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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 21.02.2005
Aktenzeichen: 10 B 1269/04
Rechtsgebiete: BauGB, BauNVO
Vorschriften:
BauGB § 30 Abs. 1 | |
BauNVO § 15 Abs. 1 |
2. Ein Bauvorhaben kann daher wegen seiner Lage oder seines Umfangs nur dann als planungsrechtlich rücksichtslos unzulässig sein, wenn die quantitativen Dimensionen des Vorhabens derart aus dem Rahmen fallen, dass eine in dem Baugebiet in seiner konkreten Ausgestaltung unzumutbare Qualität im Hinblick auf die Art der baulichen Nutzung erreicht wird.
Tatbestand:
Die Antragsteller wenden sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Wohn- und Geschäftshauses. Geplant ist ein mehrgeschossiges Gebäude, das im Erdgeschoss gewerblich und im Übrigen zu Wohnzwecken (vier Wohnungen) genutzt werden soll. Die Antragsteller sind Eigentümer des nordwestlich angrenzenden, mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks. Beide Grundstücke befinden sich im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 5379/47 und unterliegen der Festsetzung als Besonderes Wohngebiet in geschlossener Bauweise mit höchstens vier Vollgeschossen. Zudem sind eine straßenseitige Baulinie und eine rückwärtige Baugrenze festgesetzt, so dass sich eine geschlossene Blockrandbebauung ergibt. Dies führt dazu, dass auf dem Grundstück der Antragsteller zwischen beiden seitlichen Grundstücksgrenzen ein 15 m tiefes Baufenster besteht, während das Grundstück des Beigeladenen - von den zwischen Straßenbegrenzungslinie und vorderer Baulinie liegenden Flächen abgesehen - vollständig bebaubar ist.
Die Antragsteller haben Widerspruch und inzwischen Anfechtungsklage gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 16.12.2003 mit Nachtrag vom 22.7.2004 erhoben. Ihren Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wies das VG ab. Die Beschwerde hatte keinen Erfolg.
Gründe:
Die Antragsteller beanstanden, dass das Bauvorhaben des Beigeladenen zum einen etwa 5 m höher ist als ihr Wohnhaus und dass es zum anderen - was die gemeinsame Grenzbebauung angeht - die Bautiefe ihres Wohnhauses nicht aufnimmt, sondern dieses zunächst ohne Grenzabstand um 2,80 m in der Tiefe überragt und erst dann seitlich um 3 m Meter von der Grenze zurückgesetzt ist. Die dem Grundstück der Antragsteller zugewandte Außenwand wird demgemäß auf einer Länge von 2,80 m bis zum Schnittpunkt der hinteren Baugrenzen ohne Grenzabstand errichtet und hält erst im Anschluss an dieses Teilstück auf einer Länge von 6,20 m einen Grenzabstand ein. Die Antragsteller halten die Ausnutzung des Baugrundstücks in diesem Umfang für einen Verstoß gegen das planungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme, weil der durch ihr Wohnhaus vorgegebene Rahmen überschritten werde und es zu einer Verschattung ihrer gartenseitigen Fenster durch den ohne Grenzabstand errichteten Teil des Bauvorhabens komme. Diese Rechtsauffassung trifft jedoch nicht zu, so dass die Beschwerde nicht zu einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung der inzwischen erhobenen Anfechtungsklage gegen die erteilte Baugenehmigung führen kann.
Nach § 30 Abs. 1 BauGB ist im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans ein Bauvorhaben zulässig, wenn es den Festsetzungen des Plans nicht widerspricht und die Erschließung gesichert ist. Ein nachbarlicher Abwehranspruch gegen eine mit den Planfestsetzungen übereinstimmende Baugenehmigung unter Berufung auf das Gebot der Rücksichtnahme besteht im Allgemeinen nicht, weil dieses bereits in den einen rechtsgültigen Bebauungsplan voraussetzenden Abwägungsvorgang eingeflossen sein muss, wodurch es gewissermaßen "aufgezehrt" wird. Lediglich im Einzelfall können bauliche Anlagen trotz Übereinstimmung mit den Planfestsetzungen unzulässig sein, wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen oder wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets unzumutbar sind. Das dergestalt in § 15 Abs. 1 BauNVO geregelte planungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme, vgl. grundsätzlich, auch zur drittschützenden Wirkung, BVerwG, Urteil vom 5.8.1983 - 4 C 96.79 - , BRS 40 Nr. 4, Beschlüsse vom 27.12.1984 - 4 B 278.84 - , BRS 42 Nr. 183 und vom 11.7.1983 - 4 B 123.83 - , Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 54; Hahn/Schulte, Öffentlich-rechtliches Baunachbarrecht, Rn. 125 ff. bietet jedoch keine Grundlage zu einer einengenden Ergänzung sämtlicher Festsetzungen eines Bebauungsplans, sondern bezieht sich unter Ausschluss der Maßfestsetzungen lediglich auf die Auswirkungen baulicher oder sonstiger Anlagen im Sinne der §§ 2 bis 14 BauNVO auf die Art der baulichen Nutzung im Plangebiet. Denn das Regelungsziel des § 15 BauNVO ist es, allgemeine Voraussetzungen für die Zulässigkeit baulicher Anlagen im Plangebiet und ihre Vereinbarkeit mit dem festgesetzten Gebietscharakter zu schaffen.
