Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 07.11.2003
Aktenzeichen: 12 A 1622/01
Rechtsgebiete: SGB VIII, JWG


Vorschriften:

SGB VIII § 2 Abs. 2
SGB VIII § 86 Abs. 2 Satz 4
SGB VIII § 86 Abs. 3
SGB VIII § 86a Abs. 4
SGB VIII § 89e
SGB VIII § 89e Abs. 1
JWG § 5
JWG § 6
JWG § 83 Abs. 1
Die Mitwirkung des Jugendhilfeträgers bei der Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts in einer "anderen Familie" im Sinne von § 89e Abs. 1 SGB VIII erfordert, dass der Träger der Jugendhilfe zur Befriedigung eines gegenwärtigen jugendhilferechtlichen Bedarfs tätig wird und eine der im Zweiten Kapitel SGB VIII aufgeführten Leistungen der Jugendhilfe gewährt (im Anschluss an das Urteil vom 17. Juli 2003 - 12 A 183/00 -).
Tatbestand:

Die Klägerin beanspruchte vom Beklagten die Erstattung von Kosten, die sie für Jugendhilfeleistungen zugunsten von K. aufgewendet hatte.

Die am 13.3.1978 geborene K. lebte zunächst im Haushalt ihrer Eltern. Nach deren Trennung wechselte K. zusammen mit ihrer Mutter des öfteren den Aufenthaltsort, hierbei kam es zu wiederholten Kontrollen der Wohn- und Lebensverhältnisse durch die jeweils zuständigen Jugendämter. Fürsorgerechtliche oder sonstige Maßnahmen wurden nicht eingeleitet. Im Herbst 1979 verzog K. mit ihrer Mutter nach X in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Bei dem Vormundschaftsgericht (Amtsgericht X.) beantragte die Großmutter die Einleitung vormundschaftsgerichtlicher Maßnahmen und teilte mit, dass ihre Enkelin seit dem 2.11.1979 vorübergehend Aufnahme in ihrem Haushalt in C. (Bundesland D) gefunden habe. Ohne vorherige Anhörung entzog das Amtsgericht X. mit Beschluss vom 22.11.1979 der Mutter von K. vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht und bestellte das Jugendamt des Beklagten insoweit zum Pfleger. Dieses bat anschließend K.'s Großmutter, ihr Enkelkind bis auf Weiteres aufzunehmen und in ihrem Haushalt zu belassen. Im November 1984 wurde die Großmutter, die ein Jahr zuvor zusammen mit K. in den Zuständigkeitsbereich der Klägerin gezogen war, zum Vormund bestellt.

Ab dem 1.1.1991 bewilligte die Klägerin Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege bei der Großmutter. Die Eltern von K. lebten zu dieser Zeit, wie auch anschließend, weiterhin getrennt.

Nach dem Tode ihrer Großmutter fand K. ab dem 12.6.1991 Aufnahme im Kinderhaus S. in L. und erhielt Hilfe zur Erziehung in Form der Heimunterbringung. Die Vormundschaft über K. wurde auf das Jugendamt der Klägerin übertragen. Im Oktober 1993 entwich K. aus dem Kinderhaus und wurde noch am selben Tag in der Jugendschutzstelle des S.-T.-Kreises untergebracht. Sie verblieb dort bis zum 15.11.1993. Die hierfür in Rechnung gestellten Kosten wurden von der Klägerin übernommen. Anschließend war K. im Jugendwohnheim St. T. in L. untergebracht. Ab Eintritt der Volljährigkeit gewährte die Klägerin Hilfe für junge Volljährige. Zum 30.9.1997 beendete sie die Jugendhilfemaßnahme.

Unter Berufung auf § 89e SGB VIII beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 28.12.1994 die Übernahme der aufgewendeten Kosten und wies darauf hin, dass der Aufenthalt von K. bei ihrer Großmutter gemäß § 89e SGB VIII erstattungsrechtlich geschützt gewesen sei. Der Beklagte lehnte eine Kostenerstattung ab.

Antragsgemäß verurteilte das VG den Beklagten zur Kostenerstattung. Die zugelassene Berufung führte unter Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung zur Klageabweisung. Wegen grundsätzlicher Bedeutung ließ der Senat die Revision zu.

