nur Hausgruppen zulässig" getroffen. Des weiteren sieht der Bebauungsplan zwei senkrecht zur südlich verlaufenden C.-Straße angeordnete und über Stichwege erschlossene Baufenster von 13 m x 32,5 m vor. Die überbaubaren Grundstücksflächen enden im rückwärtigen Bereich der Grundstücke des Klägers und der Beigeladenen jeweils 0,50 m jenseits der westlichen - gartenseitigen - Gebäudeaußenwand.

Im September 1995 beantragten die Beigeladenen die Erteilung einer Baugenehmigung für den Anbau eines Balkons an der rückwärtigen Gebäudeseite im ersten Obergeschoss. Nach den Bauvorlagen soll der an der Gartenseite von zwei Stahlstützen getragene Balkon einschließlich der Umwehrung eine Tiefe von 1,50 m aufweisen und sich über die gesamte Hausbreite erstrecken.

Unter dem 9.11.1995 erteilte der Beklagte den Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung.

Im Rahmen des sich anschließenden Nachbarklageverfahrens vor dem VG stellte die Berichterstatterin beim Ortstermin fest, dass bereits die Kragplatte des Balkons eine Tiefe von 1,50 m aufwies. Zusätzlich war der Balkon mit einer Holzverkleidung sowie mit fest montierten und weitere 0,30 cm bis 0,35 cm vor die Brüstung vortretenden Blumenkästen versehen. Auf den Hinweis der Berichterstatterin, dass der vorhandene Balkon nicht den genehmigten Bauvorlagen entspreche, erklärten Kläger und Beklagter das Verfahren in der Hauptsache für erledigt. Zur Begründung der Kostenentscheidung des Einstellungsbeschlusses wurde u. a. ausgeführt, dass die Baugenehmigung aufgrund der abweichenden Errichtung des Balkons zwischenzeitlich erloschen sei.

Mit Schreiben vom 13.9.2000 forderte der Kläger vom Beklagten, den Beigeladenen durch Ordnungsverfügung die Beseitigung des Balkons aufzugeben.

Der am 21.3.2001 erhobenen Untätigkeitsklage des Klägers gab das VG statt.

Die vom OVG zugelassene Berufung blieb erfolglos.

Gründe:

Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erlass der beantragten, gegen die Beigeladenen gerichteten Beseitigungsverfügung. Das Unterlassen der entsprechenden bauordnungsrechtlichen Verfügung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Der Anspruch des Klägers auf Entfernung des Balkons auf der rückwärtigen Seite des Gebäudes der Beigeladenen folgt aus § 61 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW.

Nach § 61 Abs. 1 BauO NRW haben die Bauaufsichtsbehörden bei der Errichtung, der Änderung, dem Abbruch, der Nutzung, der Nutzungsänderung sowie der Instandhaltung baulicher Anlagen darüber zu wachen, dass die öffentlich-rechtlichen Vorschriften und die aufgrund dieser Vorschriften erlassenen Anordnungen eingehalten werden. Sie haben in Wahrnehmung dieser Aufgaben nach pflichtgemäßem Ermessen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. § 61 BauO NRW stellt eine verfassungsmäßige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums (Art. 14 GG) dar.

Vgl. zu der entsprechenden Regelung des § 81 LBO Rh.-Pf.: BVerfG, Beschluss vom 2.9.2004 - 1 BvR 1860/02 -, NVwZ 2005, 203.

Ein Anspruch des Nachbarn auf bauordnungsbehördliches Einschreiten folgt aus dieser Eingriffsermächtigung, wenn das angegriffene Bauvorhaben nicht durch eine bestandskräftige Baugenehmigung gedeckt wird, der errichtete Balkon rechtswidrig ist und den klagenden Nachbarn in seinen Rechten verletzt, dieser seine Abwehrrechte nicht verwirkt hat sowie das Ermessen der Behörde auf Null reduziert ist.

Dem Abwehranspruch des Klägers steht keine den streitgegenständlichen Balkon erfassende Baugenehmigung entgegen. Die Legalisierungswirkung einer Baugenehmigung hat zur Folge, dass im Umfang der Feststellungswirkung der Baugenehmigung die Legalität des Vorhabens nicht in Frage steht, solange die erteilte Genehmigung nicht aufgehoben ist.

Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 7.11.1997 - 4 C 7.97 -, BRS 59 Nr. 109; BGH Urteil vom 3.2.2000 - III ZR 296/98 -, NVwZ 2000, 1206, 1207; OVG NRW, Urteil vom 11.9.2003 - 10 A 4694/01 -, BRS 66 Nr. 159; Boeddinghaus/Hahn/Schulte, Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, Kommentar, Loseblatt, Stand: Mai 2005, § 75 Rdnr. 38.

