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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 18.05.2005
Aktenzeichen: 11 A 533/05.A
Rechtsgebiete: AufenthG, AuslG, GFK, Richtlinie 2004/83/EG


Vorschriften:

AufenthG § 60 Abs 1
AuslG § 51 Abs 1
GFK Art. 1 A Nr 2
GFK Art. 33 Nr. 1
Richtlinie 2004/83/EG
1. Die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig Schutz benötigen und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304/12) - sog. Qualifikationsrichtlinie - ist bis zum Ablauf ihrer Umsetzungsfrist (10.10.2006) nicht direkt anwendbar.

2. Ein Einzelner kann sich vor den nationalen Gerichten auf eine Richtlinie erst nach Ablauf der für ihre Umsetzung in das nationale Recht vorgesehenen Frist berufen.

3. Zur Frage der Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung der Richtlinie 2004/83/EG.


Gründe:

Der Zulassungsantrag bleibt ohne Erfolg. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) führt nicht zur Zulassung der Berufung.

Die vom Kläger als grundsätzlich bedeutsam erachtete Frage, ob für den Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 GFK die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004) maßgebend sind, lässt sich ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens verneinen. Denn nach dem Regelungsgehalt und Sinnzusammenhang der Bestimmungen der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig Schutz benötigen und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304/12) sind gerade nicht die Bestimmungen der Richtlinie für den Flüchtlingsbegriff im Sinne des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - sog. Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - maßgebend; vielmehr ist gerade umgekehrt der Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention für die Anwendung der Richtlinie von Bedeutung. Dies verdeutlichen sowohl die Ermächtigungsnorm des Art. 63 Nr. 1 c) EGV, der der Richtlinie zu Grunde liegt, als auch die Nr. 2 der Präambel und Art. 2 c) der Richtlinie 2003/83/EG; die zuletzt genannte Bestimmung übernimmt (fast) wörtlich die Definition des Flüchtlingsbegriffs in Art. 1 A Nr. 2 und Art. 33 Nr. 1 GK.

Auch soweit der Kläger vorträgt, das VG hätte überprüfen müssen, ob im Rahmen dieser EU Qualifikationsrichtlinie dem Kläger Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz hätte bewilligt werden müssen, rechtfertigt dies nicht die Durchführung eines Berufungsverfahrens. Rechtlich in diesem Zusammenhang bedeutsame Fragen lassen sich auch insoweit ohne weiteres nach der bestehenden Gesetzeslage beantworten. Eine andere Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG, als vom VG vorgenommen, gebietet die Richtlinie 2004/83/EG, auch "Qualifikationsrichtlinie" genannt, nämlich nicht. Die Richtlinie 2004/83/EG ist nicht direkt anwendbar. Die Frist zu ihrer Umsetzung läuft gemäß Art. 38 Abs. 1 dieser Richtlinie erst am 10.10.2006 ab. Vor Ablauf der Umsetzungsfrist entfaltet eine Richtlinie keine unmittelbare Wirkung. Ein Einzelner kann sich vor den nationalen Gerichten auf eine Richtlinie erst nach Ablauf der für ihre Umsetzung in das nationale Recht vorgesehenen Frist berufen (vgl. EuGH, Urteile vom 5.4.1979 - Rs. 148/78 - (Ratti), Slg. 1979, 1629 (1645), vom 10.11.1992 - Rs. C-156/91 - (Hansa Fleisch Ernst Mundt), Slg. I 1992, 5567 (5595), und vom 3.3.1994 - Rs. C-316/93 - (Vaneetfeld), Slg. I 1994, 763 (784); Ruffert, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Kommentar, 2. Aufl. (2002), Art. 249 EGV Rdnr. 73; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Loseblatt-Ausgabe (Stand: Januar 2005), Bd. III, Art. 249 EGV Rdnr. 158). Dementsprechend ist auch die Richtlinie 2004/83/EG gegenwärtig und bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist nicht unmittelbar anwendbar (so auch Duchrow, ZAR 2004, 339).

Es kann offen bleiben, ob die mitgliedsstaatlichen Gerichte bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist verpflichtet sind oder jedenfalls berechtigt sein können, sich bei der Auslegung nationalen Rechts an den Bestimmungen einer Richtlinie zu orientieren (vgl. zum Meinungsstand m. w. N. etwa Ruffert, a. a. O., Art. 249 EGV Rdnr. 110; hierzu auch: BGH, Urteil vom 5.2.1998 - I ZR 211/95 -, BGHZ 138, 55 (59 ff.) ). Denn auch dann wäre § 60 Abs. 1 AufenthG unter Beachtung der Richtlinie 2004/83/EG in seinem Kerngehalt nicht anders auszulegen als der bisherige § 51 Abs. 1 AuslG. Bei Erlass des § 60 Abs. 1 AufenthG ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass diese Norm inhaltlich der Regelung des § 51 Abs. 1 AuslG entspricht. Lediglich aus Gründen der Klarstellung ist das Merkmal "Geschlecht" ausdrücklich als Verfolgungsgrund in den Gesetzestext aufgenommen worden. Die Bezugnahme auf die Genfer Flüchtlingskonvention verdeutlicht ferner, dass auch Fälle nichtstaatlicher Verfolgung erfasst werden sollen (vgl. BT-Drucks. 15/420, S. 91).

