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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 19.12.2002
Aktenzeichen: 10 B 435/02
Rechtsgebiete: VwGO, BauGB


Vorschriften:

VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 80 Abs. 7
VwGO § 146 Abs. 4 Satz 6
BauGB § 35 Abs. 1 Nr. 4
BauGB § 35 Abs. 3
1. Eine Nebenbestimmung, die der Baugenehmigung - nachdem im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eine Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO erfolgt ist - nachträglich hinzugefügt wird und die die Baugenehmigung lediglich modifiziert, lässt den ursprünglichen Streitgegenstand unberührt und kann Anlass für eine Abänderungsentscheidung nach § 80 Abs. 7 VwGO sein, wenn sie die Sachlage verändert.

2. Bei einem Nebeneinander landwirtschaftlicher Betriebe im Außenbereich ist die im Rahmen des Rücksichtnahmegebotes zu beachtende Zumutbarkeitsschwelle erst überschritten, wenn sich die Immissionen, insbesondere soweit sie auf die zu den landwirtschaftlichen Anwesen gehörenden Wohngebäude einwirken, der Grenze des Erträglichen nähern.

3. Dies gilt auch bei einem Nebeneinander eines landwirtschaftlichen Betriebes und eines nach § 35 Abs. 1 Nr. 4 BauGB privilegierten Mastbetriebes, soweit es sich bei den von dem Mastbetrieb ausgehenden störenden Immissionen um mit der Tierhaltung verbundene Geräusche und Gerüche handelt, die typische Begleiterscheinungen der im Außenbereich zulässigen Grundstücksnutzung darstellen.

4. Eine durch Tierhaltung bedingte relative Geruchswahrnehmungshäufigkeit von mehr als 50 % der Jahresstunden vermag eine Unzumutbarkeit für landwirtschaftsbezogenes Wohnen nicht ohne weiteres zu begründen.


Tatbestand:

Der Antragsteller ist Landwirt und betreibt Rinderhaltung. Der Antragsgegner erteilte dem Nachbarn des Antragstellers - dem Beigeladenen - eine Baugenehmigung zur Erweiterung eines Stalles für die Geflügelmast sowie zur Anlegung einer Dungplatte. Sowohl der Betrieb des Antragstellers als auch der Betrieb des Beigeladenen liegen im Außenbereich. Auf Antrag des Antragstellers ordnete das VG zunächst die aufschiebende Wirkung des von ihm gegen die Baugenehmigung eingelegten Widerspruchs an. Nachdem der Antragsgegner die Baugenehmigung hinsichtlich der Dungplatte mit einer weiteren Auflage versehen und Erläuterungen zu einem im Bau-genehmigungsverfahren eingeholten Immissionsgutachten vorgelegt hatte, gab das VG seinem Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO statt, änderte den ursprünglichen Beschluss und lehnte den Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines gegen die Baugenehmigung eingelegten Widerspruchs ab. Die Beschwerde des Antragstellers hatte keinen Erfolg.

Gründe:

Das VG hat zu Recht angenommen, dass die Abänderungsanträge des Antragsgegners und des Beigeladenen gemäß § 80 Abs. 7 VwGO zulässig seien. Nach dieser Vorschrift kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung einer auf der Grundla-ge des § 80 Abs. 5 VwGO ergangenen gerichtlichen Entscheidung wegen veränderter Umstände beantragen. Der Antragsgegner und der Beigeladene haben mit ihren Abänderungsanträgen vorgetragen, dass sich die maßgeblichen Umstände gegenüber der im Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung vom 21.11.2001 im Verfahren 25 L 2738/01 gegebenen Sachlage verändert hätten. Dies trifft zu. Der Antragsgegner hat die hier im Streit stehende Baugenehmigung in der Fassung des Nachtrags vom 30.8.2001 mit Bescheid vom 14.1.2002 durch eine weitere Auflage ergänzt, die wie folgt lautet: "Die Dunglagerstätte ist vor Fremdwasserzuflüssen zu schützen. Die Mistlagerung auf der Dunglagerplatte ist mit einer wasserdichten Abdeckung immer dann zu schützen, wenn sie nicht nach einem Mastdurchgang mit Dung neu beschickt bzw. entsorgt wird." Diese Auflage zur angegriffenen Baugenehmigung verändert zwar die Sachlage im Nachbarstreit, nicht jedoch den ur-sprünglichen Streitgegenstand, sodass nun nicht etwa ein "aliud" im Streit steht und für eine Abänderungsentscheidung gemäß § 80 Abs. 7 VwGO kein Raum mehr ist. Vielmehr bleibt die Baugenehmigung bestehen und wird lediglich durch die hinzugefügte Nebenbestimmung modifiziert.

