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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 30.09.2005
Aktenzeichen: 10 B 972/05
Rechtsgebiete: BauGB, BauNVO, BauO NRW


Vorschriften:

BauGB § 34 Abs. 1
BauNVO § 22
BauO NRW § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a)
BauO NRW § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe b)
BauO NRW § 6 Abs. 11 Nr. 1
BauO NRW § 6 Abs. 16
1.) Ist im unbeplanten Innenbereich die geschlossene Bauweise lediglich im vorderen Grundstücksbereich prägend und sind die hinteren Grundstücksbereiche frei von an der seitlichen oder rückwärtigen Grundstücksgrenze errichteten Gebäuden der Hauptnutzung, mit der Folge, dass für diesen Bereich weder geschlossene noch abweichende Bauweise vorliegt, so ist eine im hinteren Grundstücksbereich auf einer vorhandenen Grenzgarage errichtete Terrasse nicht nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a) BauO NRW grenzständig zulässig.

2.) Mit der Errichtung einer Dachterrasse auf einer vorhandenen Grenzgarage verliert die zunächst bauordnungsrechtlich zulässige Garage ihre Eigenschaft als im Grenzbereich privilegiert zulässiges Vorhaben nach § 6 Abs. 11 Nr. 1 BauO NRW und muss grundsätzlich Abstandflächen einhalten.

3.) Das Merkmal des sich Einfügens im Sinne des § 34 BauGB bezieht sich nur auf die vier Normelemente Art und Maß der baulichen Nutzung, Bauweise und überbaubare Grundstücksfläche. Andere Kriterien - etwa das Vorhandensein von Dachterrassen - sind für die Frage des Sicheinfügens nicht maßgeblich.


Tatbestand:

Die Antragstellerin wandte sich gegen eine Baugenehmigung des Antragsgegners, die es dem Beigeladenen erlaubte, auf dem im hinteren Grundstücksbereich grenznah bzw. grenzständig vorhandenen Garagengebäude eine Dachterrasse mit teilweise gemauerter Brüstung anzulegen. Das VG ordnete die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Baugenehmigung an. Die dagegen eingelegte Beschwerde des Beigeladenen wies das OVG zurück.

Gründe:

Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, die der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfen hat, führen nicht zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung, mit der das VG zutreffend die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Baugenehmigung - soweit mit dieser die Umwehrung des Garagendaches und die Nutzung als Dachterrasse genehmigt ist - angeordnet hat. Das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin ist höher zu bewerten als das Interesse des Beigeladenen an der Aufnahme der Nutzung nach Fertigstellung der Baumaßnahmen, weil die angefochtene Baugenehmigung bei summarischer Prüfung nachbarrechtswidrig ist.

Die Antragstellerin wird durch die streitgegenständliche Baugenehmigung in ihren Nachbarrechten verletzt. Das nachbarliche Abwehrrecht steht der Antragstellerin als Miteigentümerin des Grundstücks M.-Straße 18 ohne Rücksicht darauf zu, ob die anderen Miteigentümer ihre Rechte ebenfalls geltend machen oder - wie der Beigeladene mit der Beschwerde vorträgt - dem Vorhaben zugestimmt haben.

Die angefochtene Baugenehmigung ermöglicht u. a. die Änderung des bestehenden Garagengebäudes, das mit einer seitlichen Außenwand im Norden grenznah bzw. grenzständig errichtet ist und auch mit seiner südwestlichen Außenwand unmittelbar an der Nachbargrenze steht. Die Baugenehmigung erlaubt die Anlegung einer Dachterrasse auf der gesamten Fläche des Garagendaches und - als Brüstung - eine 0,44 m hohe Mauer entlang der Dachkanten sowie ein darauf angebrachtes 0,46 m hohes Geländer als zusätzliche Absturzsicherung. Das so geänderte Garagengebäude verstößt gegen die nachbarschützenden Abstandflächenvorschriften des § 6 BauO NRW. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW sind grundsätzlich vor Außenwänden von Gebäuden Abstandflächen freizuhalten. Diese müssen nach § 6 Abs. 2 und Abs. 5 BauO NRW auf dem Grundstück selbst liegen und mindestens 3,0 m betragen.

