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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 12.07.2005
Aktenzeichen: 11 A 2307/03.A
Rechtsgebiete: AufenthG, AuslG


Vorschriften:

AufenthG § 60 Abs. 1
AuslG § 51 Abs. 1
1. Tschetschenen steht außerhalb Tschetscheniens in anderen Bereichen der Russischen Föderation im Regelfall eine inländische Fluchtalternative offen.

2. Tschetschenen können sich außerhalb Tschetscheniens in anderen Bereichen der Russischen Föderation tatsächlich aufhalten. Dieser Aufenthalt ist ihnen dort in rechtlicher Hinsicht vom Grundsatz her möglich. Mancherorts gegebene behördliche Verweigerungen einer Registrierung oder in bestimmten Bereichen der Russischen Föderation festzustellende sonstige staatliche Maßnahmen begründen vorbehaltlich besonderer Einzelfallumstände keinen generellen Abschiebungsschutz.

3. Tschetschenen drohen in Bereichen einer inländischen Fluchtalternative nach dem sog. herabgestuften Prognosemaßstab grundsätzlich keine abschiebungsrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen und nach dem allgemeinen Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch keine anderen unzumutbaren Nachteile, die an ihrem Herkunftsort so nicht bestünden. Tschetschenen droht außerhalb Tschetscheniens auch keine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure.


Tatbestand:

Die in Grosny (Tschetschenien) geborene Beigeladene ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, tschetschenische Volkszugehörige und muslimischen Glaubens. Sie verließ Mitte Oktober 1999 Grosny und gelangte mit einem Zug über Inguschetien nach Moskau. Von dort aus reiste sie mit einem Reisebus über Polen im November 1999 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie einen Asylantrag stellte. Zu dessen Begründung wies sie auf die Kriegslage in Tschetschenien hin; ihr persönlich sei in Tschetschenien nichts zugestoßen. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl; jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) lehnte den Asylantrag der Beigeladenen ab und stellte gleichzeitig fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Russischen Föderation vorliegen. Der gegen die Feststellung gemäß § 51 Abs. 1 AuslG gerichteten Klage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten gab das OVG statt.

Gründe:

I. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG) sind im Falle der Beigeladenen nicht gegeben. Sie muss nicht befürchten, bei einer Rückkehr in die Russische Föderation landesweit wegen ihrer tschetschenischen Volkszugehörigkeit politisch verfolgt zu werden.

Es kann offen bleiben, ob ethnische Tschetschenen in der russischen Teilrepublik Tschetschenien einer regionalen Gruppenverfolgung unterliegen (wird ausgeführt).

Kennzeichen einer "regionalen" Gruppenverfolgung ist es, dass der unmittelbar oder mittelbar verfolgende Staat die gesamte, durch ein Kennzeichen oder mehrere Merkmale oder Umstände verbundene Gruppe im Blick hat, sie aber - als "mehrgesichtiger Staat" - beispielsweise aus Gründen politischer Opportunität nicht oder jedenfalls derzeit nicht landesweit verfolgt (zum Asylrecht: BVerwG, Urteil vom 9.9.1997 - 9 C 43.96 -, BVerwGE 105, 204 [207 ff.], m. w. N.). Des subsidiären asylrechtlichen Abschiebungsschutzes in Deutschland bedarf deshalb derjenige nicht, dem auf dem Territorium seines Heimatstaats eine verfolgungsfreie Zuflucht eröffnet ist, d. h. eine sogenannte inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht (zu § 51 Abs. 1 AuslG: BVerwG, Urteil vom 5.10.1999 - 9 C 15.99 -, BVerwGE 109, 353 [354 f.]). Das gilt namentlich dann, wenn der vor einer regionalen Gruppenverfolgung fliehende Ausländer in anderen Teilen seines Heimatstaats vor erneuter politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und wenn ihm am Ort einer solchen inländischen Fluchtalternative keine sonstigen unzumutbaren Gefahren und Nachteile drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylrechtlich erheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen und am Herkunftsort so nicht bestünden (zum Asylrecht: BVerfG, Beschluss vom 29.7.2003 - 2 BvR 32/03 -, DVBl. 2002, 111 f., und BVerwG, Urteil vom 8.12.1998 - 9 C 17.98 -, BVerwGE 108, 84 [87], jeweils m. w. N.).

Die Neufassung des asylrechtlichen Abschiebungsschutzes in § 60 Abs. 1 AufenthG und die Tatsache, dass in Satz 4 Buchstabe c) dieser Bestimmung bei einer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure die inländische Fluchtalternative ausdrücklich als Ausschlussgrund erwähnt ist, rechtfertigen nicht die Annahme, eine solche inländische Fluchtalternative sei für den Fall einer staatlichen Verfolgung nicht mehr zu prüfen. Zum einen entspricht § 60 Abs. 1 AufenthG der Vorgängerbestimmung des § 51 Abs. 1 AuslG. Zum anderen ist auch im Rahmen der von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in Bezug genommenen Genfer Flüchtlingskonvention bei der Auslegung des Begriffs "Furcht vor Verfolgung" im Sinne des Art. 1 A GFK eine inländische Fluchtalternative zu berücksichtigen, wenn von dem Flüchtling die Aufenthaltnahme dort vernünftigerweise erwartetet werden kann (UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge [nicht-amtliche Übersetzung], Genf [September 1979], Rdnr. 91).

II. Unter Zugrundelegung dieser rechtlichen Prämissen und nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnisse ist der Senat in Übereinstimmung mit anderer obergerichtlicher Rechtsprechung davon überzeugt, dass ethnischen Tschetschenen außerhalb der Tschetschenischen Republik in den meisten Bereichen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative in aller Regel offen steht und ihnen die Aufenthaltnahme dort zugemutet werden kann (Nds. OVG , Beschlüsse vom 27.11.2002 - 13 LA 321/02 - und - 13 LA 326/02 -, juris, vom 3.7.2003 - 13 LA 90/03 -, AuAS 2003, 202 f., sowie vom 9.7.2003 - 13 LA 118/03 -, juris; Schl.-Holst. OVG, Urteile vom 24.4.2003 - 1 LB 212/01 - und - 1 LB 213/01 -, sowie Beschluss vom 7.10.2004 - 1 LA 79/04 -; Thür. OVG, Urteil vom 16.12.2004 - 3 KO 1003/04 -; Bay. VGH, Urteil vom 31.1.2005 - 11 B 02.31597 -, juris; zu russischstämmigen Tschetschenen: Saarl. OVG, Beschluss vom 22.1.2003 - 9 Q 182/00 -, juris).

Tschetschenen können sich außerhalb Tschetscheniens in anderen Bereichen der Russischen Föderation tatsächlich aufhalten (1.). Dieser Aufenthalt ist ihnen dort in rechtlicher Hinsicht vom Grundsatz her möglich (2.). Ihnen drohen in Bereichen einer inländischen Fluchtalternative nach dem sog. herabgestuften Prognosemaßstab grundsätzlich keine abschiebungsrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen (3.) und nach dem allgemeinen Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch keine anderen unzumutbaren Nachteile, die an ihrem Herkunftsort so nicht bestünden (4.). Tschetschenen können solche Bereiche auch faktisch erreichen (5.).

1. Tschetschenen halten sich in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens tatsächlich auf. Dies zeigt ein Vergleich der Zahl der Tschetschenen, die einerseits in Tschetschenien und andererseits außerhalb dieser russischen Teilrepublik in sonstigen Gebieten der Russischen Föderation leben (wird ausgeführt).