Gründe:

Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Erstattung der geltend gemachten Kosten für die in der Zeit vom 22.10.1993 bis zum 15.11.1993 und vom 1.1.1994 bis 30.9.1997 erbrachte Jugendhilfe.

Die Klägerin kann die begehrte Kostenerstattung nicht nach § 89e Abs. 1 SGB VIII in der bis zum 31.12.1995 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 3.3.1993, BGBl. I S. 637 (SGB VIII F. 1993) bzw. in der unverändert gebliebenen, bis zum 30.6.1998 gültigen Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch vom 15.12.1995, BGBl. I S. 1775 (SGB VIII F. 1996) beanspruchen. Für den Fall, dass sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern, eines Elternteils, des Kindes oder des Jugendlichen richtet und dieser in einer Einrichtung, einer anderen Familie oder sonstigen Wohnform begründet worden ist, die der Erziehung, Pflege, Betreuung, Behandlung oder dem Strafvollzug dient, ist nach § 89e Abs. 1 SGB VIII der örtliche Träger zur Erstattung der Kosten verpflichtet, in dessen Bereich die Person vor der Aufnahme in eine Einrichtung, eine andere Familie oder sonstige Wohnform den gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

1. Die Voraussetzungen dieser Kostenerstattungsvorschrift sind zunächst insoweit erfüllt, als sich die Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 3 i.V.m. § 86 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Jugendlichen K. richtete. Dies hat die Vorinstanz für die während der Minderjährigkeit der Hilfeempfängerin geleistete Jugendhilfe bereits zutreffend herausgestellt. Etwas anders gilt auch nicht für die ab Volljährigkeit geleistete Hilfe. Denn hier setzt sich über § 86a Abs. 4 SGB VIII die bisher geltende Zuständigkeitsregelung fort. Die für die Hilfe für junge Volljährige über diese Vorschrift vermittelte Fortgeltung der bisherigen Zuständigkeit steht auch einer Erstattung dieser Jugendhilfekosten nach § 89e Abs. 1 SGB VIII nicht entgegen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 22.11.2001 - 5 C 42.01 -, FEVS 53, 193.

2. Entgegen der Auffassung der Klägerin löst der gewöhnliche Aufenthalt von K. vor Aufnahme in den Haushalt ihrer Großmutter indes keine Kostenerstattungspflicht des Beklagten aus. Zwar erfasst, wie die Vorinstanz zutreffend unter Hinweis auf den Wortlaut der Erstattungsnorm und die Gesetzesbegründung herausgearbeitet hat, § 89e Abs. 1 SGB VIII auch eine Kette von Einrichtungsaufenthalten, so dass kostenerstattungsrechtlich maßgeblich allein der gewöhnliche Aufenthalt vor der Aufnahme in die erste Einrichtung, andere Familie oder sonstige Wohnform ist.

Vgl. auch Stähr, in: Hauck/Noftz, SGB VIII, § 89e Rnr. 6; Schellhorn, in: Schellhorn SGB VIII/KJHG, § 89e Rnr. 9.

Dabei wäre es für eine kostenerstattungsrechtliche Relevanz des Aufenthalts von K. im Zuständigkeitsbereich des Beklagten ohne Belang, dass sie sowohl im Kinderhaus S. in L. als auch im Jugendwohnheim St. T. jeweils gewöhnliche Aufenthalte begründet hatte.

An den gewöhnlichen Aufenthalt der minderjährigen K. vor ihrer Aufnahme in den Haushalt der Großmutter im November 1979 ist aber deshalb im Rahmen des § 89e Abs. 1 SGB VIII nicht anzuknüpfen, weil K. mit dieser Aufnahme keinen gewöhnlichen Aufenthalt in einer "anderen Familie" im Sinne des § 89e Abs. 1 SGB VIII begründete.

a) Allerdings handelte es sich bei der Lebensgemeinschaft zwischen K. und ihrer Großmutter um eine von der Herkunftsfamilie unterschiedene Gemeinschaft zwischen dem Kind oder Jugendlichen mit zumindest einer Bezugsperson außerhalb des Elternhauses.

Vgl. zur Begrifflichkeit auch Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, Rn. 21 zu § 33.

