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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 06.06.2008
Aktenzeichen: 12 A 576/07
Rechtsgebiete: SGB VIII


Vorschriften:

SGB VIII § 86
SGB VIII § 89a
1. Der erfolgreichen Vaterschaftsanfechtung kommt für die Frage der jugendhilferechtlichen Zuständigkeit nach § 86 SGB VIII in einem Erstattungsstreit nur Wirkung "ex nunc" zu.

2. Außerhalb des § 89a SGB VIII findet ein Erstattungsdurchgriff zum Schutze der Einrichtungsorte (§ 89e SGB VIII) regelmäßig nicht statt.


Gründe:

I. Die auf die Rückerstattung gerichtete Klage ist unbegründet.

Als Anspruchsgrundlage für die Rückerstattung kommt allein § 112 SGB X in Betracht. Nach § 112 SGB X sind gezahlte Beträge zurückzuerstatten, wenn eine Erstattung zu Unrecht erfolgt ist. Die Voraussetzung liegt nicht vor, da der Kläger der Beklagten die Jugendhilfeaufwendung zu Recht erstattet hat.

Die Erstattung hat auf der Grundlage von § 89b Abs. 1 SGB VIII stattgefunden. Danach sind Kosten, die ein örtlicher Träger der Jugendhilfe im Rahmen der Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen (§ 42 SGB VIII) aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach § 86 SGB VIII begründet wird. Die Beklagte war hier im Rahmen einer Inobhutnahme tätig geworden, nachdem die allein sorgeberechtigte Mutter von E nicht mehr für ihn sorgen konnte und deshalb eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes i. S. v. § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII gegeben war. Die Zuständigkeit der Beklagten für die Inobhutnahme ergab sich aus § 87 SGB VIII, weil sich der Junge schon vor Beginn der Maßnahme tatsächlich in T aufgehalten hat.

Kläger und Beklagte sind seinerzeit auch zu Recht davon ausgegangen, dass die Erstattungsverpflichtung nach § 89b Abs. 1 i. V. m. § 86 SGB VIII mit dem Tod der Kindesmutter am 12.12.2001 auf den Kläger übergegangen ist. Leben die Eltern bei Beginn der Maßnahme - hier also am 11.12.2001 - nicht zusammen und haben sie getrennte gewöhnliche Aufenthalte, richtet sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils der das Personensorgerecht hat (§ 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Stirbt ein Elternteil bei verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalten, so ist nach Maßgabe von § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII der gewöhnliche Aufenthalt des überlebenden Elternteils maßgebend.

Vgl. Schl.-H. OVG, Urteil vom 28.3.2001 - 2 L 68/01 -, FEVS 53, 25; Hess. VGH, Urteil vom 26.4.2005 - 10 UE 514/04 -, FEVS 56, 529; DIJuF-Rechtsgutachten vom 2.8.2005, JAmt 2005, 565 (566).

Unbeachtlich ist in diesem Fall, ob der überlebende Elternteil die Personensorge für das Kind oder eine tiefere persönliche Beziehung zu ihm hat.

Siehe auch: Reisch, in: Jans/Happe/Saurbier/Maas, Kinder- und Jugendhilferecht, Stand 12/2007, Erl. Art. 1 § 86 KJHG Rnr. 21.

Überlebender Elternteil i. S. d. § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII ist im vorliegenden Fall H Dieser hatte im hier maßgebenden Erstattungszeitraum seinen gewöhnlichen Aufenthalt unstreitig im Zuständigkeitsbereich des Klägers. Die erfolgreiche Vaterschaftsanfechtung wirkt lediglich "ex nunc".

Besteht nach Maßgabe von § 1592 Nr. 1 BGB eine sog. Scheinvaterschaft, so gilt im Rahmen der Vorschriften des BGB über die eheliche Abstammung der Scheinvater solange als Vater i. S. d. § 86 SGB VIII, bis rechtskräftig festgestellt ist, dass er nicht der Vater des Kindes ist.