Präzise Angaben zur Anzahl der gegenwärtig außerhalb Tschetscheniens lebenden Tschetschenen liegen nicht vor. Bei stark variierenden Zahlenangaben sprechen Nichtregierungsorganisationen davon, dass bis zur Hälfte aller Tschetschenen nicht mehr in Tschetschenien leben (UNHCR, Paper on Asylum Seekers from the Russian Federation in the context of the situation in Chechnya [Februar 2003], S. 29 f.; Council of Europe - Parliamentary Assembly: The humanitarian situation of the Chechen displaced population [20.9.2004], S. 4; vgl. auch AA, Auskunft an das BAFl vom 22.1.2003).

Bis Sommer 2002 hielten sich in der Nachbarrepublik Inguschetien etwa 150.000 Tschetschenen auf, davon ein Drittel in Zeltlagern und zwei Drittel in Gastfamilien bzw. Notunterkünften. Diese Zahl hat sich mittlerweile vermindert, weil tschetschenische Flüchtlinge aufgrund finanzieller Anreize, wegen der Schließung von Flüchtlingslagern oder infolge psychologischen Drucks zu einer "freiwilligen" Rückkehr in ihr Heimatland veranlasst wurden. Im Januar 2004 soll die Zahl der Flüchtlinge in Inguschetien noch ca. 50.000 bis 60.000 betragen haben (rund 23.000 in provisorischen Unterkünften, ca. 36.000 in privater Unterbringung und rund 7.000 bis 8.000 in Flüchtlingslagern). Nach der mittlerweile vollständigen Auflösung aller Flüchtlingslager sollen sich im Herbst 2004 noch ca. 40.000 Tschetschenen in Inguschetien aufgehalten haben (AA, Ad hoc-Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Tschetschenien] vom 16.2.2004 [Stand: 31.1.2004], S. 13, und vom 13.12.2004, S. 9, sowie Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 26.3.2004, S. 11; Amnesty International [AI], Jahresbericht 2004, S. 522; Bericht des [deutschen] Ländervertreters über die Tagung der Arbeitsgruppe EURASIL der Europäischen Union an das Büro des Ausschusses für Fragen der Europäischen Union des Bundesrates [8.7.2004], S. 4; Menschenrechtszentrum "Memorial", Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation [Juni 2003 - Mai 2004], Moskau [2004], S. 7 f. und 45 ff.).

In der östlich an Tschetschenien grenzenden russischen Teilrepublik Dagestan hält sich ebenfalls eine Vielzahl tschetschenischer Flüchtlinge auf. Das Auswärtige Amt geht von etwa 10.000 Personen aus (AA, Ad hoc-Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Tschetschenien] vom 16.2.2004 (Stand: 31.1.2004], S. 13, und vom 13.12.2004, S. 9).

Nach Erkenntnissen des Österreichischen Asylbundesamtes leben 40.000 bis 45.000 ethnische Tschetschenen im Gebiet Rostow, 15.000 im Gebiet Saratow, 18.000 bis 20.000 in der Gegend von St. Petersburg, 4.000 im Gebiet Tambow und 1.500 im Gebiet Ufa. Als andere Bereiche mit einem hohen tschetschenischen Bevölkerungsanteil außerhalb des Kaukasus werden die Republik Komi und die Gebiete von Tiumen, Wladimir, Wolgograd sowie Astrachan bezeichnet (European Commission - Eurasil, Compilation of the replies from Member States to the Questionnaire on asylum seekers originating from Chechnya [Eurasil Meeting vom 1./2.7.2004], S. 7 f.; vgl. auch BAFl, Russische Föderation - Checklist Tschetschenien - [August 2003], S. 5 ff.).

Das Auswärtige Amt teilt - insofern allerdings ohne zu differenzieren - mit, dass Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens vor allem in Südrussland leben, in der Wolgaregion allein 50.000 (AA, Auskunft vom 22.1.2003 an das BAFl und Ad hoc-Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Tschetschenien] vom 16.2.2004 [Stand: 31.1.2004], S. 13 und 19, sowie vom 13.12.2004, S. 9).

Darüber hinaus gibt es in allen russischen Großstädten einen großen, bereits früher bestehenden und durch den Zufluss von Flüchtlingen noch gewachsenen tschetschenischen Personenkreis. Allein in der russischen Hauptstadt Moskau halten sich sehr viele Tschetschenen auf, von denen eine große Anzahl keine Flüchtlinge sind, unter anderem auch Tschetschenen mit erheblichem wirtschaftlichen und finanziellen Einfluss sowie tschetschenische Parlamentsabgeordnete. Die Angaben zur Zahl der in Moskau lebenden Tschetschenen schwanken zwischen 100.000 und 200.000 Personen (AA, Auskunft vom 22.1.2003 an das BAFl, Ad hoc-Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Tschetschenien] vom 16.2.2004 [Stand: 31.1.2004], S. 13 und 19, und vom 13.12.2004, S. 9, sowie Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 26.3.2004, S. 6; UNHCR, Paper on Asylum Seekers from the Russian Federation in the context of the situation in Chechnya [Februar 2003], S. 22 und 26; BAFl, Russische Föderation - Information -: Workshop Russland/Tschetschenien vom 24. - 25.3.2004 - Hintergründe des Tschetschenienkonfliktes - Innenpolitische Entwicklung unter Präsident Putin - Rechtsprechungsübersicht [April 2004], S. 11).

2. Neben der vorbeschriebenen faktischen Niederlassungsmöglichkeit steht Tschetschenen in sonstigen Bereichen der Russischen Föderation außerhalb ihres Heimatlandes die Möglichkeit einer Aufenthaltsnahme im Grundsatz auch von Rechts wegen zu.

Wie alle russischen Staatsbürger haben Tschetschenen das in Art. 27 der Russischen Verfassung verankerte Recht der Freizügigkeit, der freien Wahl des Wohnsitzes und des zeitweiligen Aufenthaltes in der Russischen Föderation außerhalb ihrer Heimatrepublik. Voraussetzung eines legalen Aufenthaltes ist eine Registrierung, die wiederum Voraussetzung für den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem ist. Das Gesetz der Russischen Föderation über Freizügigkeit und die Wahl des Aufenthalts- und Wohnortes im Hoheitsgebiet der Russischen Föderation vom 25.6.1993 (Föderationsgesetz Nr. 5242/1) sieht eine Registrierung am Wohnsitz ("dauerhafte Registrierung") oder eine solche am gegenwärtigen Aufenthaltsort ("vorübergehende Registrierung") vor, bei dem die Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren Aufenthalts- bzw. Wohnort melden. Voraussetzung für eine Registrierung ist der Nachweis einer Wohnung bzw. Unterkunft. Das zuvor geltende "Propiska"-System ist abgeschafft. Dieses sah nicht nur die Meldung durch den Bürger, sondern auch eine Gestattung durch die Behörde vor (AA, Auskünfte vom 20.10.2003 an das VG Braunschweig, vom 12.11.2003 an den Bay. VGH und vom 19.1.2004 an das OVG Rh.-Pf. sowie Ad hoc-Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Tschetschenien] vom 16.2.2004 [Stand: 31.1.2004], S. 18 f., und vom 13.12.2004, S. 13 f. ; AI, Auskunft vom 16.4.2004 an den Bay. VGH; UNHCR, Auskunft vom 29.10.2003 an den Bay. VGH und Paper on Asylum Seekers from the Russian Federation in the context of the situation in Chechnya [Februar 2003], S. 14).

