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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 14.03.2003
Aktenzeichen: 12 A 122/02
Rechtsgebiete: SGB VIII


Vorschriften:

SGB VIII § 35 a
SGB VIII § 36
Überlässt der Träger der Jugendhilfe es dem Hilfe Suchenden, sich die Leistung zur Deckung eines unaufschiebbaren Bedarfs selbst zu beschaffen, kann er gegen den Anspruch auf Erstattung der Kosten dieser Leistung nicht einwenden, er hätte eine andere Hilfe für geeignet und notwendig erachtet. Dies gilt unabhängig davon, ob ihm bei der Entscheidung über die Art der Hilfe ein gerichtlich nicht in vollem Umfang überprüfbarer Beurteilungsspielraum zusteht.
Tatbestand:

Die Parteien stritten über die Erstattung von Kosten für die Unterbringung des Klägers in einem Internatsgymnasium aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe. Der 1987 geborene Kläger wurde am 8.1.1999 bei dem niedergelassenen Diplom-Psychologen T. vorgestellt. Dieser bescheinigte u.a., der Kläger werde unabhängig von der Schulform Probleme im Bereich der sozialen Wahrnehmung, des Sozialverhaltens und der Anstrengungsbereitschaft sowie der Ausdauer haben. Empfehlenswert sei für ihn eine ganztägige Betreuung in einer kleinen Gruppe. Vom 8. bis 12.3.1999 befand sich der Kläger zur stationären Behandlung in der Kinderklinik Q. In dem Bericht des leitenden Arztes vom 13.4.1999 heißt es: Nach der bisherigen Anamnese und den in der Klinik gemachten Beobachtungen erscheine eine Eingliederung in eine normale Schule nicht sinnvoll. Der Kläger brauche dringend eine psychologische Hilfe, die sowohl die Einzeltherapie als auch die Familientherapie miteinbeziehe. Die erforderlichen Therapien könnten z.B. in der Tagesklinik in Q. oder in einer anderen entsprechenden Tageseinrichtung erfolgen. Denkbar sei auch die Unterbringung in einem Internat, das besondere Erfahrungen mit dieser Problematik besitze. Am 19.4.1999 beantragte der Vater des Klägers beim Beklagten, dem Kläger Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII durch Übernahme der Kosten für den Besuch einer Privatschule zu gewähren. Im Rahmen eines vom Beklagten am 23.4.1999 durchgeführten Hausbesuchs teilten die Eltern des Klägers mit, sie strebten seine Unterbringung in einer Privatschule an, könnten jedoch die hierfür anfallenden Kosten nicht in vollem Umfang selbst tragen. Der vom Beklagten als Möglichkeit vor Augen gestellte Besuch einer Waldorf-Schule komme für sie nicht in Betracht, da sie mit dem "anthroposophischen Hintergrund nicht konform" gingen. Am 28.4.1999 teilte die Mutter des Klägers dem Beklagten mit, sie habe Ende Mai einen Termin beim Facharzt G. Die Sachbearbeiterin beim Beklagten hatte zuvor auf die Möglichkeit hingewiesen, den Kläger in Heimatnähe auf eine Regelschule, z.B. ein Gymnasium, zu geben und ihm daneben eine Einzeltherapie bei einem dort ansässigen Therapeuten zukommen zu lassen. Sie vermerkte in diesem Zusammenhang, es werde deutlich, dass die Eltern trotz des Wunsches, den Kläger auf eine Privatschule zu geben, sich im wohnortnahen Raum selbständig über mögliche Alternativen informierten. Im Teamgespräch vom 25.5.1999 kamen Mitarbeiter des Beklagten überein, vor einer Entscheidung die Meinung des Facharztes G. abzuwarten. Das Ergebnis des Teamgesprächs teilte der Beklagte den Eltern des Klägers bei einem Hausbesuch am 4.6.1999 mit. Er wies darauf hin, dass im Fall einer vor der Entscheidung erfolgenden Anmeldung des Klägers bei einer Privatschule die Eltern die Kosten hierfür selbst tragen müssten. Am 14.6.1999 teilten die Eltern des Klägers mit, der Kläger sei im Landschulheim I. angenommen worden, nachdem er dort eine Woche zur Probe gewohnt habe; er werde zum neuen Schuljahr Anfang August aufgenommen. Spätestens am 9.8.1999 ging beim Beklagten ein Schreiben des Facharztes G. vom 30.6.1999 ein, in dem es heißt: Der Kläger habe neben ausgeprägten Störungen im Bereich der Aufmerksamkeit Schwierigkeiten im Bereich der sozialen Wahrnehmung gezeigt. Im Bereich der Beziehungen zu Gleichaltrigen weise er erhebliche Defizite auf. Daher erscheine eine Beschulung des Jungen im Bereich einer vor Ort bestehenden normalen Regelschule zurzeit in keiner Weise sinnvoll. Er benötige auch im Bereich der Schule eine kleine, für ihn überschaubare Gruppe. Wie bereits aus der Empfehlung der Kinderklinik hervorgehe, sei eine geeignete, adäquate Möglichkeit die Unterbringung des Jungen in einem entsprechend ausgerichteten Internat. Mit Bescheid vom 15.11.1999 lehnte der Beklagte den Antrag auf Gewährung von Jugendhilfeleistungen für den Kläger in Form der Übernahme der Internatskosten ab. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus: Der Antrag sei abzulehnen, da nach den vorliegenden Gutachten einerseits eine seelische Behinderung des Klägers gemäß § 35 a SGB VIII weder vorliege noch drohe und andererseits eine internatsmäßige Unterbringung zwar wünschenswert, aber nicht notwendig sei. Auf den Widerspruch des Klägers hob der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 20.1.2000 seinen Bescheid vom 15. November 1999 insoweit auf, als nunmehr nach einer ergänzenden Stellungnahme des Facharztes G. das Vorliegen einer seelischen Behinderung bzw. das Drohen einer seelischen Behinderung bei dem Kläger und somit ein Anspruch auf Hilfe nach § 35 a SGB VIII anerkannt werde. Bezüglich der Übernahme der Internatskosten für das Landschulheim I. wies er den Widerspruch zurück.