Der den Beigeladenen am 9.11.1995 erteilten Baugenehmigung zum Anbau eines Balkons auf der rückwärtigen Gebäudeseite kommt keine Legalisierungswirkung zu, da diese gem. § 77 Abs. 1 BauO NRW 1995 erloschen ist. Mit der Errichtung des genehmigten Balkons ist nicht innerhalb von zwei Jahren nach Erteilung der Genehmigung begonnen worden. Offen bleiben kann, ob die Baugenehmigung im Zeitpunkt des Ortstermins des VG am 12.7.2000 noch Bestand hatte, weil durch den Nachbarwiderspruch des Klägers vom 7.1.1996 der Ablauf der Zweijahresfrist gehemmt war, vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 13.6.1990 - 7 B 945/89 -, Beschluss vom 22.6.2001 - 7 A 3553/00 - und Urteil vom 9.5.1997 - 7 A 1071/96 (dort offen gelassen, ob Hemmung oder Unterbrechung), oder ob die Baugenehmigung ausnahmsweise trotz Nachbarwiderspruchs bereits erloschen war, weil der Zeitablauf darauf zurückzuführen war, dass der Bauherr unabhängig vom Nachbarstreit ein anderes Vorhaben als das genehmigte errichtet hat, vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 19.1.1987 - 7 A 901/86 -, und allgemein zum Erlöschen bei Errichtung eines "aliud" OVG NRW, Urteil vom 30.4.1998 - 10 A 2981/96 -.

Denn jedenfalls ist die Frist mittlerweile abgelaufen, weil auch durch die Vornahme der Rückbaumaßnahmen im Jahr 2000 nicht von der Baugenehmigung Gebrauch gemacht worden ist. Der zurückgebaute Balkon einschließlich der Umwehrung überschreitet mit 1,51 m nach wie vor die genehmigte Tiefe von 1,50 m. Zudem ist die Kragplatte abweichend von den Bauzeichnungen nicht über eine Breite von 4,64 m ausgeführt, sondern lediglich über die Breite von 4,50 m. Statt der geplanten 0,055 m weist die Kragplatte zur Nachbargrenze des Klägers einen Abstand von 0,11 m und zur Nachbargrenze zum Haus Nr. 48 von 0,14 m auf.

Der Balkon ist materiell rechtswidrig. Er verstößt gegen Bauplanungsrecht, weil er die in dem Bebauungsplan Nr. 31, 2. Änderung festgesetzte hintere Baugrenze, die parallel zu den westlichen Außenwänden der Gebäude des Klägers und der Beigeladenen verläuft, um etwa einen Meter überschreitet. Diese Überschreitung kann - entgegen der vom Beklagten in der Berufungsbegründung vertretenen Auffassung - auch nicht nach § 23 Abs. 3 Satz 2 BauNVO (1977) zugelassen werden, weil das in dieser Bestimmung vorausgesetzte Vortreten von Gebäudeteilen in geringfügigem Ausmaß nicht gegeben ist. Ein Vortreten in geringfügigem Ausmaß ist nur anzunehmen, wenn es sich - bezogen auf die Größenordnung des Gebäudes - um untergeordnete Gebäudeteile handelt. Tritt dagegen ein wesentlicher Gebäudeteil über die Baugrenze, so überschreitet damit das Gebäude selbst und nicht wie vom Gesetz verlangt, lediglich ein Bauteil die Baugrenze.

BVerwG, Urteil vom 20.6.1975 - IV C 5.74 - , BRS 29 Nr. 126; OVG NRW, Beschluss vom 6.2.1996 - 11 B 3046/95 - ; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 1.2.1999 - 5 S 2507/96 - BRS 62 Nr. 97; OVG Saarl., Beschluss vom 16.2.2001 - 2 Q 15/00 - BRS 64 Nr. 189.