Gegen eine unberechtigte Ablehnung der Registrierung bei Vorliegen aller Erfordernisse kann gerichtlich vorgegangen werden. Fälle, in denen Tschetschenen wegen ihrer Ethnie vor Gericht benachteiligt wurden, sind dem Auswärtigen Amt nicht bekannt geworden (AA, Auskunft vom 2.4.2004 an das VG Koblenz). Zur Durchsetzung ihrer Rechte können sich Tschetschenen insbesondere an die russische Menschenrechtsorganisation "Memorial" wenden. Diese Organisation ist mit über 50 Filialen in 47 Regionen der Russischen Föderation vertreten und unterstützt Hilfesuchende bis hin zur gerichtlichen Durchsetzung ihrer Rechte. Auch andere Nichtregierungsorganisationen und Beratungsstellen helfen bei der Beschaffung einer Registrierung (Menschenrechtszentrum "Memorial", Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation [Juni 2003 - Mai 2004], Moskau [2004], S. 6, 35 ff.; AA, Auskünfte vom 20.10.2003 an das VG Braunschweig und vom 16.12.2003 an das VG Schleswig; ACCORD, Russische Föderation - Innerstaatliche Fluchtalternative für Tschetschenen - Rückkehrmöglichkeiten [6.10.2004], S. 3).

Eine rechtlich abgesicherte restriktive oder diskriminierende Verwaltungspraxis ergibt sich schließlich nicht aus dem "Befehl des Ministeriums des Innern der Russischen Föderation Nr. 541 vom 17.9.1999" (So auch Thür. OVG, Urteil vom 16.12.2004 - 3 KO 1003/04 -, n. v.). Dieser dem Senat in mehreren Verfahren tschetschenischer Asylbewerber zu den Akten gereichte Befehl existiert (so) nicht (wird ausgeführt).

3. Der faktisch möglichen und rechtlich im Grundsatz gewährleisteten Niederlassungsmöglichkeit für Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens stehen keine staatlichen Maßnahmen entgegen, die ein Abschiebungshindernis darstellen könnten. Mancherorts gegebene behördliche Verweigerungen einer Registrierung (a) oder in bestimmten Bereichen der Russischen Föderation festzustellende sonstige staatliche Maßnahmen (b) begründen vorbehaltlich besonderer Einzelfallumstände keinen generellen Abschiebungsschutz. Tschetschenen droht außerhalb Tschetscheniens auch keine im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG relevante Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure (c).

a) Nach der gesamten Auskunftslage ist zwar davon auszugehen, dass Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens trotz der formellen Abschaffung des "Propiska"-Systems und der Einführung einer bloßen Registrierung in bestimmten Städten und Gebieten der Russischen Föderation Schwierigkeiten haben, eine offizielle Registrierung zu erhalten (aa). Dessen ungeachtet müssen sie jedenfalls keine zwangsweise Rückführung nach Tschetschenien befürchten (bb).

aa) Manche Regionalbehörden der Russischen Föderation wenden unbeschadet der formellen Abschaffung der "Propiska" gerade bei der Registrierung zuziehender Tschetschenen weiterhin restriktive örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken an. So berichten das Auswärtige Amt und Amnesty International insoweit übereinstimmend, dass insbesondere in den Großstädten Moskau und St. Petersburg (und deren jeweiliger Umgebung) Tschetschenen häufig eine Registrierung verweigert wird (AA, Ad hoc-Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Tschetschenien] vom 16.2.2004 [Stand: 31.1.2004], S. 18 f., und vom 13.12.2004, S. 13 f., sowie Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 26.3.2004, S. 6 und 12; AI, Russian Federation - AI statement on the situation of Chechen asylum-seekers [März 2004], S. 3.; vgl. auch UNHCR, Paper on Asylum Seekers from the Russian Federation in the context of the situation in Chechnya [Februar 2003], S. 14 f.; Gesellschaft für bedrohte Völker [GfbV], Stellungnahme zur Situation Tschetschenischer Flüchtlinge auf dem Territorium der Russischen Föderation [März 2004], S. 4 f.).

Allerdings ist in Moskau und St. Petersburg bzw. in der Umgebung dieser Großstädte der Zuzug von Personen jeglicher Volkszugehörigkeit erschwert, also nicht nur von Tschetschenen. Denn es muss Wohnraum nachgewiesen werden, der wiederum teuer ist (AA, Auskunft vom 12.11.2003 an den Bay. VGH und Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 26.3.2004, S. 12; UNHCR, Paper on Asylum Seekers from the Russian Federation in the context of the situation in Chechnya [Februar 2003], S. 22 f.; ACCORD, Russische Föderation - Innerstaatliche Fluchtalternative für Tschetschenen - Rückkehrmöglichkeiten [6.10.2004], S. 3). Im Übrigen richtet sich die mögliche Ablehnung einer behördlichen Registrierung nicht speziell gegen Tschetschenen oder sonstige aus dem Nordkaukasus stammende Personen. Dies gilt auch, soweit nach den jüngsten Terroranschlägen, die von tschetschenischen Separatisten begangen wurden oder ihnen zugeschrieben werden, weitere Niederlassungsbeschränkungen für Moskau geplant sind (SZ vom 1.10.2004: Held der Sowjetunion). Insofern soll nämlich die Niederlassungsfreiheit nicht-russischer Minderheiten in der Hauptstadt nur an ein bestimmtes Kontingent gebunden werden. Damit knüpft eine mögliche Verweigerung der Registrierung nicht an die ethnische Herkunft an. Aber selbst bei einem Zuzug nach Moskau können Tschetschenen nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes jedenfalls dann (legale) Aufnahme finden, wenn sie auf ein Netzwerk von Bekannten oder Verwandten zurückgreifen können. Hilfreich seien insofern wirtschaftlich und finanziell einflussreiche Tschetschenen, die humanitäre Hilfe leisteten, und zahlreiche tschetschenische Organisationen, welche die Interessen von Tschetschenen gegenüber lokalen und zentralen Behörden artikulierten (AA, Ad hoc-Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Tschetschenien] vom 16.2.2004 [Stand: 31.1.2004], S. 19, und vom 13.12.2004, S. 14; Menschenrechtszentrum "Memorial", Russland: Binnenflüchtlinge aus Tschetschenien [Juni 2002 - Mai 2003], Moskau [2003], S. 20 ff.; Bericht des [deutschen] Ländervertreters über die Tagung der Arbeitsgruppe EURASIL der Europäischen Union an das Büro des Ausschusses für Fragen der Europäischen Union des Bundesrates vom 8.7.2004, S. 7).

Über weitere Registrierungshindernisse bzw. restriktive Registrierungspraktiken berichten Amnesty International und der UNHCR hinsichtlich der Städte bzw. Regionen Kaliningrad, Nischnij Nowgorod und Wolgograd sowie in Bezug auf die südlichen Regionen bzw. Republiken Stawropol, Krasnodar, Kabardino-Balkarien, Karatschajewo-Tscherkessien und Nordossetien-Alanien sowie im sibirischen Gebiet Tomsk. Allerdings nennen diese beiden Institutionen keine konkreten Beispiele oder Zahlen. Die von der Gesellschaft für bedrohte Völker aus einzelnen Gebieten bzw. Städten belegten Beispiele betreffen nur Einzelfälle und lassen keinen repräsentativen Querschnitt erkennen (AI, Russian Federation - AI statement on the situation of Chechen asylum-seekers [März 2004], S. 3, und Auskunft vom 16.4.2004 an den Bay. VGH; UNHCR, Paper on Asylum Seekers from the Russian Federation in the context of the situation in Chechnya [Februar 2003], S. 14 [dort Fn. 35] und 20 ff.; GfbV, Stellungnahme zur Situation Tschetschenischer Flüchtlinge auf dem Territorium der Russischen Föderation [März 2004], S. 4 f.).

