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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 20.02.2002
Aktenzeichen: 12 A 5322/00
Rechtsgebiete: SGB X, SGB VIII, BSHG, Eingliederungshilfe-VO


Vorschriften:

SGB X § 104
SGB VIII § 10 Abs 2
SGB VIII § 35 a
BSHG § 39
BSHG § 40
Eingliederungshilfe-VO § 1
Eingliederungshilfe-VO § 2
Eingliederungshilfe-VO § 3
Eingliederungshilfe-VO § 12 Nr. 1
Zur Vorrangigkeit von Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII gegenüber der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe in einem Fall von atypischem Autismus.
Tatbestand:

Der Kläger, ein überörtlicher Träger der Sozialhilfe, begehrte von der Beklagten als örtliche Trägerin der Jugendhilfe Erstattung von Leistungen, die er für die Betreuung des 1988 geborenen Kindes S. in einem heilpädagogisch-therapeutischen Zentrum für Kinder und Jugendliche erbracht hat. Zuvor hatte die behandelnde Kinderklinik die Diagnose "Atypischer Autismus mit elektivem Mutismus" sowie "Verdacht auf leichte Intelligenzminderung" gestellt und die Unterbringung des S. in einer Intensivgruppe für autistisch gestörte Kinder vorgeschlagen. Die Beklagte hielt eine seelische Behinderung bei S. für nicht gegeben und leitete den Antrag der Mutter des S. auf Gewährung von Eingliederungshilfe an den Kläger weiter. Dieser gewährte dem S. unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz und zwar als Hilfe zu einer angemessenen Schulausbildung nach § 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG für die Unterbringung im heilpädagogisch-therapeutischen Zentrum und machte zugleich gegen die Beklagte einen Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X auf Zahlung der gesamten Maßnahmekosten geltend. Die Beklagte erkannte den Anspruch nicht an.

Das VG verurteilte die Beklagte auf die entsprechende Klage hin zur Erstattung. Deren Berufung blieb ohne Erfolg.

Gründe:

Dem Kläger steht der geltend gemachte Erstattungsanspruch zu.

Dies folgt aus § 104 SGB X (BGBl. I S. 1450). Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift ist ein Leistungsträger, gegen den ein Berechtigter einen Anspruch auf Sozialleistungen hat oder hatte, dem nachrangig verpflichteten Leistungsträger, der dem Berechtigten gleichartige Leistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen des § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, zur Erstattung der Kosten verpflichtet, soweit der vorrangig verpflichtete Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat.

Vorliegend waren sowohl der Kläger als auch die Beklagte zu gleichartigen Leistungen verpflichtet (I.). Die Leistungspflicht der Beklagten war gegenüber der Verpflichtung des Klägers vorrangig (II.). Der Erstattungsanspruch wird mangels Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen anderer Erstattungsansprüche nicht verdrängt (III.). Er besteht auch in der geltend gemachten Höhe (IV.).

I. Die Leistungsverpflichtung des Klägers gegenüber S. ergibt sich aus § 39 BSHG (1.); diejenige der Beklagten folgt aus § 35 a SGB VIII (2.). Die danach von ihnen zu erbringenden Leistungen sind gleich (3.).

1. S. hatte Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG (a.). Zur Erfüllung desselben war der Kläger als sachlich und örtlich zuständiger Träger der Sozialhilfe verpflichtet (b.).

a. Nach § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG ist Eingliederungshilfe Personen zu gewähren, die nicht nur vorübergehend körperlich, geistig oder seelisch wesentlich behindert sind.

Den §§ 1 bis 3 Eingliederungshilfe-VO ist zu entnehmen, dass wesentlich behinderte Personen solche sind, bei denen in Folge einer körperlichen Regelwidrigkeit, einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte oder einer seelischen Störung die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft in erheblichem Umfange beeinträchtigt ist. Nach § 4 Eingliederungshilfe-VO ist als nicht nur vorübergehend im Sinne von § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG ein Zeitraum von mehr als sechs Monaten anzusehen.