Hiergegen spricht auch nicht, dass es sich bei der Großmutter um eine nahe Verwandte der Hilfeempfängerin handelte. Denn Großeltern gehören nicht zur Herkunftsfamilie, aus der das Kind bzw. der Jugendliche ursprünglich entstammte.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 12.9.1996 - 5 C 31.95 -, FEVS 47, 433, 436.

b) Die Inpflegenahme der Hilfeempfängerin und der weitere Verbleib bei der Großmutter auf Bitte des Jugendamts des Beklagten als Aufenthaltsbestimmungspfleger genügte allerdings nicht dem in § 89e Abs. 1 SGB VIII vorausgesetzten Erfordernis der Mitwirkung des Trägers der Jugendhilfe bei der Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts.

aa) Nach der Rechtsprechung des Senats setzt § 89e Abs. 1 SGB VIII für eine Kostenerstattungspflicht nach Aufenthaltsnahme in einer Pflegestelle voraus, dass der Aufenthalt in einer "anderen Familie" unter Mitwirkung des Trägers der Jugendhilfe erfolgt ist.

Die Mitwirkung des Jugendhilfeträgers bei der Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts in einer "anderen Familie" im Sinne von § 89e Abs. 1 SGB VIII erfordert, dass der Träger der Jugendhilfe zur Befriedigung eines gegenwärtigen jugendhilferechtlichen Bedarfs tätig wird und eine der im Zweiten Kapitel SGB VIII aufgeführten Leistungen der Jugendhilfe gewährt. Maßstab für die Beurteilung des jeweiligen Mitwirkungsakts ist folglich, ob die Beteiligungshandlung öffentlich-rechtlich zur Erfüllung der in § 2 Abs. 2 SGB VIII erfassten Aufgaben vorgenommen wird. Erst eine solche Mitwirkung rechtfertigt es, den Schutz nach § 89e SGB VIII eingreifen zu lassen.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17.7.2003 - 12 A 183/00 -.

An dieser Rechtsprechung hält der Senat auch unter Berücksichtigung des hiergegen gerichteten Vorbringens der Klägerin weiterhin fest. Ihre Argumentation wie auch die in den von ihr zitierten Spruchstellenentscheidungen berücksichtigt nicht hinreichend die besondere Bedeutung des Schutzzwecks des § 89e SGB VIII für die Auslegung seines Regelungsinhalts. Mag der Wortlaut der in § 89e Abs. 1 SGB VIII getroffenen Regelung für sich nicht eindeutig sein, gebietet der Schutzzweck jedenfalls eine teleologische Reduktion im oben dargelegten Sinn.

§ 89 e SGB VIII bezweckt - wie bereits seine gesetzliche Überschrift ausweist - den "Schutz der Einrichtungsorte". Hiermit soll verhindert werden, dass kommunale Gebietskörperschaften, in deren Einzugsbereich sich Einrichtungen befinden, in denen Kinder, Jugendliche oder ihre Eltern einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen, im Verhältnis zu kommunalen Gebietskörperschaften ohne eine solche Infrastruktur überproportional finanziell belastet werden.

Vgl. die Begründung des Entwurfs eines ersten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch, BT-Drucks. 12/2866, S. 25 zu § 89 e SGB VIII.

Der Schutz der Einrichtungsorte vor unbilligen Kostenbelastungen hat in der Jugend- und Sozialhilfe seit jeher einen besonderen Stellenwert und war auch bereits unter Geltung des Jugendwohlfahrtgesetzes über den in § 83 Abs. 1 JWG erfolgten Verweis auf die Kostenerstattungsvorschriften des Bundessozialhilfegesetzes gesetzlich verankert. Der Gesetzgeber hat diesen Schutz hinsichtlich der Unterbringungsformen "Einrichtung" und "sonstige Wohnform" in § 89e SGB VIII aufgenommen, um die Vorhaltung und das Betreiben einer jugendhilferechtlichen Infrastruktur, die überörtlichen Bezug aufweist, kostenerstattungsrechtlich nicht zu hintertreiben.

Vgl. zu dem Aspekt des überörtlichen Einzugsbereichs Krug-Grüner-Dalichau, Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, § 89e, S.5; siehe auch Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, a. a. O.,§ 89e Rn.1. und Frankfurter Lehr- und Praxiskommentar zum KJHG/SGB VIII, 3. Aufl., Stand 1.1.1999, § 89e Rnr. 1.