Auf die Klage des Klägers verpflichtete das VG den Beklagten, die Kosten der Internatsunterbringung des Klägers im Landschulheim I. ab dem Schuljahr 1999/2000 bis zum 31.1.2000 aus Mitteln der öffentlichen Jugendhilfe zu übernehmen. Die Berufung des Beklagten hiergegen blieb erfolglos.

Gründe:

Der geltend gemachte Anspruch setzt voraus, dass der Kläger berechtigt war, sich die für erforderlich gehaltene Eingliederungshilfe nach § 35 a Abs. 1 SGB VIII in der hier maßgeblichen Fassung vom 23.7.1996, BGBl. I S. 1088 - SGB VIII F. 1996 - selbst zu beschaffen (I.). Dies war der Fall (II.).

I. (...)

Der Hilfe Suchende ist nur dann zur Selbstbeschaffung einer Jugendhilfeleistung berechtigt, wenn er hierauf zur effektiven Durchsetzung eines bestehenden Jugendhilfeanspruchs angewiesen ist, weil der öffentliche Jugendhilfeträger sie nicht rechtzeitig erbracht oder zu Unrecht abgelehnt hat (vgl. auch die am 1.7.2001 in Kraft getretene Regelung des § 15 Abs. 1 Satz 3 und 4 SGB IX vom 19.6.2001, BGBl. I S. 1046), das für die Leistungsgewährung vorgesehene System also versagt hat. Ein solches "Systemversagen", vgl. hierzu: Stellungnahme der Ständigen Fachkonferenz 1 "Grund- und Strukturfragen" des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e.V., ZfJ 2003, 61 (62); Grube, a.a.O. (290); Stähr, ZfJ 2002, 449 (455), liegt vor, wenn die Leistung vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht erbracht wird, obwohl der Hilfe Suchende die Leistungserbringung durch eine rechtzeitige Antragstellung und seine hinreichende Mitwirkung ermöglicht hat und auch die übrigen gesetzlichen Voraussetzungen für die Leistungsgewährung vorliegen. In dieser Situation darf sich der Leistungsberechtigte die Leistung selbst beschaffen, wenn es ihm wegen der Dringlichkeit seines Bedarfs nicht zuzumuten ist, die Bedarfsdeckung aufzuschieben (vgl. zur Herleitung des Anspruchs auf die Übernahme der Kosten einer selbst beschaffenen Hilfe das Senatsurteil vom 14.3.2003 - 12 A 1193/01 -).