S. war nicht nur vorübergehend wesentlich behindert. Bei ihm zeigten sich vor der Unterbringung im Mai 1998 tief greifende behinderungsrelevante Beeinträchtigungen seiner kulturellen Fähigkeiten und Fertigkeiten, einschließlich der schulischen, sowie seiner Kontaktfähigkeiten zu Gleichaltrigen und Erwachsenen. So hatte S. Ängste vor Erwachsenen und Kindern gezeigt, sich aggressiv gewehrt, zur Schule zu gehen, sein Sprechen in der Schule völlig eingestellt, sich bei Frustrationen selbst ins Handgelenk gebissen und nach fest gefügten Ritualen sowie starren Mustern gelebt, bei deren Änderung er mit Verweigerungshaltung reagierte. Seine schulischen Leistungen lagen weit hinter denen altersgleicher Kinder zurück. Er konnte nicht lesen und allenfalls im Zahlenraum von 1 - 20 rechnen. Diese Störungen hielten bei Gewährung der Eingliederungshilfe durch den Kläger bereits länger als ein halbes Jahr an.

b. (wird ausgeführt)

2. S. hatte aus § 35 a SGB VIII auch gegen die Beklagte als sachlich und örtlich zuständige Trägerin der Jugendhilfe (a.) einen Anspruch auf Eingliederungshilfe (b.).

a. (wird ausgeführt)

b. Der atypische Autismus des S. war als seelische Behinderung zu qualifizieren.

Nach § 35 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist Kindern und Jugendlichen Eingliederungshilfe zu gewähren, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind.

Nach § 35 a Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII i.V.m. § 3 Satz 1 Eingliederungshilfe-VO sind seelisch behindert Personen, bei denen in Folge seelischer Störung (aa.) die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft in erheblichem Umfang beeinträchtigt ist (bb.).

aa. Der bei S. diagnostizierte atypische Autismus ist eine seelische Störung im Sinne der genannten Vorschriften. Seelische Störungen, die eine seelische Behinderung zur Folge haben können, sind körperlich nicht begründbare Psychosen (§ 3 Satz 2 Nr. 1 Eingliederungshilfe-VO), seelische Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, von Anfallsleiden oder von anderen Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen (Nr. 2), Suchtkrankheiten (Nr. 3), Neurosen und Persönlichkeitsstörungen (Nr. 4). Diese normativ aufgeführten Begriffe entstammen psychiatrischen Klassifikationen der 50er- und 60er-Jahre, Wiesner, in: Wiesner / Mörsberger / Oberloskamp / Struck, SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe, 2. Auflage 2000, § 35 a Rdnr. 34; Specht, Beeinträchtigungen der Eingliederungsmöglichkeiten durch psychische Störungen, aus: Cierpka u.a., Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 44. Jahrgang 1995, S. 343 ff., 346, sind indes als Rechtsbegriffe weiterhin auf die einzelnen Phänomene seelischer Störung sinnentsprechend anzuwenden.

Seinerzeit wurden der atypische Autismus ebenso wie alle anderen autistischen Störungen, für deren Auftreten bis heute keine primäre Ursache benannt werden kann, vgl. Remschmidt, Autismus - Erscheinungsformen, Ursachen, Hilfen, Verlag C.H. Beck, München 2000, S. 24; Lelord / Rothenberger, Dem Autismus auf der Spur, Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000, S. 16, unter den Begriff "Psychose" oder unter die - zu den Psychosen zählende - "Schizophrenie in der Kindheit" subsumiert.

Vgl. Remschmidt, a.a.O., S. 15, unter Bezugnahme auf die Deutsche Ausgabe des Klassifikationssystems der amerikanischen Psychiatriegesellschaft, dem Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen (DSM-IV); Lelord / Rothenberger, a.a.O., S. 35; Stähr, in: Hauck / Noftz, Sozialgesetzbuch, SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfekommentar, Stand: August 2001, K § 35 a Rdnr. 15.

Allein der Umstand, dass diese Einordnung aus fachlicher Sicht überholt ist, vgl. Wiesner, a.a.O., § 35 a Rdnr. 34; Stähr, a.a.O., K § 35 a Rdnr. 15.; Specht, a.a.O., S. 346, lässt die Zuordnung des Autismus zum sozialrechtlichen Begriff der seelischen Störung in § 3 Eingliederungshilfe-VO nicht entfallen. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn seither gewonnene wissenschaftliche Erkenntnisse die Einordnung der Störung nunmehr als körperliche Regelwidrigkeit oder Schwäche der geistigen Kräfte im Sinne der §§ 1, 2 Eingliederungshilfe-VO forderten. Das ist nicht der Fall.