Dem hier in Rede stehende Balkon fehlt es an der erforderlichen Unterordnung. Der mit einer fast geschlossenen, wuchtigen Holzbrüstung versehene und sich über die gesamte Hausbreite von 4,75 m erstreckende Balkon tritt vielmehr als dominierendes Gebäudeteil der westlichen Außenwand in Erscheinung. Auch vor dem Hintergrund, dass die überbaubare Grundstücksfläche eine Bautiefe von höchstens 13 m zulässt, stellt sich die Überschreitung der Baugrenze um einen Meter über die gesamte Grundstücksbreite nicht mehr als geringfügig dar. Im Übrigen tritt der Balkon einschließlich der aufgrund ihrer Massivität einzubezienden Brüstung 1,51 m vor die Außenwand vor und überschreitet damit das in § 6 Abs. 7 BauO NRW genannte Maß, auf das für die Beurteilung der Frage, ob das Vortreten eines Gebäudeteils noch als geringfügig einzustufen ist, zusätzlich zurückgegriffen werden kann.

Vgl. dazu OVG NRW, Beschlüsse vom 6.2.1996 - 11 B 3046/95 -, vom 24.5.1996 - 11 B 970/96 - und vom 8.12.1998 - 10 B 2255/98 -; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 1.2.1999 - 5 S 2507/96 -, BRS 62 Nr. 97; OVG Rh.-Pf., Urteil vom 3.12.1998 - 1 A 11826/98 -.

Unerheblich ist nach den oben dargestellten Maßgaben, dass die Überschreitung der Baugrenze durch den Balkon mit einem Meter deutlich hinter dem in § 6 Abs. 7 BauO NRW genannten Maß von 1,50 m zurückbleibt. Denn es handelt sich um ein wesentliches Gebäudeteil, mit der Folge, dass das gesamte Gebäude die Baugrenze überschreitet.

Das Überschreiten der Baugrenze kann auch nicht durch die Erteilung einer Befreiung gem. § 31 Abs. 2 BauGB ausgeräumt werden, weil eine Abweichung in Nachbarrechte des Klägers eingriffe. Der hier in Rede stehenden Festsetzung von hinteren Baugrenzen kommt zwar kein nachbarschützender Charakter zu. Aber auch im Fall der Befreiung von nicht nachbarschützenden Festsetzungen ist § 31 Abs. 2 BauGB insoweit drittschützend, als diese Vorschrift das Ermessen der Bauaufsichtsbehörde dahin bindet, dass die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein muss.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 6.10.1989 - 4 C 14.87 -, BRS 49 Nr. 188; Hahn/Schulte, Öffentlich-rechtliches Baunachbarrecht, München 1998, Rdnr. 172.

Die Festsetzung der hinteren Baugrenzen ist hier nicht nachbarschützend. Von einer neben die städtebauliche Ordnungsfunktion tretenden nachbarschützenden Wirkung der festgesetzten Baugrenzen ist nur dann auszugehen, wenn konkrete Anhaltspunkte für einen dahingehenden planerischen Willen erkennbar sind. Dies ist in jedem Einzelfall aus Inhalt und Rechtsnatur der Festsetzung, ihrem Zusammenhang mit den anderen Regelungen des Plans, der Planbegründung oder anderen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung im Wege der Auslegung zu ermitteln. Hierbei ist insbesondere von Bedeutung, ob die Nachbarn durch die Festsetzung im Sinne eines "Austauschverhältnisses" rechtlich derart verbunden sind, dass sie zu gegenseitiger Rücksichtnahme verpflichtet sind oder eine "Schicksalsgemeinschaft" bilden, aus der keiner der Beteiligten ausbrechen darf.

BVerwG, Beschluss vom 9.3.1993 - 4 B 38.93 -, BRS 55 Nr. 170; OVG NRW, Beschlüsse vom 6.2.1996 - 11 B 3046/95 -, vom 24.5.1996 - 11 B 970/96 -, BRS 58 Nr. 171 und vom 23.9.2004 - 7 B 1908/04 -, jeweils m. w. N.

Hier sind weder aus den Regelungen des Bebauungsplans, der Planbegründung noch aus den Aufstellungsvorgängen derartige Umstände ersichtlich. Entsprechende Anhaltspunkte ergeben sich insbesondere nicht aus einer Zusammenschau mit der Festsetzung "nur Hausgruppe zulässig". Denn damit wird in erster Linie das städtebauliche Ziel verfolgt, eine einheitliche Baustruktur der neu hinzukommenden Bebauung mit der östlich des neu überplanten Bereichs (2. Änderung) bereits vorhandenen Bebauung zu schaffen. In der Begründung zur 2. Änderung des Bebauungsplans wird insoweit ausgeführt, dass im Zusammenhang mit der im Bebauungsplan Nr. 31 ausgewiesenen Wohnbaufläche nördlich der C.-Straße zwischen J.-Straße und dem Schulgrundstück eine in sich geschlossene Reihenhaussiedlung entstanden sei. Mit der 2. Änderung sollte die bislang für Erweiterungen der Grundschule vorgehaltene Fläche der benachbarten Wohnbebauung zugeordnet werden, um eine städtebauliche Abrundung zu erreichen. Eine nachbarschützende Wirkung der entsprechenden Festlegung der überbaubaren Grundstücksflächen auch durch rückwärtige Baugrenzen ist mit dieser Zielsetzung nicht verbunden.