II. Hiernach steht dem Kläger gegen den Beklagten der in Rede stehende Anspruch auf Erstattung der im Zeitraum vom Beginn des Schuljahres 1999/2000 (August 1999) bis zum 31.1.2000 aufgewendeten Kosten seiner Unterbringung im Landschulheim I. zu. Der Kläger war hinsichtlich dieses Zeitraums berechtigt, sich die für erforderlich gehaltene Jugendhilfeleistung selbst zu beschaffen, da es ihm nicht zuzumuten war, mit der Deckung seines Bedarfs über den Beginn des Schuljahres 1999/2000 hinaus zu warten (1.), der Kläger zu dem hilfeberechtigten Personenkreis nach § 35 a Abs. 1 SGB VIII F. 1996 gehörte (2.) und die Unterbringung des Klägers im Landschulheim I. den Anforderungen an eine Maßnahme genügt, die mangels behördlich aufgezeigter Alternative beschafft worden ist (3.).

1. Dem Kläger war es nicht zuzumuten, die Deckung seines Bedarfs über den Beginn des Schuljahres 1999/2000 hinaus aufzuschieben.

a. Es reicht für die Entstehung des Kostenerstattungsanspruchs nicht schon aus, dass die Hilfe vor der Selbstbeschaffung formell beantragt worden ist. Die Bedarfsdeckung muss vielmehr unaufschiebbar sein.

In der Rechtsprechung des BVerwG ist geklärt, dass zu den gesetzlichen Voraussetzungen der Jugendhilfe auch ein rechtzeitig vor Beginn der Maßnahme gestellter Hilfeantrag des Leistungsberechtigten gehört (vgl. zum Begriff des rechtzeitigen Antrags auch § 28 Satz 2 SGB X). Auch wenn das Achte Buch Sozialgesetzbuch insoweit keine ausdrückliche Regelung trifft, insbesondere keine Vorschrift enthält, die - wie § 5 BSHG - eine antragsunabhängig, schon auf Grund der Kenntnis der Behörde von ihren rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen einsetzende Hilfe vorsieht, und auch nicht ausdrücklich eine Kostenerstattung für nicht vom Jugendhilfeträger selbst erbrachte Maßnahmen regelt, folgt das Erfordernis einer vorherigen Antragstellung gegenüber dem öffentlichen Jugendhilfeträger daraus, dass es nicht seiner Aufgabe entspricht, (nur) Kostenträger und nicht zugleich Leistungsträger zu sein. Die Jugendhilfe ist geprägt von einem System beratender und unterstützender Leistungen, wobei die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit der Hilfe auf Grund eines kooperativen pädagogischen Prozesses partnerschaftlich unter Achtung familialer Autonomie getroffen werden soll. Mit diesem jugendhilferechtlichen Ziel wäre es unvereinbar, wenn sich die Funktion des Jugendamts auf die eines bloßen Kostenträgers beschränkte, der erst nachträglich nach Durchführung einer selbst beschafften Hilfemaßnahme eingeschaltet wird. Damit der Träger der öffentlichen Jugendhilfe seine aus § 79 Abs. 1 SGB VIII folgende Gesamtverantwortung für die Erfüllung seiner gesetzlichen Aufgaben sowie seine Planungsverantwortung nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGB VIII wahrnehmen kann, muss er vielmehr - jedenfalls grundsätzlich - vom Leistungsberechtigten von Anfang an in die Hilfesuche einbezogen worden sein.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 28.9.2000, - 5 C 29.99 -, BVerwGE 112, 98 (103), vgl. hierzu auch: Stähr, ZfJ 2002, 449 (450 f.); Grube, a.a.O. (290).

Diese Einbeziehung muss grundsätzlich so zeitig erfolgt sein, dass der Jugendhilfeträger durch die Antragstellung in die Lage versetzt wird, seiner prüfenden, beratenden und steuernden Aufgabe im Rahmen eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses im Vorfeld der Leistungserbringung nachzukommen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 28.9. 2000, a.a.O. (100); VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 14.7. 2000 - 19 K 5288/98 -, NWVBl. 2001, 70 (71); Stähr, ZfJ 2002, 449 (452); Grube, a.a.O. (290).

Dabei ist zu beachten, dass dieser Prozess nicht nur durch die Verpflichtung des Jugendhilfeträgers gekennzeichnet ist, eine umfassende Beteiligung des Leistungsberechtigten zu gewährleisten (vgl. § 36 Abs. 1 SGB VIII). Vielmehr trifft im Hinblick auf sein Ziel, zu einer möglichst gemeinsamen Einschätzung des Hilfebedarfs unter größtmöglicher Akzeptanz durch den Leistungsberechtigten zu gelangen, auch den Leistungsempfänger bzw. seine Eltern selbst die Pflicht, an der Entscheidungsfindung aktiv und konstruktiv mitzuwirken (vgl. § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII).