Autismus zählt zu den tief greifenden Entwicklungsstörungen. Diese sind in der 10. Fassung (ICD - 10) der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen internationalen Klassifikation psychischer Störungen wie folgt definiert: "Eine Gruppe von Störungen, die durch qualitative Beeinträchtigungen in gegenseitigen Interaktionen und Kommunikationsmustern sowie durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten charakterisiert sind. Diese qualitativen Abweichungen sind in allen Situationen ein grundlegendes Funktionsmerkmal der betroffenen Person, variieren jedoch im Ausprägungsgrad. In den meisten Fällen besteht von frühester Kindheit an eine auffällige Entwicklung. Mit nur wenigen Ausnahmen sind die Störungen seit den ersten fünf Lebensjahren manifest. Meist besteht eine gewisse allgemeine kognitive Beeinträchtigung, die Störungen sind jedoch durch das Verhalten definiert, sei dieses nun altersentsprechend oder nicht."

Zitiert nach Remschmidt, a.a.O., S. 14.

Damit ist ein Bezug der autistischen Symptome zu einer körperlichen oder geistigen Störung bis heute gerade kein Wesensmerkmal des Autismus. Er wird unter Ausschluss bestimmter körperlicher oder geistiger Regelwidrigkeiten anhand des festgestellten dauerhaften abnormen Verhaltens diagnostiziert. Der Autismus ist daher nach wie vor rechtlich als seelische Störung einzuordnen. Für den bei S. diagnostizierten atypischen Autismus gilt nichts Anderes.

In Abweichung vom frühkindlichen Autismus (ICD - 10: F 84.0), bei dem vor dem dritten Lebensjahr die Störung einsetzt und die drei grundlegenden Merkmale des Autismus (qualitative Beeinträchtigungen wechselseitiger sozialer Aktionen, qualitative Beeinträchtigungen der Kommunikation und eingeschränkte Interessen bzw. stereotype Verhaltensmuster) manifest werden, wird beim atypischen Autismus (ICD - 10: F 84.1) die abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung erst nach dem 3. Lebensjahr erstmalig festgestellt und/oder es bestehen nur bei einem oder zwei der drei für die Diagnose des frühkindlichen Autismus zu fordernden grundlegenden Merkmale deutlich nachweisbare Auffälligkeiten.

Vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.a. (Hrsg.): Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, Deutscher Ärzte Verlag, Köln 2000, zu "Tiefgehende Entwicklungsstörungen (F84)", Nr. 1.4; Remschmidt, a.a.O., S. 62.

Die bei S. festgestellten Verhaltensweisen wiesen alle Symptome des Autismus auf und hatten - insoweit nicht abweichend vom "Normalbild" des Autismus - keinen nachweisbaren Bezug zu einer körperlichen oder geistigen Störung. Atypisch waren seine autistischen Symptome insoweit, als sie erst nach dem 3. Lebensjahr bemerkt und erst im Alter von 9 Jahren manifest wurden. (wird ausgeführt)

bb. Die seelische Störung führte nach den im Mai 1998 vorliegenden Gutachten bei S. auch zu einer seelischen Behinderung. Grundsätzlich können seelische Störungen eine seelische Behinderung zur Folge haben, müssen es aber nicht. Hinzu kommen muss noch, dass ihre Intensität nach Breite, Tiefe und Dauer die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt.

BVerwG, Urteil vom 26.11.1998 - 5 C 38.97 -, NDV-RD 1999, 71, 72

Beim atypischen Autismus ist dies regelmäßig der Fall. Denn der überwiegende Anteil der betroffenen Personen ist nicht zu einem selbstständigen Leben in der Lage und bedarf ständig einer Betreuung. Dem entsprechend zeigten sich bei S. im Mai 1998 behinderungsrelevante, tief greifende Beeinträchtigungen, die - zumindest zu einem ganz überwiegenden Teil - ihre Ursache in der bei ihm diagnostizierten seelischen Störung hatten und eine Eingliederung in die Gesellschaft erheblich beeinträchtigten.

3. Die von dem Kläger und der Beklagten auf Grund ihrer jeweiligen Pflicht zur Gewährung von Eingliederungshilfe zu erbringenden Leistungen nach § 35 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII waren gleich.