Eine Befreiung von der danach nicht nachbarschützenden Festsetzung der hinteren Baugrenzen kann gleichwohl nicht rechtmäßig erteilt werden, weil sie die nachbarlichen Interessen im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB nicht hinreichend berücksichtigen würde. Unter welchen Voraussetzungen durch eine Befreiung Nachbarrechte verletzt werden, ist nach den Grundsätzen des Gebots der Rücksichtnahme zu beantworten, das in dem Tatbestandsmerkmal "unter Würdigung nachbarlicher Interessen" seinen rechtlichen Anknüpfungspunkt findet. Bei der erforderlichen Interessenabwägung sind die Schutzwürdigkeit des betroffenen Nachbarn, sein Interesse an der Einhaltung der Festsetzungen des Bebauungsplans und damit an einer Verhinderung von Beeinträchtigungen und Nachteilen sowie die Intensität der Beeinträchtigungen einerseits mit den Interessen des Bauherrn an der Erteilung der Befreiung andererseits abzuwägen. Der Nachbar kann umso mehr an Rücksichtnahme verlangen, je empfindlicher seine Stellung durch eine an die Stelle der im Bebauungsplan festgesetzten baulichen Nutzung tretende andersartige Nutzung berührt werden kann. Umgekehrt braucht derjenige, der die Befreiung in Anspruch nehmen will, umso weniger Rücksicht zu nehmen, je verständlicher und unabweisbarer die von ihm verfolgten Interessen sind. Unter welchen Voraussetzungen eine Befreiung Rechte des Nachbarn verletzt, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab. Maßgeblich kommt es darauf an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Geht es wie hier um ein Vorhaben, das von den Festsetzungen des Bebauungsplans abweicht und nur ausnahmsweise über eine Befreiung gem. § 31 Abs. 2 BauGB zulässig sein kann, ist zu berücksichtigen, dass derjenige, der sich auf den Bebauungsplan berufen kann, bei der Interessenabwägung grundsätzlich einen gewissen Vorrang hat.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 6.10.1981 - 4 C 14.87 -, BRS 49 Nr. 188 und vom 23.8.1996 - 4 C 13.94 -, BRS 58 Nr. 159; OVG NRW, Beschluss vom 23.9.2004 - 7 B 1908/04 -.

Bei der Interessenabwägung können u.a. die topografischen Verhältnisse, die Lage der Grundstücke zueinander, die Größe der Grundstücke sowie die Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit bestehender Nutzungen von Bedeutung sein.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29.10.2001 - 10 B 891/01 -, und Urteil vom 18.12.2003 - 10 A 2512/00 -.

In Anwendung dieser Grundsätze und unter Berücksichtigung der von der Berichterstatterin im Ortstermin festgestellten und dem Senat vermittelten örtlichen Verhältnisse stellt sich das Vorhaben der Beigeladenen auf Grund der konkreten Umstände des vorliegenden Falles gegenüber dem Kläger als rücksichtslos dar. Die Hausgruppe, in der sich die Gebäude des Klägers und der Beigeladenen befinden, ist durch eine dichte Baustruktur gekennzeichnet. Bereits aufgrund der Breite der Gebäude bzw. Grundstücke von lediglich 4,75 m und der geringen Größe der rückwärtigen Gartenbereiche der Reihenmittelhäuser von lediglich etwa 40 m² ist die private Wohnsphäre auf ein Mindestmaß beschränkt. Ein kleiner geschützter Außenwohnbereich konnte bislang in der Erdgeschossebene durch die Errichtung von Grenzmauern oder Sichtschutzelementen im Terrassenbereich erreicht werden. Mit der erstmaligen Errichtung eines Balkons über die volle Breite des Obergeschosses und den damit eröffneten Einblickmöglichkeiten wird dieses empfindliche Gefüge des nachbarlichen Nebeneinanders unzumutbar gestört. Zwar müssen in bebauten Bereichen - speziell wenn wie hier eine Hausgruppe errichtet ist - im Allgemeinen Einsichtnahmemöglichkeiten selbstverständlich hingenommen werden; das Rücksichtnahmegebot steht der Errichtung eines Balkons an Reihenhäusern auch nicht schlechthin entgegen.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 2.9.1993 - 10 A 684/89 -.