Als ein weiterer neuer Umstand tritt hinzu, dass im erstinstanzlichen Verfahren Erläuterungen des TÜV S. vom 19.12.2001 und 28.1.2002 zu dessen im Baugenehmigungsverfahren erstellten Gutachten vom 28.11.2000 vorgelegt worden sind, die bestimmte Aussagen des Gutachtens im Einzelnen nachvollziehbar machen und so seine Plausibilität erhöhen. Die dem Gericht auf diese Weise vermittelten neuen Erkenntnisse lassen eine Überprüfung der ursprünglich getroffenen Entscheidung im Rahmen des § 80 Abs. 7 VwGO zu.

Auch in der Sache ist die mit Beschluss vom 18.2.2002 im Abänderungsverfahren getroffene Entscheidung des VG aus den in der Beschwerdeschrift dargelegten Gründen, die der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfen hat, nicht zu beanstanden. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass die dem Beigeladenen unter dem 23.5.2001 erteilte Baugenehmigung zur Erweiterung eines Hähnchenstalles mit Dungplatte und Grube auf dem Grundstück Gemarkung A. in der Fassung des Nachtrags vom 30.8.2001 - ergänzt durch Bescheid vom 14.1.2002 - gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt, die auch dem Schutz des Antragstellers zu dienen bestimmt sind.

Nach Lage der Dinge kommt hier als nachbarliches Abwehrrecht allein das in § 35 Abs. 3 BauGB verankerte Rücksichtnahmegebot in Betracht. Sowohl das Baugrund-stück als auch das Grundstück des Antragstellers, der dort selbst Landwirtschaft in Form von Rinderhaltung betreibt, liegen unstreitig im Außenbereich. Das Gebot der Rücksichtnahme soll einen angemessenen Interessenausgleich im Nachbarschaftsverhältnis gewährleisten. Das bedeutet, dass sich die Abwägung der gegenläufigen Interessen an der Frage auszurichten hat, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und dem Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils zuzumuten ist. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Rücksichtnahmebegünstigten ist, desto mehr kann an Rücksichtnahme verlangt werden. Bei einem Nebeneinander landwirtschaftlicher Betriebe im Außenbereich ist die im Rahmen des Rücksichtnahmegebotes zu beachtende Zumutbarkeitsschwelle jedoch erst überschritten, wenn sich die Immissionen, insbesondere soweit sie auf die zu den landwirtschaftlichen Anwesen gehörenden Wohngebäude einwirken, der Grenze des Erträglichen nähern (vgl. OVG NRW, Urteil vom 15.8.1996 - 7 A 1727/93 -).

Nichts anderes kann bei einem Nebeneinander eines landwirtschaftlichen Betriebes und eines nach § 35 Abs. 1 Nr. 4 BauGB privilegierten Mastbetriebes gelten, soweit es sich bei den von dem Mastbetrieb ausgehenden störenden Immissionen um mit der Tierhaltung verbundene Geräusche und Gerüche handelt, die typische Begleiterscheinungen der im Außenbereich zulässigen Grundstücksnutzung darstellen. Es kommt deshalb an dieser Stelle nicht darauf an, ob der Mastbetrieb des Beigeladenen als landwirtschaftlicher Betrieb zu qualifizieren ist.

