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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 02.03.2007
Aktenzeichen: 10 B 275/07
Rechtsgebiete: BauO NRW


Vorschriften:

BauO NRW § 6
BauO NRW § 73 Abs. 1
1. Die Einfügung des Satzes 2 in § 73 Abs. 1 BauO NRW durch das 2. Gesetz zur Änderung der Landesbauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12.12.2006, GV NRW S. 614, hat klarstellende Funktion und bestimmt, wann eine nach Satz 1 mögliche Abweichung von § 6 BauO NRW insbesondere zulässig ist.

2. Auch nach der Änderung der Landesbauordnung kommt eine Abweichung von § 6 BauO NRW nur bei einer grundstücksbezogenen Atypik in Betracht. Eine solche kann bei einer schräg verlaufenden Grenze, die einen zusätzlichen Knick aufweist, gegeben sein.

3. In dem hier vorliegenden Einzelfall werden die nachbarlichen Interessen gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW "nur unwesentlich stärker beeinträchtigt" als bei einer nach § 6 BauO NRW zulässigen Bebauung mit Versatz.


Tatbestand:

Die Antragsteller wandten sich gegen eine den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Einfamilienhauses. Sie sind Eigentümer des nördlich angrenzenden Grundstücks, das an der gemeinsamen Grundstücksgrenze mit einem Wohnhaus bebaut ist. Die Beigeladenen beabsichtigen, den Baukörper grenzständig im unmittelbaren Anschluss an das Wohnhaus der Antragsteller und um 2,00 m (straßenseitig) bzw. 2,20 m (gartenseitig) gegenüber dem Wohnhaus der Antragsteller versetzt zu errichten. Die gemeinsame Grundstücksgrenze weist einen Knick und einen schrägen Verlauf auf. Beide Grundstücke befinden sich im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 20/24. Eine Festsetzung zur Bauweise ist nicht erfolgt. Allerdings sind nur Einzel- und Doppelhäuser zulässig. Zudem sind eine straßenseitige und eine rückwärtige Baugrenze festgesetzt. Die Antragsteller erhoben Widerspruch gegen die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung. Ihrem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gab das VG statt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Beigeladenen hatte Erfolg.

Gründe:

Die Antragsteller haben keinen Abwehranspruch gegen das Vorhaben. Entgegen der Annahme des VG, das einen Verstoß gegen Bauordnungsrecht sowohl nach der zum Zeitpunkt der Genehmigungserteilung geltenden Fassung der BauO NRW (BauO NRW 2000) als auch nach der im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltenden Neufassung (BauO NRW 2006) angenommen hat, ist das Vorhaben mit Vorschriften des Bauordnungsrechts, die auch dem Schutz der Antragsteller zu dienen bestimmt sind, unter Zugrundelegung sowohl der §§ 6, 73 BauO NRW 2000 als auch der §§ 6, 73 BauO NRW 2006 vereinbar.

Das grenzständig errichtete Vorhaben der Beigeladenen verstößt nicht gegen die Abstandflächenvorschriften des § 6 BauO NRW 2000 in der zum Zeitpunkt der Genehmigungserteilung gültigen Fassung. Die Einhaltung einer (seitlichen) Abstandfläche ist hier nach § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2000 entbehrlich, weil es sich bei dem geplanten Gebäude der Beigeladenen - entgegen den Ausführungen des VG - um eine Doppelhaushälfte handelt und planungsrechtlich die Zulässigkeit von Einzel- und Doppelhäusern festgesetzt ist.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22.8.2005 - 10 A 3611/03 -, BRS 69 Nr. 91.

Ein Doppelhaus entsteht, wenn zwei Gebäude derart zusammengebaut werden, dass sie einen Gesamtkörper bilden, dessen beide "Haushälften" in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinander gebaut werden. Nicht erforderlich ist, dass die Doppelhaushälften gleichzeitig oder deckungsgleich (spiegelbildlich) errichtet werden. Das Erfordernis einer baulichen Einheit schließt es auch nicht aus, dass die ein Doppelhaus bildenden Gebäude an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zueinander versetzt aneinandergebaut werden. In welchem Umfang die beiden Haushälften an der Grenze zusammengebaut sein müssen, lässt sich weder abstrakt-generell noch mathematisch-prozentual festlegen. Ausschlaggebend sind die Umstände des Einzelfalls.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 24.2.2000 - 4 C 12.98 -, BRS 63 Nr. 185.