Schon vor Errichtung des Balkons bestanden Einsichtmöglichkeiten von den Fenstern der Obergeschosse in die benachbarten Gartenbereiche und umgekehrt vom Garten in die Fenster der Obergeschosse der benachbarten Gebäude. Ebenso waren Gebäude und Gärten bereits bisher Einblicken seitens der westlich gelegenen Reihenhauszeile ausgesetzt.

Durch den Balkon der Beigeladenen entsteht jedoch eine neue Qualität von Einsichtnahmemöglichkeiten. Als besonders belastend wirkt es sich aus, dass nun erstmals im Bereich des Obergeschosses eine vor die Gebäuderückseiten vorgelagerte "Aussichtsplattform" geschaffen wird. War zuvor vom Obergeschoss aus nur eine (gegenseitige) Einblicknahme in die benachbarten Gartenbereiche möglich, eröffnet der Balkon nun erstmals auch Einblicke in Richtung der benachbarten Fenster. Dies betrifft im vorliegenden Fall insbesondere das Schlafzimmerfenster des Klägers, das sich lediglich etwa einen Meter vom Balkon der Beigeladenen entfernt befindet. Sich in dem neu geschaffenen Außenwohnbereich der Beigeladenen aufhaltende Personen sind nun für den Kläger gleichsam "zum Greifen" nahe und lassen nicht einmal ein Mindestmaß an privater Wohnsphäre zu. Auch der Terrassenbereich des Klägers, der bislang nur teilweise und lediglich schräg unter Herauslehnen aus dem Fenster der Beigeladenen im Obergeschoss eingesehen werden konnte, kann nun ohne Weiteres vom Balkon aus beobachtet werden. Hinzu kommt die in seiner Eigenschaft als Außenwohnbereich begründete Nutzungsqualität des Balkons. Im Gegensatz zu Fenstern, die regelmäßig nur für (gelegentliche) Ausblicke nach Außen genutzt werden, dient ein Balkon gerade dem ggf. auch länger andauernden Aufenthalt. Diesen erheblichen Beeinträchtigungen stehen keine wesentlich ins Gewicht fallenden schützenswerten Interessen der Beigeladenen gegenüber. Das Einfamilienreihenhaus der Beigeladenen verfügt bereits über eine Terrasse im Erdgeschoss. Das Interesse an der Errichtung eines zusätzlichen Außenwohnbereichs im Obergeschoss hat angesichts dessen zurückzutreten.

Kann die Überschreitung der Baugrenzen durch den Balkon aufgrund des Verstoßes gegen das Rücksichtnahmegebot nicht durch die Erteilung einer Befreiung gem. § 31 Abs. 2 BauGB ausgeräumt werden, ist der Kläger durch das rechtswidrige Vorhaben in seinen Nachbarrechten verletzt.

Vgl. zur Nachbarrechtsverletzung bei fehlender Befreiung: BVerwG, Urteil vom 6.10.1989 - 4 C 14.87 -, BRS 49 Nr. 188.

Dem Vorhaben stehen darüber hinaus nachbarschützende Vorschriften des Bauordnungsrechts entgegen.

Das grenzständig errichtete Vorhaben der Beigeladenen verstößt gegen die Abstandflächenvorschriften des § 6 BauO NRW. Die Einhaltung einer Abstandfläche ist hier nicht nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a) BauO NRW entbehrlich. Nach dieser Vorschrift ist innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche eine Abstandfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an der Nachbargrenze errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften das Gebäude ohne Grenzabstand gebaut werden muss.

Der Senat lässt offen, ob die grenzständige Errichtung auf der Grundlage dieser Regelung bereits deshalb ausscheidet, weil die dem Grundstück des Klägers zugewandte Seite des Balkons keine Außenwand darstellt, die die üblicherweise von grenzständigen oder grenznahen Wänden einzuhaltenden Anforderungen - beispielsweise Ausführung als Gebäudeabschlusswand ohne Öffnungen gem. § 31 BauO NRW - nicht erfüllen kann.

Auf Grund des Vorrangs des Bauplanungsrechts, BVerwG, Beschlüsse vom 11.3.1994 - 4 B 53.94 -, BRS 56 Nr. 65 und vom 18.7.1995 - 4 B 197.94 -, BRS 57 Nr. 131, beurteilt sich die Frage, ob an die Grenze gebaut werden muss, bei Vorliegen eines Bebauungsplans nach dessen Festsetzungen zur Bauweise im Sinne des § 22 BauNVO (1977).

