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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 22.03.2002
Aktenzeichen: 10 B 201/02
Rechtsgebiete: BauO NRW


Vorschriften:

BauO NRW § 6 Abs. 5 Satz 1
Den Baugebietsbegriffen des § 6 Abs. 5 Satz 1 BauO NRW, die den jeweiligen Baugebieten der Baunutzungsverordnung entsprechen, können grundsätzlich auch vor Inkrafttreten der Baunutzungsverordnung festgesetzte Baugebiete unterfallen, deren Bezeichnungen mit den Baugebietstypen der Baunutzungsverordnung nicht übereinstimmen. Voraussetzung dafür ist, dass das in einem übergeleiteten Bebauungsplan festgesetzte Baugebiet (hier "D1-Gebiet - Sondergeschäftsgebiet") nach der Art der zugelassenen baulichen Nutzung im Wesentlichen einem Baugebietstyp der Baunutzungsverordnung (hier "Kerngebiet") entspricht.
Gründe:

Bei der nach §§ 80 a Abs. 3, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt das Interesse der Beigeladenen an der vorläufigen Ausnutzung der angegriffenen Baugenehmigungen das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin. Nach summarischer Prüfung der im Beschwerdeverfahren dargelegten Gründe, § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO, verletzen die Baugenehmigungen keine Nachbarrechte der Antragstellerin. Der im Beschwerdeverfahren allein gerügte Verstoß der Baugenehmigungen gegen die nachbarschützende Bestimmung des § 6 BauO NRW ist nicht gegeben.

Ein Abstandflächenverstoß liegt nicht vor, weil die Tiefe der Abstandfläche nach § 6 Abs. 5 Satz 1 2. Spiegelstrich BauO NRW zu bestimmen ist. Nach dieser Regelung beträgt die Tiefe der Abstandfläche 0,5 H in Kerngebieten, Gewerbegebieten und Industriegebieten. Entgegen der Ansicht der Antragstellerin ist die ansonsten nach § 6 Abs. 5 Satz 1 1. Spiegelstrich BauO NRW grundsätzlich größere Tiefe der Abstandfläche von 0,8 H hier nicht einzuhalten. § 6 Abs. 5 Satz 1 2. Spiegelstrich BauO NRW kommt hier nämlich zur Anwendung, weil das im maßgeblichen Durchführungsplan der Stadtgemeinde D. (Beschluss vom 25.9.1961) festgesetzte "D 1-Gebiet (Sondergeschäftsgebiet)" im Wesentlichen einem Kerngebiet im Sinne von § 6 Abs. 5 Satz 1 2. Spiegelstrich BauO NRW entspricht. Die Bauordnung NRW enthält zwar keine Definition der in § 6 Abs. 5 BauO NRW (und ebenso der in § 13 Abs. 4 BauO NRW) aufgeführten Baugebietstypen, deren Bezeichnungen mit denen der Baugebietstypen der Baunutzungsverordnung identisch sind. Insoweit muss aber grundsätzlich auf die planungsrechtlichen Gebietsdefinitionen nach der Baunutzungsverordnung zurückgegriffen werden.

Vgl. OVG NRW, Urteile vom 21.12.1962 - VII A 1008/61 -, OVGE 18, 198, 202 f., und vom 25.8.1972 - XI A 394/70 -, BRS 25 Nr. 128 (jeweils zu § 15 Abs. 4 BauO NW 1962 = § 13 Abs. 4 BauO NRW 2000); OVG NRW, Urteil vom 5.2.1998 - 10 A 6361/95 -, BRS 60 Nr. 110 = NWVBl. 1998, 321 (zu § 6 Abs. 5 BauO NRW); Boeddinghaus/Hahn/Schulte, Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, Stand: 1.10.2001, § 6 Rn. 154 und § 13 Rn. 60; vgl. auch LT-Drs. 7/1075, S. 37 f. (zu § 15 Abs. 4 BauO NRW), denen jedoch insowiet keine abschließende Bedeutung zukommt. Neben den unter der Geltung der verschiedenen Fassungen der Baunutzungsverordnung aufgestellten Bebauungsplänen gelten nach § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 auch die bei Inkrafttreten des BBauG 1960 bereits bestehenden städtebaulichen Pläne als Bebauungspläne fort, soweit sie verbindliche Regelungen der in § 9 BBauG 1960 bezeichneten Art enthalten. Ob in solchen Plänen etwa festgesetzte Baugebiete mit denen der Baunutzungsverordnung nach Bezeichnung und Nutzungsstruktur identisch sind, ist für deren Fortgeltung unerheblich. Misst der Gesetzgeber damit auch Plänen mit von der Baunutzungsverordnung abweichenden Plangebietsfestsetzungen städtebaulich prägende und die bauliche Nutzung von Grundstücken bestimmende Bedeutung bei, so muss dem bei der Auslegung des § 6 Abs. 5 Satz 1 BauO NRW (ebenso wie bei der Auslegung des § 13 Abs. 4 BauO NRW) Rechnung getragen werden.