Demgegenüber hat das Auswärtige Amt mitgeteilt, dass ihm keine Erkenntnisse über spezifische Zuzugsbeschränkungen in Stawropol, Kabardino-Balkarien und der Wolgaregion vorlägen; es werde lediglich darüber berichtet, dass von dritter Seite bereichsweise anti-kaukasische Ressentiments bestehen bzw. häufig verstärkte Kontrollen junger Männer kaukasischen Aussehens stattfinden (AA, Auskunft vom 22.1.2003 an das BAFl). Ob die insbesondere auf den Einschätzungen des UNHCR beruhende Beurteilung des Bay. VGH zu teilen ist, Tschetschenen könnten wegen der negativen Registrierungspraxis in der Republik Kabardino-Balkarien und in den Regionen Krasnodar sowie Stawropol keine inländische Fluchtalternative finden, kann letztlich offen bleiben (Bay. VGH, Urteil vom 31.1.2005 - 11 B 02.31597 -, a. a. O.). Denn tschetschenischen Volkszugehörigen stehen nach dem vorstehend Dargelegten vor allem in Südrussland, insbesondere in Dagestan, der Wolgaregion, westlich des Urals und auch in sonstigen Bereichen der Russischen Föderation Orte zur Verfügung, an denen sie sich niederlassen können. Dort ist eine Registrierung auch grundsätzlich leichter als etwa in Moskau zu erlangen, vor allem weil der als Registrierungsvoraussetzung notwendige Wohnraum finanziell erheblich günstiger ist (AA, Ad hoc-Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Tschetschenien] vom 16.2.2004 [Stand: 31.1.2004], S. 19, und vom 13.12.2004, S. 14, sowie Auskunft vom 19.1.2004 an das OVG Rh.-Pf.; siehe auch ACCORD, Russische Föderation - Innerstaatliche Fluchtalternative für Tschetschenen - Rückkehrmöglichkeiten [6.10.2004], S. 3).

Ganz allgemein steht Tschetschenen für den Fall, dass es regional zu Schwierigkeiten bei einer Registrierung kommen sollte, ein Netzwerk unterstützender Organisationen zur Verfügung. Es gibt zahlreiche russische Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen, die in der gesamten Russischen Föderation oder jedenfalls in den wichtigsten Gebieten vertreten sind. So besteht etwa das vom Menschenrechtszentrum "Memorial" ins Leben gerufene Netzwerk "Migration und Recht" sowie das "Komitee Bürgerbeteiligung" mit Sitz in Moskau. Diese Organisationen haben mittlerweile russlandweit über 50 Beratungsstellen, die als Anlaufstellen Flüchtlingen kostenlose Beratung bieten und auch mit Juristen besetzt sind (Menschenrechtszentrum "Memorial", Russland: Binnenflüchtlinge aus Tschetschenien [Juni 2002 - Mai 2003], Moskau [Mai 2003], S. 2, und Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation [Juni 2003 - Mai 2004], Moskau [2004], S. 6 und 35 ff.; GfbV, Stellungnahme zur Situation Tschetschenischer Flüchtlinge auf dem Territorium der Russischen Föderation [März 2004], S. 2; ACCORD, Russische Föderation - Innerstaatliche Fluchtalternative für Tschetschenen - Rückkehrmöglichkeiten [6.10. 2004], S. 3). Eine Liste der juristischen Beratungsstellen des Netzwerkes "Migration und Recht" und des "Komitees Bürgerbeteiligung" befindet sich in Anlage 1 der Stellungnahme von "Memorial" aus dem Jahr 2002 (Nach der Flucht aus Tschetschenien - Russland: Zur Situation von Menschen die aus Tschetschenien geflohen sind). Diese Beratungsstellen unterstützen insbesondere auch tschetschenische Bürger im Falle der Behinderung oder Ablehnung einer Registrierung (Menschenrechtszentrum "Memorial", Russland: Binnenflüchtlinge aus Tschetschenien [Juni 2002 - Mai 2003], Moskau [Mai 2003], S. 20 ff.; Bericht des [deutschen] Ländervertreters über die Tagung der Arbeitsgruppe EURASIL der Europäischen Union an das Büro des Ausschusses für Fragen der Europäischen Union des Bundesrates vom 8.7.2004, S. 7).

Zusammenfassend lässt sich daher feststellen, dass Tschetschenen trotz regionaler Registrierungserschwernisse in vielen Bereichen der Russischen Föderation ein legaler Zuzug möglich ist und von ihnen unter gebührlicher Anstrengung zu erreichen ist. Der Senat verkennt bei dieser Beurteilung nicht, dass die Erlangung einer Registrierung unter Umständen mit Schwierigkeiten verbunden sein kann. Er hält es aber für zumutbar, dass Betroffene sich gegen eine negative Behördenentscheidung - gegebenenfalls mit Hilfe Dritter, wie etwa der Menschenrechtsorganisation "Memorial" oder anderer Hilfsorganisationen - wenden und ihre Rechte notfalls auch auf dem Rechtsweg durchsetzen. In dieser Hinsicht ist es Tschetschenen im Übrigen auch zuzumuten, in wirtschaftlich weniger interessanten Regionen Russlands einen Aufenthalt zu nehmen.

bb) Selbst wenn tschetschenischen Volkszugehörigen in manchen Bereichen der Russischen Föderation eine Registrierung rechtswidrig verweigert werden und ihr Aufenthalt damit von Rechts wegen nicht abgesichert sein sollte, haben sie jedenfalls nicht zu befürchten, aufgrund behördlicher Maßnahmen zwangsweise wieder in Heimatland zurückkehren zu müssen (wird ausgeführt).

b) Sonstige staatliche oder dem Staat zuzurechnende Maßnahmen gegenüber tschetschenischen Volkszugehörigen begründen in aller Regel ebenfalls kein Abschiebungshindernis. Tschetschenen unterliegen außerhalb Tschetscheniens wegen ihrer Volkszugehörigkeit keiner unmittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung. Die Annahme einer solchen, alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus, welche die "Regelvermutung" eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (zum Asylrecht: BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 [203]).

aa) Nach den vorliegenden Erkenntnissen ist zwar davon auszugehen, dass seit dem Beginn des zweiten Tschetschenien-Konflikts und insbesondere seit der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater sowie nach den tschetschenischen Separatisten zugeschriebenen und bis in die jüngste Vergangenheit anhaltenden Terroranschlägen Tschetschenen ebenso wie andere Personen kaukasischer Herkunft bzw. vermeintlich "südländischen" oder "kaukasischen" Aussehens vorwiegend in den Großstädten Moskau und St. Petersburg, aber auch in anderen Bereichen der Russischen Föderation, diskriminierenden Maßnahmen ausgesetzt sein können. Neben den vorbeschriebenen Schwierigkeiten, auf legalem Weg eine Wohnungsregistrierung zu erhalten, werden insoweit - zum Teil ohne rechtliche Grundlage - Personenkontrollen, Wohnungsdurchsuchungen, Festnahmen, Strafverfahren, Kündigungsdruck auf Arbeitgeber und Vermieter und ähnliches genannt (AA, Ad hoc-Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Tschetschenien] vom 16.2.2004 [Stand: 31.1.2004], S. 20, und vom 13.12.2004, S. 12, sowie Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 26.3.2004, S. 6 und 12; AI, Russian Federation - AI statement on the situation of Chechen asylum-seekers [März 2004], S. 2, und Auskunft vom 16.4.2004 an den Bay. VGH; UNHCR, Paper on Asylum Seekers from the Russian Federation in the context of the situation in Chechnya [Februar 2003], S. 22 ff.; Menschenrechtszentrum "Memorial", Russland: Binnenflüchtlinge aus Tschetschenien [Juni 2002 - Mai 2003], Moskau [Mai 2003], S. 15 und 23 ff., und Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation [Juni 2003 - Mai 2004], Moskau [2004], S. 46 ff.; U. S. Department of State, Russia - Country Reports on Human Rights Practices - 2004 [28.2.2005], Section 1 d., 2 d. und 5).