OVG NRW, Beschluss vom 28.2.1991 - 11 B 2967/90 -, NWVBl. 1991, 265 (266).

Nach Planungsrecht muss - abgesehen von dem in § 22 Abs. 3 BauNVO angeführten Ausnahmefall - an die seitlichen Grundstücksgrenzen gebaut werden, wenn in einem Gebiet die geschlossene Bauweise festgesetzt ist oder tatsächlich besteht. Das gleiche gilt in einer abweichenden Bauweise nach § 22 Abs. 4 Satz 1 BauNVO, sofern die Errichtung einer Außenwand an einer Grundstücksgrenze zwingend vorgesehen ist. Ferner muss ein Gebäude dann, wenn Doppelhäuser oder Hausgruppen in einem Gebiet zwingend vorgeschrieben sind (vgl. § 22 Abs. 2 Sätze 2 und 3 BauNVO), bezüglich der "inneren Ordnung" bei Errichtung auf verschiedenen benachbarten Grundstücken an der Grenze errichtet werden. Bei diesen Hausformen handelt es sich zwar um eine Bauform der offenen Bauweise, innerhalb der Gesamtbaukörper müssen aber die selbstständigen Gebäudeeinheiten an eine seitliche Grundstücksgrenze (Doppelhaushälften und Reiheneckhäuser) oder an beide seitlichen Grundstücksgrenzen (Reihenmittelhäuser) gebaut werden.

Vgl. dazu auch BayVGH, Urteil vom 21.7.1997 - 14 B 96.3096 -, BRS 59 Nr. 113.

Der Bebauungsplan Nr. 31, 2. Änderung, sieht für den hier maßgeblichen Bereich offene Bauweise vor. Lediglich aufgrund der zur inneren Gliederung getroffenen Festsetzung "nur Hausgruppen zulässig" sind die innerhalb einer Hausgruppe liegenden Gebäude ohne seitlichen Grenzabstand zu errichten.

Der Balkon der Beigeladenen ist gleichwohl ohne Einhaltung von Abstandflächen unzulässig, da dieser sich teilweise außerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche befindet.

Der Bebauungsplan Nr. 31, 2. Änderung, trifft mit der Festsetzung von Baugrenzen im Sinne von § 23 Abs. 3 Satz 1 BauNVO (1977) u.a. für die Gebäuderückseiten Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche.

Der hier in Rede stehende Balkon der Beigeladenen überschreitet die rückwärtige Baugrenze um etwa einen Meter. Er hält sich nach planungsrechtlichen Grundsätzen nicht mehr innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche, für die die Festsetzung "nur Hausgruppe zulässig" gilt und eine Grenzbebauung als innere Gliederung zwingend erfordert.

Ein Herausschieben der Baugrenze mittels einer Abweichung gem. § 23 Abs. 3 Satz 2 BauNVO (1977) mit der Folge, dass sich im Einzelfall die Festsetzung "Hausgruppe" auf die zusätzlich überbaubare Grundstücksfläche erstreckt und ohne seitlichen Grenzabstand gebaut werden muss, vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 27.3.2003 - 7 B 2212/02 -, BRS 66 Nr. 126; OVG Rh.-Pf., Urteil vom 3.12.1998 - 1 A 11826/98 -; OVG Saarl., Urteil vom 16.2.2001 - 2 Q 15/00 -, BRS 64 Nr. 189; sowie zum definitorischen Charakter der wesensmäßig zu den Begriffen Baulinie und Baugrenze und der überbaubaren Grundstücksfläche gehörenden Abweichungsmöglichkeiten: BVerwG, Urteil vom 27.2.1992 - 4 C 43.87 -, BRS 54 Nr. 60, scheitert hier bereits daran, dass - wie oben bereits ausgeführt - nicht von einem geringfügigen Vortreten auszugehen ist.

Auch im Wege einer Befreiung von den festgesetzten Baugrenzen gem. § 31 Abs. 2 BauGB kann der Grenzanbau des streitgegenständlichen Balkons nicht ermöglicht werden. Zwar erstrecken sich die Festsetzungen zur Bauweise im Fall einer Befreiung in vergleichbarer Weise auf den dadurch zusätzlich überbaubaren Bereich, so dass die Festsetzung "Hausgruppe" eine Pflicht zum Grenzanbau in diesem Bereich begründen würde.

Vgl. dazu auch OVG NRW, Beschluss vom 23.9.2004 - 7 B 1908/04 -.