BVerwG, Urteile vom 16.3.1995 - 4 C 3.94 -, BRS 57 Nr. 175 m.w.N. und vom 7.12.2000 - 4 C 3.00 -, BRS 63 Nr. 160 (zum Verhältnis zu bauordnungsrechtlichen Stellplatzregelungen); König/Roeser/ Stock, BauNVO, 2. Aufl., § 15 Rn. 8; Reidt, in: Gelzer/ Bracher/Reidt, Bauplanungsrecht, 7. Aufl., Rn. 1236.
Insoweit unterscheidet sich die Reichweite des Rücksichtnahmegebots im Anwendungsbereich des § 30 Abs. 1 BauGB von seiner alle Elemente des Einfügens umfassenden Anwendung im Rahmen des § 34 Abs. 1 BauGB: Im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans kann eine die Nachbarn beeinträchtigende Lage eines Baukörpers ebenso wie ein übermäßiger Umfang nur dann als planungsrechtlich rücksichtslos unzulässig sein, wenn die quantitativen Dimensionen des Vorhabens derart aus dem Rahmen fallen, dass eine in dem Baugebiet in seiner konkreten Ausgestaltung unzumutbare Qualität der Nutzung erreicht wird, etwa weil die noch zumutbare Betriebsgröße überschritten wird oder das Vorhaben Ziel- und Quellverkehr einer nicht mehr baugebietsverträglichen Intensität auslöst. Wird in einem derartigen Fall die Schwelle eines solchen Umschlagens von Quantität in Qualität hingegen nicht überschritten, führt § 15 BauNVO nicht zur Unzulässigkeit eines Bauvorhabens.
Vgl. die Auseinandersetzung mit BVerwG, Urteil vom 5.8.1983 - 4 C 96.79 - , BRS 40 Nr. 4 (dort insbesondere die Ausführungen S. 10f. zur Ausnutzung eines Grundstücks durch grenznahe Hinterlandbebauung), in dem Urteil vom 16.3.1995 - 4 C 3.94 - , BRS 57 Nr. 175, 423 f.; zum Rücksichtnahmegebot im Anwendungsbereich des § 34 Abs. 1 BauGB BVerwG, Beschluss vom 11.1.1999 - 4 B 128.98 - , BRS 62 Nr. 102; im Verhältnis zum bauordnungsrechtlichen Abstandflächenrecht OVG NRW, Urteil vom 13.12.1995 - 7 A 159/94 - , BRS 57 Nr. 137, Beschluss vom 15.5.2002 - 7 B 558/02 - .
Gemessen an diesen Grundsätzen stellt sich das Vorhaben des Beigeladenen nicht als planungsrechtlich rücksichtslos dar. Es hält - was die Beschwerde nicht bestreitet - die Festsetzungen des Bebauungsplans zur Art und zum Maß der baulichen Nutzung ein. Dies trifft insbesondere auch auf die in einer Länge von 2,80 m unmittelbar entlang der Grundstücksgrenze zum Grundstück der Antragsteller verlaufende Außenwand des Vorhabens zu, die jedenfalls bis zu der hinteren Baugrenze wegen der festgesetzten geschlossenen Bauweise grenzständig errichtet werden muss; die auf dem Grundstück der Antragsteller vorhandene Bebauung erfordert eine Abweichung nicht (§ 22 Abs. 3 BauNVO). Auch überschreitet das Vorhaben die festgesetzte Höchstzahl von vier Vollgeschossen nicht. Mit diesem Bauvolumen erreicht es jedoch keinen derart großen Umfang, dass die dadurch ermöglichte Nutzung des Gebäudes ihrer Art nach in dem Plangebiet nicht mehr zumutbar wäre; die Nutzung durch eine Gewerbeeinheit und vier Wohnungen überschreitet den durch die Festsetzungen und ihre tatsächliche Ausnutzung gezogenen Rahmen nicht einmal ansatzweise.
Dieser Rahmen wird durch das Gebäude auf dem Grundstück der Antragsteller entgegen der Annahme der Beschwerde nicht maßgeblich beeinflusst. Denn das Wohnhaus der Antragsteller schöpft weder hinsichtlich der Bauhöhe - zulässig sind vier Vollgeschosse - noch hinsichtlich der Bautiefe - es bleibt gegenüber der hinteren Baugrenze um 2,80 m zurück - die durch den Bebauungsplan festgesetzten Baumöglichkeiten aus, so dass sein Bauvolumen deutlich geringer ist als dasjenige der nordwestlich sich anschließenden Nachbarbebauung. Der Umstand, dass die vorhandene Bebauung die planerischen Maßfestsetzungen nicht ausschöpft, führt jedoch nicht dazu, dass ein Bauvorhaben, welches die festgesetzten Möglichkeiten in vollem Umfang nutzt, unter Berufung auf § 15 BauNVO als rücksichtslos eingestuft werden könnte.
BVerwG, Urteil vom 16.3.1995 - 4 C 3.94 - , a.a.O., 423.
§ 15 BauNVO gebietet es daher im vorliegenden Fall nicht, auf eine Ausnutzung der festgesetzten Baugrenze zu verzichten und das Bauvorhaben hinsichtlich der Bautiefe und -höhe an das Wohnhaus der Antragsteller anzupassen. Denkbare Einschränkungen hinsichtlich der Belichtung gartenseitiger Räume auf dem Grundstück der Antragsteller müssen diese hinnehmen.
Ende der Entscheidung
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