Vgl. Gädtke/Böckenförde/Temme/Heinz/Krebs, BauO NRW Kommentar, 9. Auflage 1998, § 13 Rn. 190; Rößler, BauO NRW Kommentar, 3. Auflage 1985, § 13 Anm. 4 c; vgl. zum nachbarlichen Drittschutz von Gebietsfestsetzungen in übergeleiteten Baustufenplänen: BVerwG, Urteil vom 23.8.1996 - 4 C 13.94 -, BRS 58 Nr. 159; vgl. ferner OVG NRW, Urteil vom 21.12.1962, a.a.O., 202 f.

Allein dieses Gesetzesverständnis führt zu sachgerechten Ergebnissen. Wollte man nämlich im Rahmen des § 6 Abs. 5 Satz 1 2. Spiegelstrich, Sätze 2 und 3 BauO NRW nur auf Baugebiete nach der Baunutzungsverordnung abstellen, so wäre in davon abweichenden Baugebieten wegen der Grundregel des § 6 Abs. 5 Satz 1 1. Spiegelstrich BauO NRW stets eine Tiefe der Abstandfläche von 0,8 H unabhängig davon maßgeblich, ob die tatsächliche bauliche Nutzung die damit bezweckte Tagesbelichtung überhaupt erfordert. Diese Sichtweise verfehlte Sinn und Zweck des § 6 Abs. 5 BauO NRW. Demzufolge ist darauf abzustellen, welchem Baugebietstyp der Baunutzungsverordnung das in einem übergeleiteten Bebauungsplan festgesetzte Baugebiet nach der Art der zugelassenen baulichen Nutzung (weitgehend) entspricht.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 21.12.1962, a.a.O., 202 f.; Gädtke/Böckenförde/Temme/Heinz/ Krebs, a.a.O., § 13 Rn. 119; Rößler, a.a.O., § 13 Anm. 4 c.

Das im hier maßgeblichen Durchführungsplan der Stadtgemeinde D. festgesetzte "D1-Gebiet (Sondergeschäftsgebiet)" entspricht weitgehend dem in § 6 Abs. 5 Satz 1 2. Spiegelstrich BauO NRW aufgeführten Kerngebiet.

Vgl. Fickert/Fieseler, BauNVO, 1. Auflage 1969, § 7 Rn. 102 (Geschäftsgebiete im Sinne des § 1 BauRegVO vom 15.2.1936 - RGBl. I S. 104 - entsprechen im Wesentlichen den Kerngebieten der BauNVO).

Nach den textlichen Festsetzungen des Durchführungsplans sind im D1-Gebiet zulässig Bürohäuser, bauliche Anlagen für Verwaltungen, soziale und kulturelle Zwecke und für freie Berufe sowie Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen. Ausnahmsweise können zugelassen werden zusätzliche Wohnungen, Geschäfte für örtlichen Bedarf, Gaststätten und Fremdenheime. Damit sind Wohnungen, auf deren ausreichende Belichtung es im Rahmen des § 6 Abs. 5 BauO NRW in erster Linie ankommt, vgl. Boeddinghaus/Hahn/Schulte, a.a.O., § 6 Rn. 166 ff., noch stärker eingeschränkt als im Kerngebiet (§ 7 Abs. 2 Nrn. 6 und 7 BauNVO) nur für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen allgemein und ansonsten - ebenso wie im Kerngebiet (§§ 7 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO) - nur ausnahmsweise zulässig. Die nach dem Durchführungsplan allgemein zulässigen baulichen Nutzungen sind nach § 7 Abs. 1 Nrn. 1, 4 und 6 und § 13 BauNVO auch im Kerngebiet allgemein zulässig. Geschäfte, Gaststätten und Fremdenheime, die der Durchführungsplan nur ausnahmsweise zulässt, sind im Kerngebiet sogar allgemein zulässig (§ 7 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 BauNVO). Damit entspricht die festgesetzte Nutzungsstruktur des Plangebiets weitgehend der eines Kerngebiets. Von der des Mischgebiets, für das nach § 6 Abs. 5 Satz 1 1. Spiegelstrich BauO NRW das Maß 0,8 H gilt und das nach § 6 Abs. 1 BauNVO durch ein gleichgewichtiges Nebeneinander von Wohnnutzung und das Wohnen nicht wesentlich störenden Gewerbebetrieben gekennzeichnet wird, unterscheidet sie sich dagegen maßgeblich, weil dem Wohnen nach dem Durchführungsplan nur untergeordnete Bedeutung zukommt.