Eine Befreiung kann jedoch - wie oben bereits dargestellt - unter Würdigung der nachbarlichen Belange nicht rechtmäßig erteilt werden.

Ein Grenzanbau ist auch nicht im Hinblick auf § 6 Abs. 7 BauO NRW als zulässig anzusehen. Denn diese Vorschrift, die regelt, inwieweit unselbstständige Bauteile bei der Bemessung der Abstandflächen außer Betracht bleiben, vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6.12.1985 - 7 B 2402/85 -, BRS 44 Nr. 101, setzt die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit der betreffenden Bauteile gerade voraus.

Vgl. Boeddinghaus/Hahn/Schulte, a.a.O., § 6 Rdnrn. 237 ff.; Gädtke/Temme/Heintz, Landesbauordnung Nordrhein-Westfalen, Kommentar, 10. Aufl. 2003, § 6 Rdnrn. 256, 258.

Dem steht vorliegend der oben festgestellte Verstoß gegen das planungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme entgegen. Im Übrigen scheidet eine Anwendung der Regelung des § 6 Abs. 7 BauO NRW im Hinblick auf das Vortreten vor die Außenwand um mehr als 1,50 m aus.

Die Beigeladenen haben auch keinen Anspruch auf Zulassung einer Abweichung gem. § 73 BauO NRW. Nach dieser Vorschrift kann die Genehmigungsbehörde Abweichungen von bauaufsichtlichen Anforderungen dieses Gesetzes und der aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Vorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind.

Die Zulassung einer Abweichung von Abstandflächenvorschriften kommt nur bei Vorliegen besonderer Umstände in Betracht, weil der Gesetzgeber mit den detaillierten, die gegenläufigen Interessen benachbarter Grundstückseigentümer zum Ausgleich bringenden Regelungen in § 6 BauO NRW bereits abschließende Festlegungen getroffen hat. Vor diesem Hintergrund scheiden Belange des Bauherrn selbst als Gegengewicht grundsätzlich aus.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 28.8.1995 - 7 B 2117/95 - und vom 12.2.1997 - 7 B 2608/96 -.

Aber auch sonst sind hier keine Anhaltspunkte für eine atypische Situation ersichtlich, die von dem Normalfall, von dem die Abstandflächenvorschriften ausgehen, derart abweicht, dass die Festlegungen den Zielsetzungen des Gesetzgebers nicht entsprechen könnten.

Dem Kläger ist das aus § 6 BauO NRW hergeleitete nachbarliche Abwehrrecht auch nicht nach dem Grundsatz von Treu und Glauben abgeschnitten, weil er möglicherweise selbst bauliche Anlagen errichtet hat, die die erforderlichen Grenzabstände nicht einhalten.

Ob der Kläger mit der 2,05 m hohen und 3,20 m langen grenzständigen Mauer im Terrassenbereich zum Grundstück der Beigeladenen die Abstandflächen nicht einhält, kann offen bleiben. Denn selbst wenn die Errichtung nicht mit dem Bebauungsplan und den übrigen baurechtlichen Vorschriften im Einklang stehen sollte, bedeutete dies nicht, dass der Kläger sich überhaupt nicht mehr gegen Verletzungen der Abstandsregelungen durch seinen Nachbarn zur Wehr setzen könnte. Der Kläger muss nicht hinnehmen, dass die Beeinträchtigung durch das Vorhaben der Beigeladenen schwerwiegender auf die nachbarschaftliche Situation einwirkt als dies durch die Nutzung seiner baulichen Anlage mit Unterschreitung der Abstandflächen geschieht. Er wäre nur gehindert, ein Vorhaben zu unterbinden, das in seinen Auswirkungen dem eigenen gleichsteht und unter den Maßstäben des geltenden Rechts in gleicher Weise zu beurteilen ist. Nur insoweit schließt der Grundsatz von Treu und Glauben die Geltendmachung nachbarlicher Abwehrrechte aus. Bei der Bewertung der von einem Baukörper für das Nachbargrundstück ausgehenden Beeinträchtigung ist neben dem konkreten Grenzabstand auch die Qualität der mit der Verletzung der Abstandflächenvorschriften einhergehenden Beeinträchtigungen von wesentlicher Bedeutung.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 24.4.2001 - 10 A 1402/98 -, BauR 2002, 295 ff., Beschlüsse vom 22.7.2004 - 7 A 453/03 - und vom 10.6.2005 - 10 A 3664/03 -.