Danach handelt es sich bei dem geplanten Gebäude der Beigeladenen um eine Doppelhaushälfte. Sie soll nur um 2,00 m (straßenseitig) bzw. 2,20 m (gartenseitig) gegenüber dem Baukörper der Antragsteller versetzt errichtet werden, und die geplante Traufhöhe von 7,30 m überragt diejenige des Nachbargebäudes lediglich um ca. 80 cm. Damit bleibt es bei dem Eindruck eines die gemeinsame Grundstücksgrenze überbrückenden einheitlichen Baukörpers, da die beiden Haushälften grenzständig über eine Länge von 11 m aneinandergebaut werden sollen. Der vordere bzw. rückwärtige Versprung des Neubaus erweckt auch nicht den Eindruck eines einseitigen Grenzanbaus und löst deshalb keinen neuen Bodennutzungskonflikt aus. Die von dem VG genannte Verschattungswirkung und eventuelle Einsichtnahmemöglichkeiten aufgrund der vorgesehenen Balkone im ersten Obergeschoss des geplanten Gebäudes der Beigeladenen führen zu keiner anderen Bewertung. Bei einem Doppelhaus wird die durch den gemeinsamen Grenzanbau erhöhte bauliche Nutzbarkeit der Grundstücke durch einen Verzicht auf seitliche Grenzabstände und damit auf Freiflächen, die dem Wohnfrieden dienen, "erkauft". So ist es für eine Doppelhausbebauung typisch, dass im Erdgeschoss in begrenztem Umfang ein Sichtschutz möglich ist, und dass von dem Balkon der einen Haushälfte aus der Außenwohnbereich der anderen Hälfte eingesehen werden kann. Die Verschattungswirkungen und eventuelle Einsichtnahmemöglichkeiten aufgrund des vorgesehenen Gebäudes - auch unter Berücksichtigung des dargestellten Versprungs - beeinträchtigen danach nicht in unzumutbarer Weise die Antragsteller als Bewohner der anderen Haushälfte.

Es ist auch öffentlich-rechtlich gesichert, dass auf dem Grundstück der Antragsteller ebenfalls ohne Grenzabstand gebaut ist (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe b): BauO NRW 2000). Dies folgt nach der Rechtsprechung der mit Bausachen befassten Senate des beschließenden Gerichts ohne Hinzutreten weiterer Voraussetzungen allein daraus, dass dort das Wohnhaus der Antragsteller tatsächlich grenzständig errichtet worden ist. Auf eine vollständige oder jedenfalls weitgehende Deckungsgleichheit der beiden an die Grenze gebauten Häuser kommt es dabei nicht an, sofern der entstehende Baukörper noch als Doppelhaus anzusehen ist.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 13.12.1995 - 7 A 159/94 -, BRS 57 Nr. 137, und Beschluss vom 4.6.1998 - 10 A 1318/97 -, BRS 60 Nr. 72.

Auch im Übrigen ist das innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche liegende Vorhaben nicht zu beanstanden. Es wirkt sich insbesondere trotz des Versprungs des geplanten Gebäudes um etwa 2,00 m nicht rücksichtslos gegenüber dem Grundstück der Antragsteller aus. Der Senat verkennt nicht, dass Auswirkungen auf die Belichtungsverhältnisse mit dem Vorhaben verbunden sind und eventuelle Einsichtnahmemöglichkeiten geschaffen werden. Diese Wirkungen stellen sich als typische und planbedingte Folgen des die beiden Grundstücke erfassenden Bebauungsplans dar.

Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 27.12.1984 - 4 B 278.84 -, BRS 42 Nr. 183, und vom 6.3.1989 - 4 NB 8.89 -, BRS 49 Nr. 44.

Das Gebot der Rücksichtnahme verlangt von dem Bauherrn nicht, auf ein zulässiges und für den Nachbarn zumutbares Vorhaben zu verzichten, weil es an einem aus der Sicht des Nachbarn besser geeigneten Alternativstandort errichtet werden könnte.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 26.6.1997 - 4 B 97.97 -, BRS 59 Nr. 176; OVG NRW, Beschluss vom 27.6.2000 - 10 B 870/00 -.