Kontrollen als solche, wie zum Beispiel Wohnungsdurchsuchungen oder Razzien, seien sie rechtmäßig oder seien sie illegal, erreichen aber bereits nicht die notwendige Eingriffsintensität. Maßnahmen, die nicht mit einer Gefahr für Leib und Leben oder Beschränkungen der persönlichen Freiheit verbunden sind, bilden nur dann einen Verfolgungstatbestand, wenn sie nach Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des jeweiligen Landes auf Grund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben (BVerwG, Urteil vom 24.3.1987 - 9 C 321.85 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 64, S. 17).

Sofern staatliche Handlungen, insbesondere solche der Miliz, des russischen Geheimdienstes FSB oder der Truppen des Innenministeriums (Omon), nach Intensität und Schwere ein für die Gewährung von Abschiebungsschutz relevantes Ausmaß und Gewicht erreichen sollten, begründet dies ebenfalls keinen Abschiebungsschutz. Zwar ist in der Russischen Föderation die Gefahr nicht gänzlich auszuschließen, bei Verhaftungen, im Polizeigewahrsam oder während einer Untersuchungshaft Opfer von Menschenrechtsverletzungen (Folter und andere grausame bzw. erniedrigende Behandlung) zu werden, insbesondere um Informationen zu erpressen. Hierauf haben Menschenrechtsorganisationen immer wieder hingewiesen, auch hat der Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation derartige Vorkommnisse eingeräumt (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 26.3.2004, S. 12; U. S. Department of State, Russia - Country Report on Human Rights Practices - 2004 [28.2.2005], Section 1 c.).

Die dem Senat vorliegenden Presseberichte bestätigen ebenfalls, dass es in Russland im Polizeigewahrsam zu Körperverletzungen und Folter kommen kann. Im Einzelfall soll es sogar zu Todesopfern gekommen sein. Allerdings haben solche Übergriffe, sofern sie bekannt geworden sind, zu Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft gegen die betreffenden Ordnungskräfte und gegebenenfalls zu Strafverfahren geführt. So sind beispielsweise im Jahr 2002 in Russland 21.000 Polizisten wegen Rechtsverstößen bestraft worden (BZ vom 22.9.2004: Ermittlung nach Tod in Haft; NZZ vom 10.2.2003: Rücktritt des Regierungschefs in Tschetschenien, und vom 29.9.2004: Neue Terror-Enthüllungen in Moskau; Die Zeit vom 24.9.2004: Der falsche "Neger" von Beslan). Übergriffe der Sicherheitskräfte betreffen aber nicht in einem besonderen Maß nur Tschetschenen, sondern sind ein allgemeines Phänomen, von dem die gesamte russische Bevölkerung betroffen ist (Handelsblatt vom 10.8.2004: Russlands Bürger leiden unter der Willkür der Milizen; U. S. Department of State, Russia - Country Reports on Human Rights Practices - 2004 [28.2.2005], Section 1 c.).

Unabhängig davon kann der Senat jedenfalls bei einer zusammenfassenden Würdigung der vorliegenden Erkenntnisse nicht feststellen, ethnische Tschetschenen würden russlandweit real die Gefahr laufen, das Opfer solcher Maßnahmen zu werden. Das AA kann den Umfang sicherheitsbehördlicher Übergriffe nicht quantifizieren (AA, Auskunft vom 19.1.2004 an das OVG Rh.-Pf.). Die insbesondere von Menschenrechtsorganisationen dokumentierte Anzahl der Fälle lässt bei objektiver Betrachtung im Verhältnis zu der Menge der außerhalb Tschetscheniens sich aufhaltenden Tschetschenen nicht den Schluss zu, ein Tschetschene sei wegen seiner Volkszugehörigkeit in dem für die hier zu treffende Prognose erforderlichen Maße von Übergriffen russischer Sicherheitskräfte besonders bedroht. AI berichtet in einer Auskunft neueren Datums davon, dass sich "gewaltsame Übergriffe" gegen Tschetschenen "verschärfen" würden, nennt aber weder konkrete Fälle noch Zahlen (AI, Auskunft vom 16.4.2004 an den Bay. VGH). Die russlandweit vertretene Menschenrechtsorganisation "Memorial" hat trotz ihres weiten Tätigkeitsfeldes und des sich selbst auferlegten Engagements in ihren beiden letzten Berichten speziell zu Moskau nur weniger als zwei Dutzend Fälle als Beispiele eines rechtswidrigen Handelns russischer Sicherheitskräfte und Justizorgane anführen können (Menschenrechtszentrum "Memorial", Russland: Binnenflüchtlinge aus Tschetschenien [Juni 2002 - Mai 2003], Moskau [Mai 2003], S. 23 ff., und Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation [Juni 2003 - Mai 2004], Moskau [2004], S. 51 ff. und 65 ff.).

Nach dem vorstehend Dargelegten, ist es daher zwar nicht gänzlich auszuschließen, dass Tschetschenen außerhalb ihrer Heimatrepublik in Russland das Opfer eines dem Staat zuzurechnenden Übergriffs werden können. Es ist allerdings über eine "theoretische" Möglichkeit, Opfer eines Übergriffs zu werden, zusätzlich erforderlich, dass objektive Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernt und damit als "reale" Möglichkeit erscheinen lassen (BVerwG, Urteil vom 8.9.1992 - 9 C 62.91 -, NVwZ 1993, 191 [192], und Beschluss vom 11.10.2000 - 9 B 349.00 -, Buchholz 11 Art. 16a GG Nr. 33, S. 32).