Bereits § 51 Abs. 1 AuslG stimmte - ohne allerdings die Genfer Flüchtlingskonvention ausdrücklich in Bezug zu nehmen - ebenso wie Art. 16 a. F. bzw. Art. 16a GG insbesondere hinsichtlich des Begriffs der politischen Verfolgung und des in den Schutzbereich einbezogenen Personenkreises mit dem Flüchtlingsbegriff im Sinne der Art. 1 A Nr. 2 und 33 Nr. 1 GK überein (vgl. BVerwG, Urteile vom 21.1.1992 - 1 C 21.87 -, BVerwGE 89, 296 (301), vom 26.10.1993 - 9 C 50.92 -, NVwZ 1994, 500 ff., vom 18.1.1994 - 9 C 48.92 -, BVerwGE 95, 42 (45 ff.), vom 22.3.1994 - 9 C 443.93 -, NVwZ 1994, 1112, und vom 20.2.2001 - 9 C 21.00 -, BVerwGE 114, 27 (32); Beschluss vom 31.8.1989 - 9 B 318.89 -, InfAuslR 1989, 353 f.). Lediglich der Auffassung, der Flüchtlingsbegriff erfordere auch beim sog. kleinen Asyl eine staatliche Verantwortlichkeit für die Verfolgung (so etwa BVerwG, Urteil vom 18.1.1994 - 9 C 48.92 -, a. a. O. (48 ff.) ) ist durch § 60 Abs. 1 AufenthG und seinen expliziten Verweis auf die Genfer Flüchtlingskonvention der Boden entzogen worden (Vgl. Marx, ZAR 2002, 44 (45 f.); Hailbronner, ZAR 2003, 299 ff.; Duchrow, a. a. O. (340 f.) ).

Dem bundesdeutschen Gesetzgeber war vor Erlass des § 60 AufenthG mit Gesetz vom 30.7.2004 der Entwurf der Richtlinie bereits bekannt. Die Kommission hatte den Richtlinienvorschlag - KOM (2001) 510 endgültig 2001/0207 (CNS) - im September 2001 vorgelegt. Daraufhin haben die Mitgliedstaaten die Verhandlungen aufgenommen (vgl. Marx, a. a. O. (44); Lehnguth, ZAR 2003, 305 ff.; zur Chronologie der Entstehung der Richtlinie allgemein: www.europa.eu.int/prelex/detail unter COM (2001) 510 - 2001/0207/CNS). Den Willen des bundesdeutschen Gesetzgebers, mit Erlass des § 60 AufenthG richtlinienkonformes Recht zu schaffen, zeigt mit Deutlichkeit die parlamentarische Debatte anlässlich der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes (vgl. Plenarprotokoll 15/118 vom 1.7.2004, S. 10708 f., und den Gesetzentwurf BT-Drucks. 15/420, S. 23 f.). Mit der Gesetz gewordenen Bestimmung, die auf dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses vom 30.6.2004 beruht, hält sich § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG eng an Art. 6 der Richtlinie 2004/83/EG (vgl. BT-Drucks. 15/3479, S. 10, und Plenarprotokoll 15/118 vom 1.7.2004, S. 10723; siehe auch Renner, ZAR 2004, 266 (269 f.) ).

Damit spricht Vieles für die Annahme, dass § 60 AufenthG die Anpassung des deutschen Rechts an die Richtlinie 2004/83/EG im Grundsatz vorwegnimmt. Zum einen regelt § 60 Abs. 1 AufenthG die Flüchtlingsanerkennung ebenso wie die Richtlinie auf der Grundlage der Genfer Konvention. In § 60 Abs. 1 AufenthG ist die Genfer Konvention in Bezug genommen, in der Richtlinie 2004/83/EG sind die wesentlichen Bestimmungen der Genfer Konvention fast wortgleich übernommen worden. Dies gilt maßgeblich für die Definition des Flüchtlingsbegriffs (Art. 2 c) der Richtlinie, Art. 1 A Nr. 2 und 33 Nr. 2 GK), die Gründe für die Beendigung des Flüchtlingsstatus (Art. 11 der Richtlinie, Art. 1 C GK) und diejenigen für den Ausschluss vom Flüchtlingsstatus (Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie, Art. 1 F GK). Zum anderen wurden Teile der Bestimmungen der Art. 6 und 12 der Richtlinie 2004/83/EG fast wortgleich in § 60 Abs. 1 AufenthG aufgenommen. So ist der Katalog der Akteure des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstaben a) bis c) AufenthG, von denen die Verfolgung ausgehen kann, nahezu identisch mit der Aufzählung in Art. 6 Buchstaben a) bis c) der Richtlinie 2004/83/EG. Anders als in der Richtlinie wird - über diese hinausgehend - zusätzlich geregelt, dass es bei der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure nicht darauf ankommt, ob in Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative. Der Verweis auf eine inländische Fluchtalternative ist auch in Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG vorgesehen. Die Regelungen zum subsidiären Schutz in den Art. 15 ff. der Richtlinie 2004/83/EG sind bereits in § 53 Abs. 2 bis 6 AuslG enthalten gewesen (so Marx, a. a. O. (44) ) und nunmehr in § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG normiert. Im Übrigen sieht die Richtlinie 2004/83/EG nur Mindeststandards vor. Ziel ist keine Vollharmonisierung. Sie soll lediglich ein Mindestmaß an Schutz in allen Mitgliedstaaten gewährleisten.

Ende der Entscheidung

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