Bedenken gegen die Wirksamkeit der Festsetzung "D1-Gebiet" (Sondergeschäftsgebiet) bestehen nach summarischer Prüfung nicht. Der Durchführungsplan der Stadtgemeinde D. dürfte als Bebauungsplan fortgelten. Gemäß § 174 Abs. 1 Satz 1 BBauG 1960 wurden eingeleitete Verfahren zur Aufstellung verbindlicher städtebaulicher Planungen nach den bisherigen Vorschriften weitergeführt, wenn die Pläne bei dem Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes 1960 bereits ausgelegt waren. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Durchführungsplan ist auf Grund des Aufbaugesetzes (GV.NRW.1952 S. 75) erstellt und in der Zeit vom 15.5.1961 bis zum 12.6.1961 ausgelegt worden. Die Auslegung erfolgte damit vor dem - maßgeblichen - Inkrafttreten der Vorschriften des Ersten bis Dritten Teils des Bundesbaugesetzes, dem 30.6.1961, § 189 Abs. 1 BBauG 1960.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 8.5.1967 - X A 553/65 -, OVGE 23, 183 f.; Heitzer/Oestreicher, BBauG, 7. Auflage 1980, § 174 Anmerkung 1 a (29.6.1961).

Eine Rechtsverordnung der Landesregierung Nordrhein-Westfalen die gemäß § 174 Abs. 1 Satz 2 BBauG 1960 die Weiterführung solcher Verfahren nach den Vorschriften des BBauG hätte bestimmen können, ist nicht ergangen. Der danach in Anwendung alten Rechts fertig gestellte Plan, der verbindliche Regelungen der in § 9 BBauG 1960 bezeichneten Art enthält, gilt auf Grund der entsprechend anzuwenden Überleitungsvorschrift des § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 als Bebauungsplan fort.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 8.5.1967 - X A 553/65 -, a.a.O.

Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ist, wie der Senat wiederholt entschieden hat, vgl. etwa Beschlüsse vom 7.11.1995 - 10 B 2132/95 -, m.w.N., sowie vom 28.11.2000 - 10 B 1428/00 -, BRS 63 Nr. 70 (insoweit nicht abgedruckt) = BauR 2001, 906 ff., regelmäßig von der Gültigkeit eines Bebauungsplans auszugehen, es sei denn, die Fehlerhaftigkeit des Plans drängt sich als offensichtlich auf. Dementsprechende offensichtliche Fehler des Plans werden in der Beschwerdeschrift nicht dargelegt und sind auch sonst nicht ersichtlich. Insbesondere ist die Festsetzung "Sondergeschäftsgebiet", deren Wirksamkeit das VG bezweifelt, nicht offensichtlich fehlerhaft. Sie stützt sich auf § 10 Abs. 2 c) Aufbaugesetz, nach dem der Durchführungsplan die Nutzungsart der Bauflächen darstellt. Auf Gebietscharakterisierungen, wie sie heute die Baunutzungsverordnung vornimmt und wie sie damals etwa in der Baupolizeiverordnung für den Regierungsbezirk D. vom 1.4.1939 (BPVO) enthalten sind, verzichtet das Aufbaugesetz.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 16.2.1987 - 7 A 1208/85 -; Beschluss vom 18.12.1991 - 7 B 3251/91 -.

§ 10 Abs. 2 c) Aufbaugesetz beschränkt den Durchführungsplan deshalb im Gegensatz zu anderen Bauvorschriften nicht auf die Unterteilung in Wohngebiete, Gewerbegebiete, Mischgebiete usw., sondern lässt die Festlegung auch noch speziellerer Nutzungsarten zu.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 27.5.1958 - VII A 1140/56 -, OVGE 16, 283 ff.

Es spricht deshalb einiges dafür, dass der Plangeber bei der Darstellung der Nutzungsart der Baufläche nicht an die Baugebietstypen des § 7 I B Nr. 3 a) bis e) BPVO gebunden war, zu denen das Geschäftsgebiet, nicht aber das Sondergeschäftsgebiet zählte (§ 7 I B Nr. 3 c) BPVO).

So aber wohl Ernst, Kommentar zum Aufbaugesetz von Nordrhein-Westfalen, 3. Auflage 1955, § 10 Anmerkung I.

Denn das Aufbaugesetz als Ermächtigungsgrundlage des Durchführungsplans ging der BPVO im Range jedenfalls vor. Abgesehen davon konnte von einer Überordnung des "übergebietlichen" staatlichen Rechts über das kommunale örtliche Recht keine Rede mehr sein, nachdem das Ordnungsbehördengesetz NRW diesem örtlichen Recht auf dem Gebiet der Ordnungsverwaltung die Eigenschaft als Regelung einer rein staatlichen Angelegenheit genommen hatte und nach dem Willen des Gesetzgebers den Charakter einer reinen Selbstverwaltungsangelegenheit verleihen wollte.

vgl. OVG NRW, Urteil vom 27.5.1958 - VII A 1140/56 -, a.a.O.

Nach alledem kann offenbleiben, ob die Antragstellerin sich auf einen - unterstellten - Abstandflächenverstoß überhaupt berufen könnte, weil sie - nach dem unwidersprochenen Vortrag des Antragsgegners im parallelen Klageverfahren - bei Zugrundelegung einer Tiefe der Abstandfläche von 0,8 H ihrerseits die erforderliche Abstandfläche zum Bauvorhaben der Beigeladenen nicht einhält.

Ende der Entscheidung

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