Zusätzliche Anhaltspunkte für die Annahme einer Rücksichtslosigkeit sind nicht ersichtlich.

Allerdings verstößt das geplante Vorhaben gegen die Abstandflächenvorschriften, weil die rückwärtige Abstandfläche (T 3) zum Teil auf dem Grundstück der Antragsteller liegt. Diese Verletzung der Abstandflächenvorschriften stellt einen Verstoß gegen nachbarliche Abwehrrechte dar. Jedoch kommt die Zulassung einer Abweichung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW 2000 zur Legalisierung des bestehenden Abstandflächenverstoßes in Betracht.

Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung sind entgegen den Ausführungen des VG gegeben. Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW 2000 kann die Genehmigungsbehörde Abweichungen von bauaufsichtlichen Anforderungen dieses Gesetzes und der aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Vorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind.

Dies kommt nur dann in Frage, wenn im konkreten Einzelfall eine besondere, d.h. "atypische" Situation vorliegt, die sich vom gesetzlichen Regelfall derart unterscheidet, dass die Nichtberücksichtigung oder Unterschreitung des normativ festgelegten Standards gerechtfertigt ist.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 16.5.1991 - 4 C 17.90 -, BRS 52 Nr. 157; OVG NRW, Beschluss vom 28.8.1995 - 7 B 2117/95 -, BRS 57 Nr. 141 und Urteil vom 22.8.2005 - 10 A 3611/03 -, BRS 69 Nr. 91; OVG Rh.-Pf, Urteil vom 3.11.1999 - 8 A 10951/99 -, BRS 62 Nr. 143; Boeddinghaus/Hahn/ Schulte, Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, Kommentar, Loseblatt, Stand Oktober 2006, § 73 Rdnr. 22.

Von diesen Grundsätzen ausgehend ist in dem hier zu entscheidenden Einzelfall ein Verzicht auf die Einhaltung des an sich erforderlichen Abstands gerechtfertigt. Die gemeinsame Grundstücksgrenze zwischen den Flurstücken der Antragsteller und der Beigeladenen verläuft - im Gegensatz zu den umliegenden Grenzen - nicht parallel im rechten Winkel zur Straße, sondern schräg, und weist zudem einen Knick auf. Dieser atypische Grundstückszuschnitt führt dazu, dass die Abstandfläche der hinteren Gebäudeabschlusswand zum Teil auf dem Nachbargrundstück liegt, obwohl das Gebäude - wie üblich - mit seiner vorderen Gebäudeabschlusswand parallel zur Straße errichtet ist. Die Wand müsste also einen Knick aufweisen, um den Abstandflächenvorschriften zu genügen. Die Möglichkeit der Beigeladenen, den geplanten Baukörper zur Straße hin zu verschieben, steht der angenommenen Atypik nicht entgegen. Die von den Festsetzungen des Bebauungsplans vorgegebene überbaubare Grundstücksfläche kann von dem Grundeigentümer grundsätzlich ausgenutzt werden. Die Ablehnung einer atypischen Grundstückssituation unter Verweis der Beigeladenen auf ein Verschieben des Baukörpers liefe auf eine Einschränkung der nach dem Bebauungsplan möglichen ausnutzbaren überbaubaren Grundstücksfläche hinaus.

Die Abweichung ist auch mit nachbarlichen Interessen vereinbar. Eine ins Gewicht fallende Beeinträchtigung der durch die Abstandflächenvorschriften geschützten Belange ist, wie bereits oben ausgeführt, mit dieser Verletzung der Abstandflächenvorschriften nicht erkennbar. Ebenso wenig werden öffentliche Belange berührt, städtebauliche Aspekte stehen nicht entgegen.

Nichts anderes ergibt sich bei der vom VG ebenfalls vorgenommenen Prüfung der Rechtslage anhand der §§ 6, 73 BauO NRW in der Fassung des 2. Gesetzes zur Änderung der Landesbauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12.12.2006, GV. NRW. S. 614 (BauO NRW 2006). Auch nach diesen Vorschriften liegt zwar ein Verstoß gegen das Abstandflächenrecht hinsichtlich der rückwärtigen Abstandfläche T 3 vor. Allerdings liegt diese rückwärtige Abstandfläche zu einem geringeren Teil auf dem Grundstück der Antragsteller als nach altem Recht, weil gemäß § 6 Abs. 6 Satz 1 BauO NRW 2006 nunmehr auf einer Länge der Außenwände und von Teilen der Außenwände von nicht mehr als 16 m gegenüber jeder Grundstücksgrenze als Tiefe der Abstandfläche 0,4 H genügt.