Damit ist es für den kostenerstattungsrechtlichen Schutz in Bezug auf diese Einrichtungsformen, wie die Klägerin zu Recht ausführt, nicht von Bedeutung, ob die Aufnahme dort privat erfolgt oder ob die mit dem stationären Aufenthalt verbundenen Zahlungen selbst erbracht oder im Rahmen von Sozialleistungen von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellt werden. Anknüpfend an die im Urteil vom 17.7.2003 - 12 A 183/00 - näher beschriebene Intention des Gesetzgebers, Pflegestellen in den Schutz der Einrichtungsorte einzubeziehen, um eine Ungleichheit zwischen einer Heimunterbringung und der Aufnahme in einer Pflegefamilie zu beheben, ist der kostenerstattungsrechtliche Schutz auch der Aufnahme in eine andere Familie indes gerade dieses gleichheitsrechtlichen Ansatzes wegen nicht an das Bestehen einer bestimmten Infrastruktur geknüpft. Schlicht auf das Vorhandensein von Familien abzustellen, wäre zu weitgehend, weil damit keinerlei Unterschied zwischen den einzelnen Orten markiert wäre. Es entbehrte dann jeden Sinnes, von einem Einrichtungsort zu sprechen. Auf das Vorhandensein unabhängig von einem konkreten Bedarf bereitstehender Pflegefamilien abzustellen, wäre hingegen zu eng, da damit die kostenerstattungsrechtlich schutzbedürftigen Fälle nicht erfasst würden, in denen gerade zur Befriedigung eines konkreten jugendhilferechtlichen Bedarfs eine Familie erst zur Pflegefamilie wird. Um diesen Fällen im gebotenen Umfang Rechnung zu tragen, tritt bei der Aufnahme in eine andere Familie an die Stelle des in § 89e SGB VIII für die anderen Unterbringungsformen vorausgesetzten Merkmals des Vorhandenseins der Einrichtung das Kriterium der Mitwirkung eines Jugendhilfeträgers bei der Aufnahme zur Deckung eines jugendhilferechtlichen Bedarfs.

bb) Eine solche Mitwirkung lag in dem Handeln des Jugendamts des Beklagten im November 1979 nicht. Hierbei spielt zunächst keine Rolle, dass Anknüpfungspunkt für diese rechtliche Einordnung Geschehensabläufe sind, die sich weit vor dem Inkrafttreten der maßgeblichen Erstattungsvorschrift zum 1.4.1993 zugetragen haben. Denn § 89 e Abs. 1 SGB VIII ist, wie die Vorinstanz zu Recht betont hat, ohne Übergangsregelung in Kraft getreten und damit auf den hier streitigen Leistungszeitraum anwendbar. Soweit dies dazu führt, dass an Aufenthaltsverhältnisse angeknüpft wird, die zeitlich schon vor dem Inkrafttreten der Erstattungsnorm liegen, ist dies als "unechte Rückwirkung" bzw. "tatbestandliche Rückanknüpfung" verfassungsrechtlich unbedenklich.

Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.5.2000 - 5 C 27.99 -, FEVS 51, 546 (549) m.w.N.

Die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kleinkinds K. im November 1979 im Haushalt ihrer Großmutter in C. vollzog sich zwar unter Einbeziehung des Beklagten. Erst die von seinem Jugendamt nach Bestellung zum Aufenthaltspfleger durch Beschluss des Amtsgerichts X. an die Großmutter geäußerte Bitte, K. bis auf Weiteres in ihre Wohnung aufzunehmen, verfestigte den Aufenthalt von K. bei ihrer Großmutter.

Diese Mitwirkung des Beklagten unter Geltung des Jugendwohlfahrtsgesetzes bei der Aufenthaltsbegründung genügte aber nicht, den Anwendungsbereich des § 89 e Abs. 1 SGB VIII zu eröffnen. Der Beklagte ist nämlich ausschließlich im Rahmen des seinem Jugendamt zugewiesenen Aufgabenbereichs "Vormundschaftswesen" (vgl. § 4 Nr. 2 JWG) tätig geworden, und nicht etwa, um erzieherische und wirtschaftliche Einzelhilfen nach §§ 5, 6 JWG zu leisten. Damit ist das Jugendamt zur Bewerkstelligung einer rein innerfamiliären Lösung an die Stelle einer Privatperson getreten.

Ende der Entscheidung

Zurück