Vgl. hierzu: Jans/Happe/Saurbier/Maas, Kinder- und Jugendhilferecht, 23. Lfg., Stand: Oktober 2002, KJHG Erl. Art. 1 § 36 Rdnrn. 18 ff; Stähr, in: Hauck/Noftz, a.a.O., K § 36 Rdnrn. 48 ff.; Wiesner, a.a.O., § 36 Rdnrn. 7 ff.

Um dieses Prozesses willen ist, wenn die Eigenart des Bedarfs nichts Anderes erfordert, grundsätzlich die Durchführung des Verwaltungsverfahrens abzuwarten.

b. Hiervon ausgehend war dem Kläger ein weiteres Abwarten der Entscheidung des Beklagten über den Hilfeantrag vom 19.4.1999 länger als bis zum Beginn des Schuljahrs 1999/2000 nicht zumutbar.

Die Antragstellung war so zeitig erfolgt, dass mit einer Entscheidung des Beklagten bis zum Schuljahresbeginn im August 1999 gerechnet werden konnte. Anhaltspunkte dafür, dass es dem Beklagten nicht möglich war, bis zu diesem Zeitpunkt eine ordnungsgemäße Entscheidung zu treffen, liegen nicht vor. Gegenteiliges ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass er den Eltern des Klägers beim Hausbesuch am 4.6.1999 mitgeteilt hatte, die von ihnen angekündigte Stellungnahme des Facharztes G. abwarten zu wollen. Dabei kann dahinstehen, ob der Beklagte diese Stellungnahme entsprechend dem Vorbringen des Klägers bereits Anfang Juli 1999 oder - wie in den Verwaltungsvorgängen vermerkt - erst am 9.8.1999 erhalten hat. Ungeachtet der Frage, ob der Beklagte in der Lage gewesen ist, eine Entscheidung schon auf Grund der vorliegenden Erkenntnisse zu treffen, ist jedenfalls nicht erkennbar, dass es ihm nicht möglich gewesen wäre, die Stellungnahme etwa von sich aus rechtzeitig bei dem Facharzt G. anzufordern.

Eine rechtzeitige Entscheidung über den Hilfeantrag wäre dem Beklagten auch deshalb möglich gewesen, weil der Kläger bzw. seine Eltern an seinen Ermittlungen in hinreichender Weise mitgewirkt hatten. Bereits mit dem Antrag vom 19.4.1999 hatten sie dem Beklagten die Bescheinigung des Diplom-Psychologen T. vom 10.1.1999 sowie die ärztliche Stellungnahme vom 13.4.1999 vorgelegt und ihm damit zumindest erste Erkenntnisse hinsichtlich eines möglichen Hilfebedarfs des Klägers verschafft. Auch der weitere aus den Verwaltungsvorgängen ersichtliche Verlauf des Verfahrens belegt, dass die Eltern des Klägers über die Antragstellung hinaus wiederholt den Kontakt mit dem Jugendamt gesucht, es insbesondere in ihre Suche nach einer für den Kläger geeigneten Hilfeeinrichtung einbezogen hatten. Danach steht der Annahme einer hinreichenden Mitwirkung nicht entgegen, dass der Kläger bereits im Juni 1999 beim Landschulheim I. angemeldet worden ist. Daraus lässt sich nicht schließen, dass die Eltern des Klägers etwa von vornherein auf seine Unterbringung im Landschulheim I. festgelegt waren und sie damit keine Grundlage für das erforderliche kooperative Zusammenwirken mit dem Beklagten geschaffen hätten. Vielmehr stellte das Jugendamt selbst fest, es werde deutlich, dass sich die Eltern trotz des Wunsches, den Kläger auf eine Privatschule zu geben, im wohnortnahen Raum selbstständig über mögliche Alternativen informierten. Dass die Eltern des Klägers den Entscheidungsprozess trotz der zwischenzeitlichen Anmeldung beim Landschulheim nicht als abgeschlossen betrachteten, zeigt sich auch darin, dass sie den Beklagten fortgesetzt an die Durchführung eines Hilfeplangesprächs erinnerten.

Die erforderliche Beschulung des Klägers war nicht über den Schuljahresbeginn im August 1999 hinaus aufschiebbar.

Von einer unaufschiebbaren Leistung ist dann auszugehen, wenn sie sofort, d.h. ohne nennenswerten zeitlichen Aufschub erbracht werden muss, mithin ein Eilfall vorliegt.