Auch in Inguschetien werden, so das AA, die Flüchtlinge von russischen Soldaten stärker kontrolliert und bewacht, was als Bedrohung empfunden wird. Übergriffe wurden jedoch nicht gemeldet (AA, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Tschetschenien] vom 16.2.2004 [Stand: 31.1.2004], S. 15). Von verstärkten Kontrollen, Razzien und russischen Militäroperationen auf inguschetischem Gebiet seit Mitte 2003 berichten ebenfalls AI und der UNHCR. Nach diesen Auskunftsquellen soll es im Zuge dieser Aktionen zu willkürlichen Festnahmen, Inhaftierungen, Misshandlungen und Plünderungen gekommen sein; Personen seien "verschwunden". Namentlich erwähnt werden indessen nur die Fälle von zwei Tschetschenen, von denen einer zu Tode gekommen und der andere während seiner Inhaftierung gefoltert worden sei. Dass es sich bei den Tätern um russische Sicherheitskräfte gehandelt hat, wird von AI aber nur vermutet (AI, Jahresbericht 2004, S. 522, und Auskunft vom 16.4.2004 an den Bay. VGH; UNHCR, Auskunft vom 29.10.2003 an den Bay. VGH). Die russische Menschenrechtsorganisation "Memorial" berichtet für den Monat März 2004 von drei Fällen eines Übergriffs von Bewaffneten auf Zivilisten in Inguschetien. Ein Ingusche soll von Geheimdienstmitarbeitern entführt und nach Tschetschenien verschleppt worden sein; staatsanwaltschaftliche Ermittlungen hätten noch kein Ergebnis erbracht. In einem weiteren Fall sei ein Privatwagen von einem russischen Militärhubschrauber angegriffen und auf die flüchtenden Insassen geschossen worden, wobei es zu zwei Toten gekommen sei; die inguschetische Staatsanwaltschaft ermittle. Im dritten Fall sei bei einer Fahrzeugkontrolle der Fahrer von Bewaffneten erschossen und Augenzeugen beschossen worden, wobei ein Augenzeuge seinen Verletzungen erlegen sei; Täter seien Mitglieder des inguschetischen Geheimdienstes gewesen (Menschenrechtszentrum "Memorial", Joint Statement by Amnesty International, Human Rights Watch, the Medical Foundation for the Care of Victims of Torture, and Memorial, The Situation in Chechnya and Ingushetia Deteriorates. New Evidence of Enforced Disappearences, Rape, Torture, and Extrajudicial Executions vom 8.4.2004). Allerdings ergibt sich aus diesem Bericht nicht, dass Opfer der - nur möglicherweise staatlichen - Übergriffe ethnische Tschetschenen oder ihnen zuzurechnende Personen waren, ebenso wenig wird über einen unmittelbaren Bezug zum schwelenden Tschetschenienkonflikt berichtet oder ein solcher deutlich erkennbar. Ob aus der vorstehend beschriebenen Lage der Tschetschenen in Inguschetien bereits der Schluss gezogen werden kann, diese russische Teilrepublik scheide als hinreichend sicherer Ort einer inländischen Fluchtalternative aus (so Bay. VGH, Urteil vom 31.1.2005 - 11 B 02.31597 -, a. a. O.), kann auf sich beruhen, da jedenfalls außerhalb Inguschetiens keine staatlichen Übergriffe in einem abschiebungsschutzrechtlich relevanten Ausmaß festzustellen sind.

bb) Mögliche staatliche Kontrollmaßnahmen bei einer Rückkehr in die Russische Föderation, denen (abgeschobene) Tschetschenen unterliegen könnten, stellen die Annahme einer hinreichenden Sicherheit vor Abschiebungsschutz begründender politischer Verfolgung nicht in Frage.

Nach Auffassung des AA ist davon auszugehen, dass abgeschobenen Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, insbesondere solchen, die sich in der Tschetschenienfrage engagiert haben bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellen (AA, Ad hoc-Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Tschetschenien] vom 16.2.2004 [Stand: 31.1.2004], S. 18, und vom 13.12.2004, S. 13, und Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 26.3.2004, S. 18). Diese Einschätzung ist mit Blick auf den nach wie vor andauernden Tschetschenien-Konflikt und die weiterhin anhaltenden Terroranschläge tschetschenischer Separatisten ohne weiteres nachzuvollziehen. Allerdings liegen dem Senat nach der gesamten Auskunftslage keine Erkenntnisse vor, dass tschetschenische Volkszugehörige im Allgemeinen bei einer Rückführung zwangsläufig besonderen Repressionen ausgesetzt sind. Für 2002 wird nach Angaben einer russischen Menschenrechtsorganisation über eine verschwundene und eine weitere Person berichtet, die nach der Einreise von Grenzbeamten festgehalten und geschlagen worden, später aber freigekommen und untergetaucht sein soll. Für die Jahre 2003 und 2004 sind ebenfalls nur Einzelfälle abgeschobener Asylbewerbern genannt geworden, die nach ihrer Einreise in Russland festgenommen, geschlagen und beraubt worden sein sollen. Diese Vorwürfe haben sich aber nicht bestätigt (AA, Ad hoc-Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Tschetschenien] vom 16.2.2004 [Stand: 31.1.2004], S. 18, und vom 13.12.2004, S. 13, und Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 26.3.2004, S. 18; siehe auch GfbV, Schreiben vom 11.2.2004 an das OVG NRW).

Nach den Angaben von AI, die auf "Berichten" - indessen ohne Verdeutlichung deren Urheberschaft - beruhen, werden viele aus Europa nach Moskau abgeschobene tschetschenische Asylbewerber nach ihrer Rückkehr am Moskauer Flughafen ausführlich befragt. Manchen seien von Sicherheitskräften Geldmittel oder andere Gegenstände abgenommen worden (AI, Russian Federation - AI statement on the situation of chechen asylum-seekers [März 2004], S. 5, und Bericht vom März 2004, Asylmagazin 5/2004, S. 20; siehe auch GfbV, Schreiben vom 11.2.2004 an das OVG NRW). Eine ausführliche Befragung abgeschobener Asylbewerber, wie sie auch vom AA bestätigt wird (AA, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Tschetschenien] vom 13.12.2004, S. 13), ist aber keine abschiebungsschutzrechtlich bedeutsame Verfolgung.

Übergriffe von Sicherheitskräften auf Hab und Gut von abgeschobenen Tschetschenen sind unabhängig davon, ob es sich nicht möglicherweise um sog. Amtswalterexzesse handelt (BVerfG, Beschlüsse vom 10.7.1989 - 2 BvR 502, 1000 und 961/86 -, BVerfGE 80, 315 [352], vom 20.5.1992 - 2 BvR 205/92 -, NVwZ 1992, 1081 [1083], und vom 8.6.2000 - 2 BvR 81/00 -, InfAuslR 2000, 457 [458]), unter dem hier maßgeblichen Blickwinkel irrelevant. Denn das Erpressen von Geldzahlungen oder der Herausgabe von Wertgegenständen ist kriminelles Unrecht. Derartigen Maßnahmen mit wirtschaftlichem Hintergrund fehlt, selbst wenn deren Urheber staatliche Organe sind, die erforderliche politische Motivation (BVerwG, Urteile vom 18.10.1983 - 9 C 801.80 -, Buchholz 402.25 § 6 AsylVfG Nr. 1, S. 2, und vom 20.6.1995 - 9 C 294.94 -, InfAuslR 1995, 422 [424], sowie Beschluss vom 15.2.1999 - 9 B 520.98 -, juris).

Im Übrigen sind Fälle, in denen Tschetschenen nach ihrer Abschiebung in die Russische Föderation zwangsweise nach Tschetschenien zurückgeführt worden wären, AI nicht bekannt geworden (AI, Auskunft vom 16.4.2004 an den Bay. VGH). In der vorzitierten Auskunft und in einem vorausgegangenen Bericht dieser Menschenrechtsorganisation wird lediglich der Fall eines Tschetschenen erwähnt, der im Jahr 2002 abgeschoben, nach seiner Ankunft am Moskauer Flughafen von russischen Sicherheitskräften festgehalten und nach seinen Brüdern - tschetschenischen Kämpfern - befragt worden sei. Auf Druck sei er weiter nach Inguschetien geflogen und auch dort von Mitarbeitern des russischen Geheimdienstes festgenommen, befragt und geschlagen worden. Erst nach Zahlung eines Bestechungsgeldes durch seine Familie sei er freigekommen (AI, Bericht vom März 2004, Asylmagazin 5/2004, S. 20 f.; der UNHCR beruft sich in seiner Auskunft vom 29.10. 2003 an den Bay. VGH auf den gleichen Fall).

cc) Aus Gründen der Klarstellung merkt der Senat noch Folgendes an: Die vorstehende Beurteilung, wonach Tschetschenen eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht, gilt nur für den Regelfall. Im Falle politisch Verdächtiger, die sich in der Tschetschenien-Frage besonders engagiert haben und von der russischen Staatsgewalt wegen dieses Engagements oder einer nur vermuteten Involvierung konkret verdächtigt bzw. gesucht werden, kann eine inländische Fluchtalternative nicht ohne weiteres bejaht werden. Für solche Personen wird angesichts der vorbeschriebenen staatlichen Übergriffe, die vorgekommen sind und für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden können, die Gefahr einer Verfolgung nicht mit der erforderlichen Sicherheit zu verneinen sein.