Vgl. Reisch, a.a.O., Erl. § 86 Art. 1 KJHG Rnr. 6.

Bei dem Urteil, mit dem festgestellt worden ist, dass eine Vaterschaft des H nicht besteht, handelt es sich allerdings um ein Gestaltungsurteil, mit dem das Amtsgericht das bisher nach § 1592 Nr. 1 BGB vermutete Vater-Kindschafts-Verhältnis rückwirkend ab dem Tag der Geburt des Kindes aufgehoben hat, vgl. BGH, Urteil vom 3.11.1971 - IV ZR 86/70 -, BGHZ, 57, 229; Bay. VGH, Urteil vom 19.2.2001 - 12 B 00.1566 -, Juris, und Beschluss vom 11.9.2007 - 5 CS 07.1921 -, Juris; Diederichsen, in: Palandt, BGB, 63. Aufl. 2004, § 1599 Rnr. 7, so dass E abstammungsrechtlich als von Geburt an vaterlos gilt. Das Urteil wirkt insofern nach Maßgabe von § 640h ZPO auch durchaus für bzw. gegen alle und erstreckt sich damit ggfls. auch auf andere Rechtsgebiete, in denen an die Vaterschaft im abstammungsrechtlichen Sinne angeknüpft wird.

So im Falle des LSG Bad.-Württ., Urteil vom 3.2.2004 - L 11 KR 2534/03 -, Juris.

Auf die jugendhilferechtliche Zuständigkeit wirken sich jedoch sowohl die Vaterschaftsanerkennung als auch die Feststellung der Nichtvaterschaft lediglich "ex nunc" aus.

Vgl. Kunkel, in: LPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 86 Rnr. 16; SprSt. Stuttgart, Entscheidung vom 28.3.2000 - St 45/97 -, EuG 57, 35; ZSpr., Ent-scheidung vom 9.10.1997 - B 96/96 -, EuG 52, 510 (514); DIJuF-Rechtsgutachten vom 15.12.2005, JAmt 2006, 185; DIJuF-Rechtsgutachten vom 27.8.2003, JAmt 2003, 587.

Die hier maßgeblichen Zuständigkeitsregelungen des Jugendhilferechtes knüpfen gerade nicht vorbehaltslos an die Vaterschaft im abstammungsrechtlichen Sinne an, sondern bringen in § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII ("solange die Vaterschaft nicht anerkannt oder gerichtlich festgestellt ist") zum Ausdruck, dass es für das Vaterschaftsverhältnis auf den Zeitpunkt der wirksamen Anerkennung oder einer wirksamen gerichtlichen Feststellung ankommt. Damit sieht § 86 Abs. 1 SGB VIII im Unterschied zum bürgerlichen Recht keine relative Rückwirkung einer Vaterschaftsfeststellung oder - wie hier - einer erfolgreichen Vaterschaftsanfechtung vor.

So auch DIJuF-Rechtsgutachten vom 27.8.2003, a.a.O., und vom 5.3.2001, JAmt 2001, 229 (230); ZSpr., Entscheidung vom 9.10.1997 - B 96/96 -, a.a.O.

Eine Rechtsprechung, die nur auf die abstammungsrechtliche Wirkung des Gestaltungsurteils zur Vaterschaftsanfechtung abstellt, so VG Ansbach, Urteil vom 28.6.2007 - AN 14 K 04.01081 -, Juris, verkennt schon den Wortlaut des § 86 Abs. 1 SGB VIII, der auch Ableitungen aus einer Rechtsprechung zum anders eingebundenen Begriff der "Familie" in § 1 Abs. 3 JWG verbietet.

Siehe VG Düsseldorf, Urteil vom 9.2.1987 - 19 K 4718/85 -, NJW 1987, 3215.

Die wirksame Vaterschaftsanerkennung bzw. rechtskräftige Feststellung zur Vaterschaft vermag auch deshalb - unbeschadet der bürgerlich-rechtlichen Rechtswirkungen etwa nach §§ 1594 Abs. 1 oder 1600d Abs. 4 BGB - ausschließlich ex nunc zuständigkeitsbestimmend zu sein, weil nur dies der Gesamtsystematik der Zuständigkeitsnormen und ihrer Ergebnisorientierung entspricht.