Vgl. zu § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX: Löschau, in: GK-SGB IX; Stand: 1. September 2002, § 15 Rdnr. 27.

Ein solcher Fall war hier bezogen auf den Schuljahresbeginn gegeben. Dabei kann offen bleiben, ob die Anmeldung des Klägers beim Landschulheim I. bereits im Juni 1999 erfolgen musste. Jedenfalls war es dem Kläger nicht zuzumuten, wegen der zu Beginn des Schuljahrs noch ausstehenden Entscheidung des Beklagten von der Anmeldung wieder Abstand zu nehmen. Auch wenn eine Fortsetzung des bisherigen, nach einem Fernlernprogramm durchgeführten Unterrichts des Klägers durch seine Mutter möglich gewesen sein sollte, ließ die drohende seelische Behinderung des Klägers als Folge der diagnostizierten Störung seines Sozialverhaltens keinen - weiteren - Aufschub seiner Beschulung zu.

2. Nach den vorliegenden fachlichen Stellungnahmen und Berichten hat der Senat keinen Zweifel, dass der Kläger entsprechend der Feststellung im Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 20.1.2000 zu dem Personenkreis gehörte, dem nach § 35 a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII F. 1996 in Verbindung mit § 3 der Verordnung zur Durchführung des § 47 des Bundessozialhilfegesetzes (in der hier maßgeblichen Fassung vom 24.3.1997, BGBl. I S. 594) Eingliederungshilfe zu gewähren ist. Dies ist zwischen den Parteien auch nicht (mehr) streitig.

3. Die Unterbringung des Klägers im Landschulheim I. genügt den Anforderungen an eine Maßnahme, die mangels behördlich aufgezeigter Alternative beschafft worden ist.

a. Der Beklagte hat es unterlassen, dem Kläger bzw. seinen Eltern bis zum Beginn des Schuljahres 1999/2000 eine konkrete andere Möglichkeit als die von ihnen in den Blick genommene internatsmäßige Unterbringung des Klägers aufzuzeigen. Zwar stand es außer Frage, dass die für den Kläger neben dem Schulbesuch erforderliche ambulante Therapie auch im Bereich des Wohnorts seiner Familie, hätte durchgeführt werden können. Der Beklagte machte aber bis zum Schuljahresbeginn 1999/2000 keine vom Wohnort des Klägers aus täglich zu erreichende Schule ausfindig bzw. namhaft, die geeignet gewesen wäre, mit Blick auf die psychische Störung des Klägers dessen Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu fördern. Die vom Beklagten bei dem Hausbesuch am 23.4.1999 genannte Waldorf-Schule kam von vornherein nicht in Betracht, weil die Eltern deren weltanschauliche Ausrichtung ablehnten und diese Entscheidung vom Beklagten auf Grund des elterlichen Erziehungsrechts nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zu respektieren war. Dementsprechend hat der Beklagte an dem entsprechenden Vorschlag in der Folgezeit erkennbar nicht mehr festgehalten. Die möglicherweise auf den Bedarf des Klägers an Eingliederungshilfe zugeschnittenen Schulen, deren Besuch ohne Internatsunterbringung möglich gewesen wäre, hat der Beklagte erst im erstinstanzlichen Klageverfahren benannt. Da der Beklagte eine derartige Einschulungsmöglichkeit nicht bereits bis zum Beginn des Schuljahres im August 1999 aufgezeigt hatte, blieb dem Kläger bzw. seinen Eltern wegen der zu diesem Zeitpunkt eingetretenen Unaufschiebbarkeit des zu deckenden Bedarfs jedenfalls keine andere Möglichkeit als die, selbst eine dem Bedarf des Klägers entsprechende Schule zu bestimmen.

b. In Anbetracht dessen ist es dem Beklagten verwehrt, sich auf die eigene Kompetenz für die Entscheidung über die im Fall des Klägers angezeigte Hilfeart zu berufen. Überlässt der Träger der Jugendhilfe es dem Hilfe Suchenden, sich die seinen unaufschiebbaren Bedarf deckende Leistung selbst zu beschaffen, kann er der Zulässigkeit der Selbstbeschaffung später nicht entgegenhalten, er hätte eine andere Hilfe für geeignet und notwendig erachtet.

