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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 10.06.2005
Aktenzeichen: 10 A 3664/03
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 242
1. Öffentlich-rechtliche Abwehrrechte eines Nachbarn können nicht allein durch Zeitablauf verwirkt werden (wie BVerwG, Beschluss vom 16.4.2002 - 4 B 8.02 -, BRS 65 Nr. 195). Die Verwirkung setzt vielmehr eine das Vertrauen des Bauherrn darauf, der Nachbar werde sein Abwehrrecht nicht mehr geltend machen, begründende Untätigkeit sowie ein sich hierauf einstellendes Verhalten des Bauherrn voraus.

2. Ist der Verlauf der richtigen Grenze in der Örtlichkeit unklar, fällt es in den Risikobereich des Eigentümers, wenn er seinem Bauvorhaben ohne vorherige amtliche Vermessung einen für ihn günstigen Verlauf der Grenze zu Grunde legt und infolgedessen die erforderlichen Grenzabstände nicht einhält. Der Nachbar handelt nicht treuwidrig, wenn er in einer solchen Situation seine Rechte erst nach längerem Zeitablauf geltend macht.


Tatbestand:

Der Kläger wandte sich etwa 13 Monate nach Rohbauabnahme und etwa 10 Monate nach Schlussabnahme an die Bauaufsichtsbehörde mit dem Begehren, gegen ein von seinem Nachbarn errichtetes Garagen- und Stallgebäude durch Erlass einer Abbruchverfügung einzuschreiten. Dem Nachbarn war zuvor eine Baugenehmigung erteilt worden; allerdings war der Grenzverlauf teilweise unklar, ohne dass eine amtliche Einmessung des Vorhabens stattgefunden hätte. Das tatsächlich errichtete Gebäude war um einen Meter länger als das genehmigte Vorhaben und hielt zur Grundstücksgrenze lediglich einen Abstand von etwa 2,50 m statt wie genehmigt von 3,00 m ein. Der beigeladene Bauherr berief sich zur Rechtfertigung der Abstandflächenverletzung auf eine Erklärung des Klägers von 1958 und rügte, dass dieser sein Abwehrrecht verwirkt habe. Das VG verpflichtete die beklagte Behörde zum Einschreiten; der Antrag auf Zulassung der Berufung blieb erfolglos.

Gründe:

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung des VG (Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen auf Grund des Antragsvorbringens nicht.

Das VG hat im Ergebnis zutreffend angenommen, dass das betroffene Gebäude formell und materiell illegal errichtet worden und nicht genehmigungsfähig ist. Die erteilte Baugenehmigung war inhaltlich eindeutig und erlaubte die Errichtung eines Gebäudes in den Maßen 4,99 m x 5,99 m und in einem Grenzabstand von 3 m. Das tatsächlich errichtete Gebäude weist demgegenüber Maße von etwa 5 m x 7 m und einen Grenzabstand von 2,52 m auf und stellt damit ein Aliud dar, das weder von der erteilten Baugenehmigung gedeckt ist noch dem materiellen Bauordnungsrecht (§ 6 Abs. 5 Satz 5 BauO NRW) entspricht. Die erteilte Baugenehmigung ist, wie das VG zutreffend ausgeführt hat, erloschen (§ 77 BauO NRW), weil der Beigeladene mit der Errichtung des genehmigten Bauwerks nicht begonnen, sondern ein anderes errichtet hat. Das errichtete Gebäude ist wegen des Abstandflächenverstoßes ohne Mitwirkung des Klägers - etwa durch Erteilung einer Baulast - auch nicht genehmigungsfähig, so dass die von der Antragsbegründung aufgeworfene Frage der planungsrechtlichen Zulässigkeit offen bleiben kann. Auch auf die Frage einer Nichtigkeit der Baugenehmigung kommt es vor diesem Hintergrund entgegen der Rechtsansicht des Beigeladenen nicht an.

Die Rüge des Beigeladenen, der Kläger sei unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens nach Treu und Glauben an einer Geltendmachung von Abwehrrechten gehindert, führt gleichfalls nicht zur Annahme ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils und damit zur Zulassung der Berufung. In diesem Zusammenhang verweist die Antragsbegründung auf eine vom Kläger am 14.4.1958 unterzeichnete "Bescheinigung", wonach der "Bauschuppen" des Rechtsvorgängers des Beigeladenen "in der jetzigen Lage 1 Meter von meiner Grenze entfernt stehen bleiben und beziehungsweise verlängert werden kann."

Die Annahme, diese Erklärung drücke ein Einverständnis auch mit dem streitbefangenen Bauvorhaben aus, ist abwegig. Es ist schon unzutreffend, dass sich die Erklärung, wie die Antragsbegründung ausdrücklich ausführt, überhaupt auf ein Stallgebäude erstreckt. Nach ihrem Wortlaut erstreckt sie sich auf einen Bauschuppen, also auf ein zur Lagerung von Baumaterialien und -geräten bestimmtes und nicht auf ein zur Tierhaltung genutztes und mit entsprechenden Emissionen verbundenes Gebäude; eine Baugenehmigung für ein auch als Stall nutzbares Gebäude wurde dem Vater des Beigeladenen erst im Juli 1964 erteilt. Schon deshalb kann von einem aktiven Verhalten des Klägers zur Billigung des streitbefangenen Vorhabens nicht die Rede sein, so dass es auf die vom VG zu Recht verneinte Frage nicht mehr ankommt, ob die - vor Inkrafttreten der BauO NRW unterzeichnete - "Bescheinigung" auch die vierzig Jahre später erfolgte Verdoppelung der Grundfläche unter Nichteinhaltung der erforderlichen Abstandfläche noch umfasst.