Dieser Abstandflächenverstoß kann aber weiterhin durch eine Abweichung gemäß § 73 Abs. 1 BauO NRW 2006 ausgeräumt werden. § 73 Abs. 1 BauO NRW 2000 ist durch einen Satz 2 ergänzt worden. Danach sind Abweichungen von § 6 insbesondere zulässig, wenn durch das Vorhaben nachbarliche Interessen nicht stärker oder nur unwesentlich stärker beeinträchtigt werden als bei einer Bebauung des Grundstücks, die nach § 6 zulässig wäre. Der Entwurf der Landesregierung hat diese Änderung wie folgt begründet (LT-Drs. 14/2433):

"Damit soll klargestellt werden, dass Abweichungen von § 6 vor allem dann zugelassen werden können, wenn die von § 6 abweichende Bebauung den jeweiligen Angrenzer nicht stärker oder nur unwesentlich stärker beeinträchtigt, als eine andere, § 6 entsprechende Bebauung des jeweiligen Grundstücks.

Mit der Formulierung "unwesentlich stärker" wird auf geringfügige Unterschreitungen der Abstandflächen abgestellt. Unterschreitungen im Zentimeterbereich können z.B. schon aufgrund üblicher Bautoleranzen entstehen. Mutwillige Unterschreitungen der Abstandflächen sollen dadurch aber nicht sanktioniert werden.

Satz 2 schließt nicht aus, dass Abweichungen von den Anforderungen des § 6 nach wie vor auch nach Satz 1 erteilt werden können."

Mit dieser Neuregelung ist allerdings keine Änderung des Abweichungssystems verbunden. Nach wie vor sind die tatbestandlichen Voraussetzungen sowohl des § 73 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW als auch die des Satzes 2 restriktiv auszulegen:

Weder aus dem Wortlaut des § 73 BauO NRW 2006 noch aus den Gesetzesmaterialien ergeben sich konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber mit der Einfügung des Satzes 2 für das Abstandflächenrecht eine von der bisherigen Rechtslage und ihrer Anwendung durch das beschließende Gericht grundsätzlich abweichende Regelung schaffen wollte. Satz 2 knüpft an die allgemeine Vorschrift des Satzes 1 an und macht mit der Wendung: "insbesondere zulässig" deutlich, dass er beispielhaft einen Anwendungsfall für eine mögliche Abweichung von § 6 BauO NRW aufzeigen will. In der zitierten Begründung des Gesetzesentwurfes ist ausdrücklich davon die Rede, dass mit dieser Einfügung (lediglich) eine Klarstellung beabsichtigt ist und auch keine beliebigen Unterschreitungen der Abstandflächen sanktioniert werden sollen. Abgesehen davon ist auch kein Grund dafür benannt worden oder sonst ersichtlich, weshalb im Unterschied zu sonstigen bauaufsichtlichen Anforderungen der Landesbauordnung, von denen nur nach Maßgabe des Satzes 1 bei einer atypischen Situation abgewichen werden kann, für das Abstandflächenrecht eine andersartige Abweichungsregelung geschaffen werden sollte, die die als Folge der Neufassung des § 6 BauO NRW erweiterten Möglichkeiten nochmals ausweiten würde.