Dies gilt unabhängig davon, ob dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei der Entscheidung darüber, welche Art der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nach dem Bedarf im Einzelfall i.S.v. § 35 a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII F. 1996 zu gewähren ist, ein gerichtlich nicht in vollem Umfang überprüfbarer Beurteilungsspielraum zusteht. Hierfür spricht, dass die auf Grund des kooperativen pädagogischen Prozesses nach § 36 SGB VIII zu treffende Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit der Hilfe im Einzelfall nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern lediglich eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthält, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 24.6.1999 - 5 C 24/98 -, BVerwGE 109, 155 (167); OVG Rh.-Pf., Urteil vom 11.5.2000 - 12 A 12335/99.OVG -, ZfJ 2001, 23 (25); VG Köln, Urteil vom 9.10.2002 - 21 K 3389/02 -, juris; VG Hamburg, Beschluss vom 6.1. 2000 - 13 VG 4866/99 -, ZfJ 2000, 277 (278); VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 14.7.2000, a.a.O.; Wiesner, in: Wiesner/Mörsberger/Oberlos-kamp/Struck, SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe, 2. Auflage 2000, § 36 Rdnr. 47; Hoffmann, ZfJ 2003, 41 (47); a.A.: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 8.11. 2001 - 2 S 1198/99 -, ZfJ 2003, 68.

Ein Beurteilungsspielraum des Beklagten kommt im vorliegenden Fall jedenfalls deshalb nicht zum Tragen, weil dieser hiervon bis zum Zeitpunkt des Schuljahresbeginns keinen Gebrauch gemacht hat.

c. Auf Grund der getroffenen Feststellungen hat der Senat keinen Zweifel, dass das Landschulheim I. eine mit Blick auf die psychische Störung des Klägers zur Förderung seiner Wiedereingliederung in die Gesellschaft geeignete Schule war. (Wird ausgeführt.)

d. Der Kläger musste aus jugendhilferechtlicher Sicht auch nicht im Hinblick auf die Kosten der Unterbringung im Landschulheim I. von dem Besuch dieses Internatsgymnasiums absehen.

Der Maßstab hierfür kann nicht § 5 SGB VIII oder § 36 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII entnommen werden.

Es wird vertreten, von der Notwendigkeit der Aufwendungen für eine selbst beschaffte Leistung sei grundsätzlich nur dann auszugehen, wenn - bei rechtzeitiger Entscheidung des Jugendhilfeträgers - dem Wunsch- und Wahlrecht gemäß § 5 SGB VIII zu entsprechen gewesen wäre, die vom Leistungsberechtigten gewählte Hilfe also insbesondere nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden war.

Vgl. Stähr, ZfJ 2002, 449 (455); VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 12.10.1998 - 2 S 1988/98 -, NDV-RD 1999, 85.

Diese Grenze kann jedenfalls in den Fällen nicht bestehen, in denen - wie hier - im Zeitpunkt der Unaufschiebbarkeit einer Leistung keine Alternative der Bedarfs-deckung behördlich aufgezeigt oder offensichtlich ist. Da das Wahlrecht nur in bezug auf die Gestaltung der Hilfe besteht, also nur das "Wie" einer Hilfeleistung, nicht deren "Ob" betrifft, setzt die Anwendung der das Wahlrecht regelnden Vorschriften das Bestehen einer Alternative der Bedarfsdeckung voraus.

Vgl. zu § 3 Abs. 2 BSHG : BVerwG, Urteil vom 22.10.1992 - 5 C 11.89 -, BVerwGE 91, 114, m.w.N.

Fehlt es an einer derartigen Wahlmöglichkeit, darf sich der zur Selbstbeschaffung Berechtigte für die Hilfe entscheiden, die er nach den Umständen, insbesondere unter Beachtung der Interessen des für eine Kostenerstattung in den Blick genommenen Jugendhilfeträgers, für erforderlich und angemessen halten durfte. Hierfür ist neben der Eignung der Maßnahme ausreichend, dass sich die selbst beschaffte Leistung nicht als unwirtschaftlich anzusehende Hilfe erweist.

Vgl. die Stellungnahme der Ständigen Fachkonferenz 1 "Grund- und Strukturfragen" des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e.V., ZfJ 2003, 61 (62); Rothkegel, ZfSH/SGB 2000, 3 (12); BVerwG, Urteil vom 2.9.1993 - 5 C 50/91 -, BVerwGE 94, 127 (133).

Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Unterbringung im Landschulheim I. unwirtschaftlich war, insbesondere die aufgewendeten Kosten im Hinblick auf den Bedarf des Klägers nicht angemessen waren.

Ende der Entscheidung

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