Die Einhaltung einer Abstandfläche ist nicht nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a) BauO NRW entbehrlich. Danach ist innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche eine Abstandfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an der Nachbargrenze errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften das Gebäude ohne Grenzabstand gebaut werden muss. Auf Grund des Vorrangs des Bauplanungsrechts beurteilt sich die Frage, ob an die Grenze gebaut werden muss, nach der Bauweise i. S. d. § 22 BauNVO. Nach Planungsrecht muss an die seitlichen Grenzen gebaut werden, wenn in einem Gebiet die geschlossene Bauweise festgesetzt ist oder tatsächlich besteht. Das gleiche gilt bei einer abweichenden Bauweise nach § 22 Abs. 4 Satz 1 BauNVO, sofern diese abweichende Bauweise die Errichtung einer Außenwand an der - vorderen, rückwärtigen oder seitlichen - Grundstücksgrenze zwingend vorgibt. Ferner muss ein Gebäude dann, wenn Doppelhäuser oder Hausgruppen in einem Gebiet mit offener Bauweise zwingend vorgeschrieben sind (vgl. § 22 Abs. 2 Sätze 2 und 3 BauNVO), im Hinblick auf die "innere Ordnung" bei Errichtung auf benachbarten Grundstücken an einer (Doppelhaushälften, Reiheneckhäuser) oder beiden (Reihenmittelhäuser) seitlichen Grenzen errichtet werden.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22.8.2005 - 10 A 3611/03 -.

Das Vorhaben des Beigeladenen liegt nicht im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der Bestimmungen über die Bauweise trifft. Im unbeplanten Innenbereich richtet sich gem. § 34 Abs. 1 BauGB die Zulässigkeit eines Vorhabens u. a. im Hinblick auf die hier in Rede stehende Bauweise danach, ob es sich in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Der für die Bestimmung der Bauweise maßgebliche Umgebungsbereich ist regelmäßig enger zu begrenzen als etwa der für die Ermittlung der Art der baulichen Nutzung heranzuziehende Rahmen. Vor diesem Hintergrund ist hier für die Beurteilung der Bauweise bei summarischer Prüfung die Bebauung zwischen Markt, M.-Straße, K.-Gasse und L.-Tor maßgeblich. Dieser Bereich weist eine einheitliche, in sich abgeschlossene städtebauliche Struktur auf. Nach Auswertung des vorliegenden Karten- und Bildmaterials ist in diesem Straßenkarree für die zur Straßenseite gelegenen Hauptgebäude jedenfalls im vorderen Grundstücksbereich die geschlossene Bauweise prägend. Vorherrschend ist eine (beidseitig) seitlich grenzständige Bebauung mit der Folge, dass insoweit an die Grenze gebaut werden muss. Die hinteren Grundstücksbereiche nehmen hingegen nicht am Eindruck der geschlossenen Bebauung teil; diese sind frei von (grenzständigen) Gebäuden der Hauptnutzung. Die Grenze zwischen beiden Bereichen wird durch die faktische hintere Baugrenze bestimmt. Das hier streitgegenständliche Vorhaben des Beigeladenen befindet sich im hinteren Grundstücksbereich jenseits der faktischen Baugrenze und damit nicht in dem durch geschlossene Bauweise geprägten Bereich, in dem grenzständig gebaut werden muss.

Eine abweichende Bauweise, die die Rechtmäßigkeit des Anbaus an die seitliche (einseitig zur Antragstellerin) und insbesondere rückwärtige Grenze durch den Beigeladenen begründen könnte, liegt für den hier in Rede stehenden hinteren Grundstücksbereich ebenfalls nicht vor. In der oben beschriebenen, für die Beurteilung der Bauweise maßgeblichen näheren Umgebung finden sich keine an die hintere oder seitliche Grundstücksgrenze angebauten Gebäude, die eine abweichende Bauweise begründen könnten.

Aber auch wenn man die nähere Umgebung um die gesamte den Markt umgebende Bebauung erweitern würde, wäre eine den Grenzanbau an die rückwärtige Grundstücksgrenze zulassende abweichende Bauweise nicht gegeben. Denn die vereinzelt vorhandenen Anbauten an die hinteren Grundstücksgrenzen besitzen nicht das Gewicht, auch für das Grundstück des Beigeladenen eine entsprechende Bauweise vorzugeben. Vorherrschend sind vielmehr Gebäude, die zur rückwärtigen Grundstücksgrenze einen Grenzabstand einhalten.

Ist danach ein Grenzanbau im rückwärtigen Grundstücksbereich nicht zwingend vorgeschrieben, wäre die grenzständige Errichtung nur unter den Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe b) BauO NRW zulässig. Nach dieser Regelung ist innerhalb der überbaubaren Grundstücksflächen eine Abstandfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an der Nachbargrenze errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften das Gebäude ohne Grenzabstand gebaut werden darf und öffentlich-rechtlich gesichert ist, dass auf dem Nachbargrundstück ebenfalls ohne Grenzabstand gebaut wird. Eine derartige Anbausicherung ist hier aber hinsichtlich des streitigen Terrassenanbaus weder im Hinblick auf den seitlichen noch auf den hinteren Grenzanbau gegeben. Im Übrigen steht einem Grenzanbau entgegen, dass sich der Terrassenanbau nicht innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche befindet. Die faktische hintere Baugrenze, die durch die eine weitgehend einheitliche Tiefe aufweisenden Rückfronten der Gebäude M.-Weg 22 bis 24 und M.-Straße 10 bis 18 gebildet wird, wird durch das Vorhaben mit etwa 5 m mehr als nur geringfügig überschritten.