Mit dem abstandflächenwidrigen Balkon der Beigeladenen wird die Nachbarbebauung des Klägers wesentlich stärker beeinträchtigt als sich die grenzständige Mauer des Klägers auf Grundstück und Bebauung der Beigeladenen auswirkt. Während durch den hier in Rede stehenden Balkon mit der Abstandflächenverletzung erhebliche Einblickmöglichkeiten einhergehen, erschöpfen sich die Auswirkungen der Mauer in einer allenfalls geringfügig erhöhten Verschattungswirkung. Die dadurch verursachte Einschränkung der Belichtung ist kaum wahrnehmbar, zumal die Beigeladenen selbst durch den über der Terrasse liegenden Balkon die Belichtungssituation der Erdgeschossräume zur Gartenseite maßgeblich negativ beeinflussen.

Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass der Beklagte den Beigeladenen die vollständige Beseitigung des rückwärtigen Balkons aufgibt.

Der Beklagte ist gem. § 61 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW zum Einschreiten verpflichtet. Zwar steht es im pflichtgemäßen Ermessen, welche Maßnahmen er treffen will, um die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften durchzusetzen. Das Ermessen des Beklagten ist hier jedoch zugunsten des Klägers dahin gebunden, dass der Beklagte einschreiten muss. Das Entschließungsermessen der Bauaufsichtsbehörde ist in aller Regel auf eine Pflicht zum Einschreiten reduziert, wenn die Baurechtswidrigkeit einer Anlage auf der Verletzung nachbarschützender Vorschriften des öffentlichen Rechts beruht. In solchen Fällen muss dem rechtswidrigen Zustand abgeholfen werden.

Vgl. OVG NRW, Urteile vom 23.4.1982 - 10 A 645/80 -, BRS 39 Nr. 178, vom 17.5.1983 - 7 A 330/81 -, BRS 40 Nr. 191, vom 27.11.1989 - 11 A 195/88 -, BRS 50 Nr. 185, vom 22.1.1996 - 10 A 1464/92 -, BRS 58 Nr. 115, und vom 15.8.1996 - 11 A 850/92 -, BRS 57 Nr. 258.

Zudem steht die Beachtung und Durchsetzung des materiellen Bauplanungsrechts im Rahmen landesrechtlich geregelter Verfahren grundsätzlich nicht zur Disposition des Landesgesetzgebers; dieser ist vielmehr verpflichtet, bundesrechtlichem Bauplanungsrecht zur Durchsetzung zu verhelfen.

BVerwG, Urteil vom 19.12.1985 - 7 C 65.82 -, BVerwGE 72, 300 sowie Beschlüsse vom 17.4.1998 - 4 B 144.97 -, BRS 60, 169, vom 9.2.2000 - 4 B 11.00 -, BRS 63 Nr. 210 und vom 17.12.2003 - 4 B 96.03 -, Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 168.

Gründe, die es dem Beklagten ermöglichen, ausnahmsweise von einem Einschreiten abzusehen, liegen nicht vor.

Die Pflicht des Beklagten zum Einschreiten ist darauf gerichtet, den Beigeladenen die vollständige Entfernung des Balkons aufzugeben, weil sich allein die gesamte Beseitigung als ermessensfehlerfrei darstellt. Der Rückbau auf ein die Abstandflächen und Baugrenzen einhaltendes sowie das Gebot der Rücksichtnahme wahrendes Maß ist kein milderes Mittel, das der Beklagte den Beigeladenen anstelle des vollständigen Abrisses aufgeben könnte. Eine solche Wahl scheidet aus Rechtsgründen aus, weil verschiedene Möglichkeiten des Rückbaus denkbar sind und dem Bauherrn nicht eine bestimmte Form des Gebäudes aufgedrängt werden darf.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22.1.1996 - 10 A 1464/92 -, BRS 58 Nr. 115, Beschluss vom 18.3.1997 - 10 A 853/93 -, BRS 59 Nr. 209 und Urteil vom 13.10.1999 - 7 A 998/99 -.

Den Beigeladenen bleibt die Möglichkeit, nach Erlass der Ordnungsverfügung als Austauschmittel gemäß § 21 Satz 2 OBG NRW den Rückbau des Balkons auf ein zulässiges Maß anzubieten.

Die Kläger können statt des Abbruchs auch nicht auf eine Nutzungsuntersagung verwiesen werden. Mit einer Nutzungsuntersagung kann weder die Überschreitung der Baugrenzen beseitigt noch der Abstandflächenverstoß ausgeräumt werden.

Ende der Entscheidung

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