Bei der in den Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens nicht davon auszugehen, dass durch die Errichtung und Nutzung des dem Beigeladenen genehmigten Vorhabens die vorstehend beschriebene Zumutbarkeitsschwelle - bezogen auf Geruchsimmissionen - zu Lasten des Antragstellers überschritten wird. Die angefochtene Baugenehmigung gestattet unter anderem einen bestimmten Tierbesatz der Ställe und sieht einen genauen Betriebsablauf vor. Beides ergibt sich aus der durch Grünstempel zum Gegenstand der Baugenehmigung gemachten Anlagen- und Betriebsbeschreibung und dem oben bereits erwähnten Ergänzungsbescheid vom 14.1.2002. Der TÜV S. hat auf der Grundlage dieser Vorgaben mit Gutachten vom 28.11.2000 Emissionsdaten errechnet und eine Ausbreitungsrechnung nach der Geruchsimmissions-Richtlinie (GIRL) erstellt, die zu dem Ergebnis gelangt, dass im Bereich des Hofgrundstücks des Antragstellers eine relative Geruchswahrnehmungshäufigkeit von 15 % der Jahresstunden besteht. Bei diesem Wert handelt es sich um den von der GIRL für Gewerbe- und Industriegebiete vorgegebenen Immissionswert, bei dessen Überschreitung regelmäßig von einer erheblichen Belästigung auszugehen ist. Mit Schreiben vom 19.12.2001, vom 28.1., 22.3., 9.4. und 28.6.2002 hat der TÜV S. das verwendete Ausbreitungsmodell und die der Ausbreitungsrechnung zu Grunde gelegten Eingangsparameter im Hinblick auf die Auswahl der Wetterdaten, die Emissionszeiten, die Emissionshöhe, den Emissionsfaktor, den Geruchsstoffstrom und die Umrechnung der Tiermasse in Großvieheinheiten nachvollziehbar und plausibel erläutert. Soweit der Antragsteller mit seinem Beschwerdevorbringen gleichwohl die geäußerten Zweifel am Aussagewert des Gutachtens aufrechterhält, hat er nicht substanziiert dargelegt, dass eine Ausbreitungsrechnung bei Zugrundelegung der von ihm für richtig gehaltenen Eingangsparameter Wahrnehmungshäufigkeiten im Bereich seines Hofgrundstücks ergäbe, die sich der maßgeblichen Zumutbarkeitsschwelle nähern oder diese gar überschreiten würden. Diese Zumutbarkeitsschwelle liegt nämlich nicht bei der vom Gutachter errechneten Wahrnehmungshäufigkeit von 15 % der Jahresstunden. Selbst eine durch Tierhaltung bedingte relative Geruchswahrnehmungshäufigkeit von mehr als 50 % der Jahresstunden vermag eine Unzumutbarkeit für landwirtschaftsbezogenes Wohnen nicht ohne weiteres zu begründen (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18.3.2002 - 7 B 315/02 -).

Dass die Immissionswerte der GIRL nicht etwa die Schwelle zu einer gesundheitsschädlichen Geruchsbelästigung darstellen, ergibt sich schon daraus, dass nach der GIRL die Wahrnehmungshäufigkeit an die Geruchsstoffskonzentration von 1 Geruchseinheit/cbm (GE/cbm) anknüpft und 1 GE/cbm die Geruchsschwelle markiert, bei der 50 % der geschulten Probanden überhaupt einen Geruchseindruck haben. Zudem wird die tatsächliche Belastung dadurch relativiert, dass nach der GIRL Gerüche schon dann im Umfang einer Geruchsstunde zu berücksichtigen sind, wenn an mindestens sechs Minuten die Geruchsschwelle überschritten wird (vgl. Nds. OVG Urteil vom 25.7.2002 - 1 LB 980/01 -, RdL 2002, 313).

Nach allem ist dem Antragsteller die Nutzung des dem Beigeladenen genehmigten Vorhabens jedenfalls für die Dauer des Hauptsacheverfahrens zuzumuten.

Ende der Entscheidung

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