Das Garagengebäude mit der Dachterrasse ist - wie bereits vom VG ausgeführt - nicht nach § 6 Abs. 11 Nr. 1 BauO NRW ohne Einhaltung eines Grenzabstandes zulässig. Die zunächst bauordnungsrechtlich zulässige Grenzgarage verliert durch den Aufbau der Umwehrung sowie die zusätzliche Nutzung als Dachterrasse insgesamt ihre Eigenschaft als im Grenzbereich privilegiert zulässiges Vorhaben.

OVG NRW, Beschluss vom 13.3.1990 - 10 A 1895/88 -, BRS 50 Nr. 149, Urteil vom 30.10.1995 - 10 A 3096/91 -, BRS 57 Nr. 151.

Soweit der Beigeladene zur Begründung der Beschwerde vorträgt, dass das Vorhaben die Höhe von 3,0 m nur zum Teil und nur geringfügig überschreite, ist dies weder zutreffend noch wäre es in diesem Zusammenhang rechtlich erheblich. Ausweislich der insoweit allein maßgeblichen Bauzeichnungen zur Baugenehmigung erreichen die an der Nachbargrenze stehenden Außenwände des Garagengebäudes einschließlich der wegen ihrer Massivität einzubeziehenden aufgemauerten Brüstung mit 3,445 m eine mittlere Höhe, die deutlich mehr als 3,0 m über der Geländeoberfläche liegt. Die Höhe des zusätzlichen Geländers ist dabei noch nicht berücksichtigt. Ferner kommt es auf die Einhaltung des Höhenmaßes des § 6 Abs. 11 Nr. 1 BauO NRW letztlich nicht an, da eine Privilegierung nach dieser Ausnahmeregelung - wie eben dargestellt - bereits auf Grund der Errichtung der Terrasse auf dem Garagendach ausscheidet. Die abstandsrechtliche Zulässigkeit des geänderten Garagengebäudes lässt sich schließlich nicht aus § 6 Abs. 16 BauO NRW herleiten. Danach können in überwiegend bebauten Gebieten geringere Tiefen der Abstandflächen gestattet oder verlangt werden, wenn die Gestaltung des Straßenbildes oder besondere städtebauliche Verhältnisse dies auch unter Würdigung nachbarlicher Belange rechtfertigen und Gründe des Brandschutzes nicht entgegenstehen. Im Hinblick darauf, dass sich der hier in Rede stehende Anbau auf der Gebäuderückseite befindet, sind nicht ansatzweise Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass prägende Merkmale des Straßenbildes die Errichtung ohne Grenzabstände rechtfertigen könnten. Auch ist die seitens des Beigeladenen vorgetragene "spätmittelalterliche Bebauung" nicht mit besonderen städtebaulichen Verhältnissen gleichzusetzen. Für die Gestattung geringerer Abstandflächen nach diesem Ausnahmetatbestand bedarf es vielmehr einer deutlich erkennbaren Einheitlichkeit der Bebauung mit eindeutig vorgegebenen Baufluchten und Gebäudehöhen. Der rückwärtige Anbau des Beigeladenen fällt hingegen gegenüber den weitgehend einheitlichen Rückseiten der angrenzenden Gebäude aus dem Rahmen.

Mit Blick auf den Vortrag des Antragsgegners, die genehmigte Terrasse füge sich in die nähere Umgebung ein, weil in unmittelbarer Nähe des Baugrundstücks bereits zahlreiche Dachterrassen auf Garagen und Anbauten vorhandenen seien, weist der Senat darauf hin, dass sich das Merkmal des sich Einfügens nur auf die vier Normelemente des § 34 Abs. 1 BauGB - Art und Maß der baulichen Nutzung, Bauweise und überbaubare Grundstücksfläche - bezieht.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 23.5.1986 - 4 C 34.85 -, BRS 46 Nr. 176, OVG NRW, Beschluss vom 25.9.1996 - 10 B 2177/96 -; Hahn/Schulte, Öffentlich-rechtliches Baunachbarrecht, München 1998, Rdnrn. 186 f.

Andere als diese vier Kriterien - wie etwa die Existenz von Dachterrassen - sind für die Beantwortung der Frage, ob sich das Bauvorhaben in die nähere Umgebung einfügt, ohne Belang.

Ende der Entscheidung

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