Vgl. Reisch, a.a.O., Erl. § 86 Art. 1 KJHG, Rnr. 20; siehe auch den Beispielsfall zur Gewährung von Bundeserziehungsgeld des BayLSG, Urteil vom 24.8.2006 - L 9 EG 235/03 -, Juris.

Die örtliche Zuständigkeit bestimmt sich nach der Intention des Gesetzes gemäß den Umständen, wie sie im Zeitpunkt des Tätigwerdens des Jugendamtes feststehen. Eine rückwirkende Änderung der Zuständigkeit, weil sich Rechtstatsachen nachträglich geändert haben, sieht § 86 SGB VIII nicht vor, sondern ordnet einen Wechsel der Zuständigkeit nur für die Zukunft im Anschluss an ein veränderndes Ereignis an. Dass diese Zukunft wegen der Rückwirkung des verändernden Ereignisses in der Vergangenheit liegt, ist dem System der "dynamischen" bzw. "wandernden" Zuständigkeit fremd. § 86a SGB VIII begründet für den Fall, dass die Klärung zuständigkeitsbegründender Umstände längere Zeit in Anspruch nimmt, bezeichnender Weise eine Notzuständigkeit, greift aber gerade nicht in die Vergangenheit zurück. Dies würde auch Sinn und Zweck einer klaren und eindeutigen Zuständigkeitsabgrenzung, vgl. VGH Bad.Württ., Urteil vom 23.3.2004 - 9 S 575/03 -, FEVS 56, 211 (216), widersprechen. Das Kindeswohl, dem das Kinder- und Jugendhilferecht verpflichtet ist, verlangt nämlich nicht nur eine möglichst klare und eindeutige, sondern auch eine weitgehend stabile Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit für die zu erbringenden Leistungen und sonstigen Maßnahmen, damit der aufgetretene Bedarf rasch, ohne Reibungsverluste aufgrund von Verzögerung und mit der geschuldeten Verantwortung gedeckt wird. Ein Ausgleich von Kosten erfolgt nach dem SGB VIII nicht im Leistungsverhältnis durch eine nachträgliche Korrektur der Zuständigkeit, sondern unter weitestgehender Vermeidung einer Beteiligung des Hilfesuchenden mittels Erstattung nach den Regeln der §§ 89 ff. SGB VIII, die dabei mit § 89 f Abs. 1 Satz 2 SGB VIII ausdrücklich auch dem Umstand Rechnung tragen, dass der Erstattungsgläubiger in eigener örtlicher Zuständigkeit geleistet hat. Dadurch, dass § 89b Abs. 1 SGB VIII auf die Zuständigkeit nach § 86 SGB VIII abhebt, werden hier insoweit die Grundsätze des Leistungsrechtes - namentlich das Prinzip einer Zuständigkeitsveränderung nur für die Zukunft - adaptiert. Dies erscheint insbesondere auch unter Gesichtspunkt einer überschaubaren und einfach zu handhabenden Kostenerstattung gerechtfertigt. Bei einem Griff in die Vergangenheit wären angesichts der Vielzahl von möglichen Fallkonstellationen demgegenüber in zahlreichen Fällen umfangreiche Ermittlungen etwa bzgl. der Aufenthaltsverhältnisse der maßgeblichen Personen in der Vergangenheit erforderlich und nach Jahren der Hilfegewährung käme es - insbesondere auch unter Beachtung der Fristen in den §§ 111 und 113 SGB X - zu teilweise extrem verworrenen Erstattungsverhältnissen, die so vom Gesetzgeber nicht gewollt sein können.

So auch DIJuF-Rechtsgutachten vom 5.3.2001, a.a.O.

II. Soweit der Kläger Kostenerstattung für die von ihm selbst in der Zeit bis zum 31.8.2004 erbrachte Hilfe verlangt, hat schon das VG die Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen.