Die Beigeladene ist diesem Personenkreis aber nicht zuzurechnen (wird ausgeführt).

c) Tschetschenen drohen bei einer Aufenthaltnahme außerhalb Tschetscheniens in sonstigen Landesteilen der Russischen Föderation keine Übergriffe Dritter in einem Ausmaß, dass bei dem Prognosemaßstab der "hinreichenden Sicherheit" anzunehmen wäre, es liege die Gefahr einer im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG relevanten Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure vor (wird ausgeführt).

4. Eine Ausweichmöglichkeit für tschetschenische Volkszugehörige in andere Bereiche der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens scheidet auch nicht wegen einer etwaigen Gefährdung des wirtschaftlichen und sozialen Existenzminimums aus.

Andere als durch die politische Verfolgung bedingte Nachteile und Gefahren, die an einem verfolgungssicheren Ort drohen, schließen diesen Ort als inländische Fluchtalternative nur dann aus, wenn eine gleichartige existenzielle Gefährdung am Herkunftsort nicht bestünde. Dem regional Verfolgten darf zwar nicht zugemutet werden, sich in eine existenzielle Notlage zu begeben, um einer Verfolgung zu entgehen. Wenn er aber dieser Notlage bereits an seinem Herkunftsort ausgesetzt war, so erleidet er durch die Aufenthaltnahme am verfolgungssicheren Ort keine verfolgungsbedingte und darum unzumutbare Verschlechterung seiner Lebensumstände. Das Fehlen des wirtschaftlichen Existenzminimums am Ort einer inländischen Fluchtalternative ist also nur erheblich, wenn es verfolgungsbedingt ist. Der asylrechtliche Abschiebungsschutz soll nicht jedem, der in seiner Heimat in materieller Not leben muss, die Möglichkeit eröffnen, seine Heimat zu verlassen, um in Deutschland seine Lebenssituation zu verbessern. Ebenso wenig wird der Ausländer vor der Rückführung in ein verfolgungssicheres Gebiet geschützt, wenn die dort herrschende Notlage keine andere ist als die am Herkunftsort (zu § 51 Abs. 1 AuslG: BVerfG, Beschlüsse vom 10.7.1989 - 2 BvR 502, 1000 und 961/86 -, BVerfGE 80, 315 [343 f.], und vom 29.7.2003 - 2 BvR 32/03 -, DVBl. 2004, 111 [112]; BVerwG, Urteil vom 9.9.1997 - 9 C 43.96 -, BVerwGE 105, 204 [211 f.]).

Der Zeitpunkt für den Vergleich der einander gegenüberzustellenden wirtschaftlichen Situationen hängt davon ab, für welchen Zeitpunkt die Frage des Bestehens einer inländischen Fluchtalternative zu beantworten ist. War ein Ausländer bereits vorverfolgt ausgereist, kommt es für die Erheblichkeit einer wirtschaftlichen Notlage im verfolgungssicheren Gebiet darauf an, ob eine derartige wirtschaftliche Notlage im Zeitpunkt der Ausreise auch am Herkunftsort bestanden hat. Ist dies zu bejahen, ist eine Notlage im Gebiet der Fluchtalternative nicht verfolgungsbedingt. Ist davon auszugehen, dass der Ausländer nicht vorverfolgt ausgereist ist und es nur um die Frage geht, ob ihm gegenwärtig bei Rückkehr in seinen Heimatstaat eine Verfolgungsgefahr droht, muss die wirtschaftliche Lage im verfolgungsfreien Gebiet mit der Lage verglichen werden, die im Zeitpunkt der Rückkehr am Herkunftsort besteht. Besteht im Herkunftsgebiet eine entsprechende Notlage wie im verfolgungsfreien Gebiet des Herkunftsstaates, kommt Abschiebungsschutz nicht in Betracht. Denn die den Ausländer am verfolgungssicheren Ort des Heimatstaates erwartende wirtschaftliche Not ist dann nicht verfolgungsbedingt und würde ihn gegenwärtig auch am Herkunftsort betreffen (zu § 51 Abs. 1 AuslG: BVerwG, Beschluss vom 6.2.2003 - 1 B 428.02 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 266, S. 88 f., m. w. N.).

Hiervon ausgehend kann es der Senat auch in diesem Zusammenhang dahingestellt sein lassen, ob eine Vorverfolgung der Beigeladenen bei ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation gegeben war. Denn jedenfalls im jetzigen Zeitpunkt ist bei einem Vergleich zwischen der wirtschaftlichen Lage in verfolgungssicheren Teilen der Russischen Föderation und derjenigen in Tschetschenien davon auszugehen, dass die Bereiche der inländischen Fluchtalternative tschetschenischen Volkszugehörigen entweder das rechtlich ausreichende wirtschaftliche Existenzminimum bieten oder aber jedenfalls die Lage tschetschenischer Volkszugehöriger außerhalb Tschetscheniens zumindest nicht schlechter ist als in ihrem Heimatgebiet.

Im Grundsatz bietet ein verfolgungssicherer Ort dem Ausländer das wirtschaftliche Existenzminimum regelmäßig immer dann, wenn er durch eigene Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann. Das ist nicht der Fall, wenn der Asylsuchende am Ort der inländischen Fluchtalternative bei der gebotenen grundsätzlich generalisierenden Betrachtungsweise auf Dauer ein Leben zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führt, oder wenn er dort nichts anderes zu erwarten hat als ein "Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums". Hierbei schließen andere als durch politische Verfolgung bedingte Nachteile und Gefahren, die an einem verfolgungssicheren Ort drohen, diesen Ort als inländische Fluchtalternative allerdings nur aus, wenn eine gleichartige existenzielle Gefährdung am Herkunftsort nicht bestünde (zu § 51 Abs. 1 AuslG: BVerwG, Beschlüsse vom 16.6.2000 - 9 B 255.00 -, Buchholz 402.240 § 51 AuslG Nr. 34, S. 25 ff., vom 31.7.2002 - 1 B 128.02 -, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 326, S. 38 ff., und vom 21.5.2003 - 1 B 298.02 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 270, S. 91).

Die Grundversorgung der Bevölkerung in der Russischen Föderation mit Nahrungsmitteln ist vom Angebot her gewährleistet. Allerdings leben über 30 Millionen der rund 145 Millionen Russen, d. h. rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung, unter dem statistischen Existenzminimum und eine Vielzahl weiterer Personen nur an dessen Rand. Die Arbeitslosenquote lag bei ungefähr 7,5 % im Jahr 2004. Eine gegebenenfalls eingreifende staatliche Unterstützung deckt faktisch nicht einmal den Grundbedarf. Die medizinische Grundversorgung ist theoretisch grundsätzlich ausreichend und kostenfrei. Aufwändigere Behandlungen werden allerdings erst nach privater Vorfinanzierung durchgeführt, Medikamente sind regelmäßig ebenfalls nicht kostenfrei (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 26.3.2004, S. 18 f., und Auskunft der Botschaft Moskau vom 19.8.2004 an das VG Wiesbaden; BAFl, Russische Föderation - Information -: Workshop Russland/Tschetschenien vom 24.3. - 25.3.2004 - Hintergründe des Tschetschenienkonfliktes - Innenpolitische Entwicklung unter Präsident Putin - Rechtsprechungsübersicht [April 2004], S. 11; U. S. Department of State, Russia - Country Reports on Human Rights Practices - 2004 [28.2.2005], S. 1; Rinck, in: Höhrmann/Schröder, Russland unter neuer Führung, S. 160).