Gemäss § 35 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB VIII wird die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nach dem Bedarf im Einzelfall u.a. in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie in sonstigen Wohnformen geleistet. Aufgabe und Ziel der Hilfe, der Personenkreis und die Art der Maßnahme bestimmen sich nach § 35 a Abs. 2 i.V.m. den §§ 39 Abs. 3, 40 BSHG sowie der Eingliederungshilfe-Verordnung. Nach diesen sozialhilferechtlichen Vorschriften bestimmt sich auch die Eingliederungshilfe nach § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG. § 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG nennt als Maßnahme der Eingliederungshilfe vor allem auch die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung. Dazu zählen nach § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-VO heilpädagogische Maßnahmen zu Gunsten behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, dem Behinderten den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern. Solche Hilfen erhielt S. in dem heilpädagogischen-therapeutischen Zentrum. (wird ausgeführt)

II. Der Anspruch des Kindes S. auf Eingliederungshilfe gegen den Kläger aus § 39 BSHG ging demjenigen gegen die Beklagte aus § 35 a SGB VIII im Range nach.

Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre (§ 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X). Das Verhältnis der Ansprüche auf gleiche Leistungen nach § 35 a SGB VIII und § 39 BSHG ergibt sich aus § 10 Abs. 2 SGB VIII. Danach gehen Leistungen nach dem SGB VIII den Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz vor. Konkurrieren hingegen Jugendhilfemaßnahmen mit Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, hat nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII die Sozialhilfeleistung Vorrang.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 23.9.1999 - 5 C 26.98 -, BVerwGE 109, 325.

Mit diesen rechtlichen Vorgaben ist die von der Beklagten vorgetragene Auffassung des wissenschaftlichen Beirats des Bundesverbandes "Hilfe für das autistische Kind" zum Konkurrenzverhältnis, abgedruckt bei Remschmidt, a.a.O., S. 96 ff., nicht vereinbar. Danach soll stets der Sozialhilfeträger Eingliederungshilfe gewähren, weil autistische Kinder und Jugendliche in der Regel mehrfach behindert seien und es nicht möglich sei, von einem Überwiegen einer Behinderungsart (körperlich, geistig oder seelisch) zu sprechen. Nach geltendem Recht ist vielmehr auf den Einzelfall abzustellen.

Die dem S. gewährte Eingliederungshilfe war keine Maßnahme für einen körperlich oder geistig behinderten oder von einer solchen Behinderung bedrohten jungen Menschen im Sinne des § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII. Bei S. lag weder eine bestehende oder drohende wesentliche körperliche Behinderung (a.) noch eine bestehende oder drohende wesentliche geistige Behinderung (b.) im Sinne der §§ 1 und 2 Eingliederungshilfe-VO vor. Selbst wenn eine Behinderung dieser Art vorgelegen hätte, wäre jedenfalls nicht die Förderung geeignet und erforderlich gewesen, die S. in der Stiftung erfahren hat (c.).

a. Nach § 1 Eingliederungshilfe-VO ist derjenige körperlich wesentlich behindert, bei dem in Folge einer körperlichen Regelwidrigkeit die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft in erheblichem Umfang beeinträchtigt ist. Diese Voraussetzung ist erfüllt bei Personen, deren Bewegungsfähigkeit durch eine Beeinträchtigung des Stütz- und Bewegungssystems in erheblichem Umfang eingeschränkt ist, bei Personen mit erheblichen Spaltbildungen des Gesichts oder mit abstoßend wirkenden Entstellungen, bei Personen, deren körperliches Leistungsvermögen infolge Erkrankung, Schädigung oder Fehlfunktion eines inneren Organs oder der Haut in erheblichem Umfange eingeschränkt ist, bei Blinden und anderen Sehbehinderten, bei Gehörlosen, bei Personen, die Hörhilfen benötigen oder die nicht sprechen können, bei Seelentauben und Hörstummen, bei Personen mit erheblichen Stimmstörungen sowie bei Personen, die stark stammeln, stark stottern oder deren Sprache stark unartikuliert ist.

An einer solchen schwer wiegenden körperlichen Behinderung litt S. seinerzeit nicht. (wird ausgeführt)

b. Bei S. bestand und drohte auch keine wesentliche geistige Behinderung im Sinne des § 2 Eingliederungshilfe-VO. Danach ist derjenige geistig wesentlich behindert, dessen Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft in Folge einer Schwäche seiner geistigen Kräfte in erheblichen Umfange beeinträchtigt ist.