Das in § 6 BauO NRW geregelte, in sich geschlossenen System der Abstandflächenvorschriften enthält weiterhin Regel- und Ausnahmetatbestände, so dass die schutzwürdigen und schutzbedürftigen Interessen betroffener Grundstücksnachbarn sowie die relevanten öffentlichen Belange regelmäßig schon durch die Vorschrift des § 6 BauO NRW in einen gerechten Ausgleich gebracht werden. Das Erfordernis, Gesetze gleichmäßig, d.h. unter Wahrung des Gleichheitssatzes auszulegen und zu vollziehen, gestattet nicht ein mehr oder minder beliebiges Abweichen von den Abstandflächenvorschriften. Mit diesen hat der Gesetzgeber nicht nur die zu wahrenden Rechtsgüter festgelegt, sondern auch die Art und Weise, in der diesen Anforderungen Rechnung zu tragen ist. Dies gilt auch nach der Neufassung der §§ 6 und 73 BauO NRW, weil das bisherige gesetzliche System des Abstandflächenrechts im Wesentlichen beibehalten worden ist. Zu Gunsten einer besseren Ausnutzbarkeit der Grundstücke und damit zu Lasten der Nachbarn sind lediglich teilweise die Grenzen dessen verändert worden, was dem Nachbarn zugemutet wird. Im Rahmen des § 6 BauO NRW 2006 sind die durch das Abstandflächenrecht geschützten Belange tendenziell weniger stark berücksichtigt. Nichts geändert hat sich daran, dass eine atypische Grundstückssituation vorliegen muss, um eine Abweichung von dem gesetzlich festgelegten Maß dessen, was der Nachbar hinnehmen muss, rechtfertigen zu können. Nur eine grundstücksbezogene Atypik - insbesondere Besonderheiten im Zuschnitt der Nachbargrundstücke oder im topografischen Geländeverlauf - kann eine Abweichung rechtfertigen, nicht aber außergewöhnliche Nutzungswünsche eines Eigentümers, die eine noch stärkere Ausnutzung seines Grundstücks erfordern als nach § 6 BauO NRW 2006 ohnehin schon zulässig ist. Auch bleibt es dabei, dass § 73 BauO NRW 2006 kein Instrument zur Legalisierung gewöhnlicher Rechtsverletzungen darstellt.

Im Übrigen muss § 73 BauO NRW 2006 so ausgelegt werden, dass er dem verfassungsrechtlichen Gebot der Bestimmtheit von Normen genügt und dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht widerspricht. Eine Auslegung der Vorschrift, die es der Behörde ermöglichen würde, über die Normanwendung im Bereich des Abstandflächenrechts mehr oder minder nach Belieben zu verfügen, würde diesen Anforderungen nicht genügen.

Vgl. Wilke, Die juristische Konstruktion der bebauungsrechtlichen Befreiung, Festschrift für Konrad Gelzer, 1991, S. 165 (166); Boeddinghaus/ Hahn/ Schulte, a.a.O., § 73 Rdnr. 18.

Die Anwendung des § 6 BauO NRW wäre jedoch ins Belieben der Bauaufsichtsbehörden gestellt, wenn es für die Zulässigkeit einer Abweichung - unter Verzicht auf das Erfordernis einer besonderen Situation im Einzelfall - allein darauf ankäme, ob denkbare alternative Bebauungsmöglichkeiten, die nach § 6 BauO NRW zulässig wären, zu allenfalls unwesentlich stärkeren Beeinträchtigungen nachbarlicher Interessen führen würden. Die Regelungen des § 6 BauO NRW sollen, wie auch in der Begründung des Gesetzesentwurfs ausgeführt wird, dem Nachbarn ein angemessenes Maß an Schutz garantieren, aber zugleich auch den Standard dessen festlegen, was ein Nachbar an Bebauung in welchem Abstand hinzunehmen hat. Die Gewährleistung dieser Schutzziele erfordert eine strikte Beachtung der vorgeschriebenen Abstandflächen. Könnten die festgelegten normativen Standards allein mit Blick auf die Möglichkeit einer alternativen, nach § 6 BauO NRW zulässigen Bebauung außer Acht gelassen werden, wäre eine gleichmäßige Anwendung des Gesetzesvollzugs nicht gewährleistet.

Die für die Abweichung danach weiterhin erforderliche grundstücksbezogene Atypik ist - wie bereits dargestellt - gegeben. Das von den Beigeladenen geplante Gebäude beeinträchtigt im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW auch die nachbarlichen Interessen allenfalls unwesentlich stärker als bei einer entsprechend dem Grenzverlauf versetzten und den Vorgaben des § 6 BauO NRW entsprechenden Bebauung, die im Übrigen auch wegen des Entstehens einer Schmutzecke im Widerspruch zur vorgesehenen Doppelhausbebauung stünde.

Ende der Entscheidung

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