Wenngleich ein Anspruch auf die ohnehin sehr eingeschränkte staatliche Unterstützung im sozialen Bereich und im Gesundheitswesen an das Erfordernis einer behördlichen Registrierung geknüpft ist, rechtfertigt eine mögliche Verweigerung dieser Registrierung nicht die Annahme einer Verelendungs- oder Todesgefahr. Die Bewohner der Russischen Föderation, die unter oder nur am Rande des Existenzminimums leben, stellen in Ermangelung gegenteiliger Erkenntnisse trotz ihrer schwierigen materiellen Lage und der permanenten russischen Wirtschaftskrise ihr Überleben in verschiedener Art und Weise sicher. Dies gilt ersichtlich auch für tschetschenische Flüchtlinge, die sich außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation aufhalten. Trotz des Fehlens einer Registrierung ist auch eine medizinische Behandlung in Notfällen gewährleistet. In Moskau ist die Möglichkeit gegeben, dass Nicht-Moskauer - auch Tschetschenen - in Polikliniken behandelt werden können. Insgesamt ist nach Angaben der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial" im Gesundheitswesen eine Diskriminierung von Tschetschenen weniger spürbar (Menschenrechtszentrum "Memorial", Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation [Juni 2003 - Mai 2004], Moskau [2004], S. 57 f.).

In Inguschetien werden Flüchtlinge vom UNHCR, dem Roten Kreuz und humanitären Hilfsorganisationen unterstützt, wenn auch nur ein Mindestmaß an humanitärer Hilfe geleistet werden kann (UNHCR, Auskunft vom 29.10.2003 an den Bay. VGH; AA, Ad hoc-Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Tschetschenien] vom 16.2.2004 [Stand: 31.1.2004], S. 13 f., und vom 13.12.2004, S. 9; Rotes Kreuz, ICRC Annual Report 2003 [28.6.2004], S. 234). Hierdurch ist die Versorgung grundsätzlich, wenn auch auf niedrigem Niveau, sichergestellt. Der in Inguschetien nicht von einer Registrierung abhängige Zugang zur medizinischen Versorgung ist gegeben, die Kapazitäten sind jedoch nicht ausreichend. Dem begegnet der UNHCR in Verbindung mit der WHO durch eine Weiterleitung allerdringlichster Fälle an medizinische Einrichtungen außerhalb Inguschetiens (UNHCR , Auskunft vom 29.10.2003 an den Bay. VGH). Tschetschenische Flüchtlinge in Dagestan erfahren ebenfalls humanitäre Hilfen (Rotes Kreuz, ICRC Annual Report 2003 [28.6.2004], S. 234).

Selbst dann, wenn das wirtschaftliche und soziale Existenzminimum in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens nicht gewährleistet wäre, würde dies keinen Abschiebungsschutz rechtfertigen. Denn das Fehlen des wirtschaftlichen und sozialen Existenzminimums wäre nicht verfolgungsbedingt. Nach der vorliegenden Erkenntnislage war und ist nämlich die sozio-ökonomische Lage in Tschetschenien im Verhältnis zu anderen Regionen der Russischen Föderation weitaus schlechter. Wohnraum steht nicht ausreichend zur Verfügung, auch nicht in der Form von Übergangsunterkünften. Die Infrastruktur (Strom, Heizung, etc.) ist weitgehend zerstört. Es herrschen 80 % Arbeitslosigkeit. Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist äußerst mangelhaft, insbesondere in Grosny. Hilfslieferungen internationaler Hilfsorganisationen erfolgen nur sehr begrenzt und punktuell. Das Gesundheitssystem ist weitgehend zusammengebrochen, so dass die medizinische Versorgung unzureichend ist. Von den zugesagten 67 Milliarden Rubel Wiederaufbauhilfe sind bisher nur 10 Milliarden in der Republik eingetroffen (AA, Ad hoc-Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Tschetschenien] vom 16.2.2004 [Stand: 31.1.2004], S. 10 und 21, und vom 13.12.2004, S. 9 und 14 f.; Rotes Kreuz, ICRC Annual Report 2003 [28.6.2004], S. 232 ff.; BAFl, Russische Föderation - Checklist Tschetschenien - [August 2003], S. 43 f.; Bericht des [deutschen] Ländervertreters über die Tagung der Arbeitsgruppe EURASIL der Europäischen Union an das Büro des Ausschusses für Fragen der Europäischen Union des Bundesrates vom 8.7.2004, S. 5; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Tschetschenien und die tschetschenische Bevölkerung in der Russischen Föderation [24.5.2004], S. 4 f. und 13 ff. [z. T. abgedruckt in Asylmagazin 7-8/2004, 24 ff.]; Menschenrechtszentrum "Memorial", Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation [Juni 2003 - Mai 2004], Moskau [2004], S. 21 ff.; BAFl, Russische Föderation [Tschetschenienkonflikt] - GUS-Staaten - Erkenntnisse des Bundesamtes - Berichtszeitraum: August 2004 [Oktober 2004], S. 6).

Keiner weiteren Vertiefung bedarf hier die vom Bay. VGH aufgeworfene Frage, ob z. B. bei Kindern, bei alten, kranken oder behinderten Personen bzw. bei solchen Menschen, die aus sonstigen Gründen (z. B. weil sie für andere sorgen müssen und deshalb keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können) auch nur für eine beschränkte Zeit nicht ohne Leistungen der staatlichen Daseinsfürsorge in menschenwürdiger Weise existieren können, das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative wegen einer "ausweglosen Lage" unter Umständen zu verneinen ist (Bay. VGH, Urteil vom 31.1.2005 - 11 B 02.31597 -, a. a. O.). Denn diese Frage ist mit der Rechtsprechung des BVerfG ohne weiteres zu verneinen. Hiernach schließen nämlich andere - nicht in einer politischen Verfolgung bestehende - existenzielle Gefährdungen die Verweisung auf eine inländische Fluchtalternative nicht aus, wenn der Ausländer einer gleichartigen existenziellen Gefährdung auch am Herkunftsort ausgesetzt wäre. In einem solchen Fall liegt nämlich nicht in einer am Herkunftsort drohenden politischen Verfolgung, sondern in der auch in anderen Landesteilen drohenden sonstigen existenziellen Gefährdung der eigentliche Grund dafür, dass außerhalb des für die Schutzgewährung in erster Linie zuständigen Herkunftsstaates Schutz gesucht wird (zum Asylrecht: BVerfG, Beschluss vom 29.7.2003 - 2 BvR 32/03 -, DVBl. 2004, 111 [112]).

Für eine Schutzgewährung aus anderen Gründen als dem einer drohenden politischen Verfolgung steht als Rechtsgrundlage aber nicht der asylrechtliche Abschiebungsschutz zur Verfügung: Sie kommt nur auf der Grundlage anderer Rechtsvorschriften in Betracht, etwa nach § 60 Abs. 7 AufenthG.

5. Tschetschenen können sich auch tatsächlich in andere Bereiche der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens begeben (wird ausgeführt).

Ende der Entscheidung

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