Demnach kommt es bei der geistigen Behinderung auf die Ursache derselben nicht an. Entscheidend ist vielmehr, ob die intellektuellen Verarbeitungsmöglichkeiten extrem hinter den am Lebensalter orientierten Erwartungen liegen, Fichtner, BSHG, 1999, § 39 Rdnr. 20; Mergler / Zink, BSHG - Kommentar, Stand: März 2001, § 39 Rdnr. 37, was in der Regel bei Intelligenztestwerten unterhalb der dritten negativen Standardabweichung (IQ unter 55) angenommen wird, Brühl, in: BSHG - Lehr- und Praxiskommentar (LPK-BSHG), 5. Auflage 1998, § 39 Rdnr. 13.

Oberhalb dieser Standardabweichung befindet sich die Stufe der leichten geistigen Retardierung. Sie wird im Allgemeinen Lernbehinderung genannt. Mit diesem Begriff wird ausgedrückt, dass ein Kind mit einem IQ zwischen 55 und 69 zwar im Lernen behindert ist, aber doch in nicht zu großen Schulklassen von Sonderschullehrern in den Stand gebracht werden kann, ein einigermaßen selbstständiges Leben zu führen. Bei den oberhalb dieser Stufe, mit einem IQ zwischen 70 und 84 anzusiedelnden Personen kann von geistiger Behinderung nicht mehr gesprochen werden.

So ausdrücklich Kehrer, Geistige Behinderung und Autismus, Verlag Trias 1995, S. 16.

Zu dieser Personengruppe gehört S. (wird ausgeführt).

c. Alle von der Beklagten aufgeführten, bei S. vorhandenen körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen erforderten, selbst wenn sie sich - entgegen den getroffenen Feststellungen - als Behinderungen im Sinne der §§ 1 und 2 Eingliederungshilfe-VO erwiesen, keine Förderung, wie sie S. in dem heilpädagogisch-therapeutischen Zentrum für Kinder- und Jugendliche erfahren hat.

Mit seiner Unterbringung in eine Intensivgruppe für autistisch gestörte Kinder des Zentrums sollte S. innerhalb eines konstanten therapeutischen und pädagogischen Milieus nicht nur die Weiterentwicklung seiner kulturellen Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern gerade auch der weitere Ausbau seiner Kontaktfähigkeiten zu Gleichaltrigen und Erwachsenen ermöglicht werden. Die dortige Unterbringung hatte daher ersichtlich eine vorrangige Behandlung der bei S. vorliegenden autistischen Symptome zum Ziel.

Die Behandlung des S. in diesem Zentrum war auch hierauf ausgerichtet. (wird ausgeführt)

Damit hat nicht, wie von der Beklagten als Fehlentwicklung für möglich gehalten, die Auswahl der Einrichtung die vorrangige Zuständigkeit herbeigeführt. Entscheidend für die Zuständigkeit ist nicht, welche Förderungsmaßnahme seitens einer Einrichtung dem Behinderten angeboten wird, mit der Folge, dass der Jugendhilfeträger bei auf seelische Behinderungen zugeschnittene Maßnahmen und der Sozialhilfeträger bei speziell auf geistig oder körperlich behinderte Personen zugeschnittene Förderungseinrichtungen zuständig wäre.

So aber Lempp, Seelische Behinderung als Aufgabe der Jugendhilfe, Verlag Boorberg, 4. Auflage 1999, S. 43.

Es kommt vielmehr - so auch im vorliegenden Fall - auf den aus fachlicher Sicht zuvörderst notwendigen Therapiebedarf des Kindes oder Jugendlichen an. Auf die Erbringung einer darauf gerichteten Leistung geht der Anspruch des Berechtigten und zur Tragung der dadurch entstehenden Kosten ist nach § 10 Abs. 2 SGB VIII i.V.m. § 104 SGB X der vorrangig zuständige Leistungsträger verpflichtet.

III. Der Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Klägers aus § 104 SGB X wird durch die übrigen drei Erstattungstatbestände, den §§ 102, 103 und 105 SGB X, nicht verdrängt. (wird ausgeführt)

IV. Der Kostenerstattungsanspruch besteht auch in der geltend gemachten Höhe. (wird ausgeführt)

Ende der Entscheidung

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