Schließlich hat der Kläger sein nachbarliches Abwehrrecht nicht verwirkt, so dass eine Zulassung der Berufung auch unter diesem Aspekt ausscheidet. In Betracht kommt im Hinblick auf die formelle Illegalität des streitbefangenen Gebäudes lediglich die Verwirkung des materiellrechtlichen Abwehrrechts. Allerdings können öffentlich-rechtliche Abwehrrechte eines Nachbarn nicht allein durch Zeitablauf verwirkt werden.

BVerwG, Beschluss vom 16.4.2002 - 4 B 8.02 -, BRS 65 Nr. 195.

Voraussetzung für eine Verwirkung ist vielmehr nach der ständigen Rechtsprechung des Senats in Übereinstimmung mit der - allerdings zur Verwirkung bundesrechtlich geregelter Abwehrrechte ergangenen - Rechtsprechung des BVerwG eine Untätigkeit des Nachbarn, die ein Vertrauen des Bauherrn darauf rechtfertigt, der Nachbar werde das ihm eigentlich zustehende Abwehrrecht nicht mehr geltend machen (Vertrauensgrundlage), sowie ein sich hierauf einstellendes Verhalten des Bauherrn (Vertrauenstatbestand). Für das Merkmal der Treuwidrigkeit, das für den Rechtsverlust durch Verwirkung konstitutiv ist, bedarf es also neben dem Zeitablauf einer kausalen Verknüpfung des Verhaltens des Nachbarn einerseits mit demjenigen des Bauherrn andererseits. Wann eine Verwirkung in diesem Sinne anzunehmen ist, hängt maßgeblich von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles ab; die Verwirkung als Grundlage für einen Rechtsverlust des Nachbarn trotz fortdauernder Rechtswidrigkeit und ggf. beeinträchtigender Wirkung einer baulichen Anlage kann allerdings nur in Ausnahmefällen angenommen werden.

OVG NRW, Urteil vom 24.4.2001 - 10 A 1402/98 -; Urteil vom 2.3.1999 - 10 A 2343/97 -; Urteil vom 20.3.1997 - 10 A 4965/96 - (Einschreiten der Nachbarn erst 2 Jahre nach Rohbaufertigstellung bzw. 20 Monate nach Fertigstellung als Fall der Verwirkung); BVerwG, Urteil vom 16.5.1991 - 4 C 4.89 -, BRS 52 Nr. 218; vgl. auch Hahn / Schulte, öffentlich-rechtliches Baunachbarrecht, 1998, Rn. 416ff.

Danach war im vorliegenden Fall zum Zeitpunkt des ersten anwaltlichen Schreibens von Seiten des Klägers eine Verwirkung des materiellrechtlichen Abwehrrechts - noch - nicht eingetreten. Der Kläger hat sich etwa 10 Monate nach Schlussabnahme und etwas mehr als 13 Monate nach Rohbauabnahme erstmals gegen das Vorhaben gewandt. Eine treuwidrige Untätigkeit liegt darin im Hinblick auf die Besonderheiten des vorliegenden Falles nicht; auch ist nicht zu erkennen, dass sich der Beigeladene infolge der Untätigkeit des Klägers darauf einstellen durfte, die nach Fertigstellung des Rohbaus oder gar die gegen Ende der Bauzeit noch ausstehenden Investitionen zu tätigen, ohne Widerstand des Klägers gewärtigen zu müssen. Denn der Kläger durfte zunächst davon ausgehen, dass der behördlich genehmigte Anbau die erforderlichen Grenzabstände einhalten würde, da der Anbau an das vorhandene Gebäude jedenfalls einen deutlichen Rücksprung gegenüber dem grenznah errichteten Garagen- und Stallgebäude aufwies. Der Umstand, dass die unter dem 28.8.1998 erteilte Baugenehmigung tatsächlich einen - vom Beigeladenen nicht eingehaltenen - Grenzabstand des Bauvorhabens von 3 m vorsah, bestätigt diese Einschätzung. Umgekehrt musste dem Beigeladenen als Bauherrn klar sein, dass ein Zurückweichen des Neubaus gegenüber dem Altbestand um einen Meter zur Wahrung der Grenzabstände nicht ausreichen würde, da der Altbestand nach der Baugenehmigung vom 14.7.1964 nur einen Grenzabstand von 1,50 m aufwies. Im Hinblick auf den unklaren Grenzverlauf war es vor diesem Hintergrund für den Kläger zunächst kaum erkennbar, dass die sich über neun Monate hinziehenden Bauarbeiten zu einem formell und materiell illegalen Baukörper führten, gegen den er als Nachbar einschreiten konnte. Infolgedessen liegt in seinem Zuwarten keine treuwidrige Untätigkeit, die Grundlage für eine Verwirkung hätte sein können.

Ende der Entscheidung

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