Auch die Voraussetzungen des § 105 SGB X für eine Erstattung seitens der Beklagten liegen nicht vor. Nach § 105 SGB X ist, wenn ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, der zuständige Leistungsträger erstattungspflichtig.

Vor dem Hintergrund, dass nach den vorstehenden Ausführungen die erfolgreiche Vaterschaftsanfechtung zuständigkeitsrechtlich nur "ex nunc" - also erst ab Rechtskraft des amtsgerichtlichen Urteils vom 22.7.2004 - Wirkungen entfaltet und von einem gewöhnlichen Aufenthalt des H im Zuständigkeitsbereich des Klägers jedenfalls bis zum 1.10.2002 - Abmeldung von Amts wegen nach unbekannt - ausgegangen werden kann, war der Kläger im Zeitraum von Beginn seiner Leistungen an bis Anfang Oktober 2002 mit Blick auf § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII schon nicht unzuständig.

Soweit man davon ausgeht, dass H als Scheinvater ab Oktober 2002 im Zusammenhang auch mit seiner Inhaftierung keinen gewöhnlichen Aufenthalt mehr im Zuständigkeitsbereich des Klägers hatte, so dass der einzig in Frage kommende Anknüpfungspunkt für die örtliche Zuständigkeit des Letzteren für Leistungen der Jugendhilfe entfallen ist und er die Pflegegeldzahlungen als unzuständiger Leistungsträger erbracht hat, ist jedenfalls nicht die Beklagte zuständig geworden.

Dafür, dass der als Kindesvater geltende H seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Erstattungszeitraum ab Oktober 2002 jemals in der Stadt T genommen und damit die örtliche Zuständigkeit der Beklagten nach § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII begründet hat, fehlen jegliche Anhaltspunkte.

Auch wenn man nicht annehmen wollte, der Scheinvater habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt in den jeweiligen Haftanstalten in X und später F genommen, vgl. zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltes in einer Haftanstalt etwa BVerwG, Urteil vom 4.6.1997 - 1 C 25.96 -, NVwZ-RR 1997, 751; Bay. VGH, Beschluss vom 12.2.2008 - 12 ZB 07.921 -, Juris; OVG Saarland, Beschluss vom 3.9.2007 - 3 Q 133/06 -, FEVS 59, 134, sondern von der Begründung bloß eines tatsächlichen Aufenthaltes ausgeht, sich ein gewöhnlicher Aufenthalt des Scheinvaters im maßgeblichen Zeitraum also jedenfalls i. S. v. § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII nicht feststellen lässt, führt das nicht zur örtlichen Zuständigkeit der Beklagten. Die Zuständigkeit richtet sich nach § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII dann nämlich nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes oder Jugendlichen vor Beginn der Leistung. Zu diesem Zeitpunkt hatte E seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei der Familie L im O-Kreis.

Als Leistungsbeginn kommt dabei nicht die Inobhutnahme des Jungen nach § 42 SGB VIII in Betracht, weil diese eine im Verhältnis zu den in §§ 27 ff. SGB VIII zusammengefassten Hilfen völlig andere Zielrichtung besitzt und der Gesetzgeber dementsprechend die Inobhutnahme in § 2 SGB VIII auch nicht dem Begriff der Leistung zugeordnet hat.

So auch OVG NRW, Beschluss vom 30.11.2007 - 12 A 2485/07 -, Urteile vom 21.6.2007 - 12 A 3371/05 - mit Hinweis auf VG Karlsruhe, und vom 26.10.2006 - 8 K 2931/05 -, ZfSH-SGB 2007, 151.

Denn § 2 Abs. 1 SGB VIII unterscheidet ausdrücklich zwischen den im folgenden Absatz 2 aufgelisteten "Leistungen" und den in Abs. 3 aufgezählten "anderen Auf-gaben", zu denen die unter Ziffer 1. genannte zählt.

Vgl. zum Leistungsbegriff grundlegend: BVerwG, Urteil vom 29.1.2004 - 5 C 9.03 -, BVerwGE 120, 116.

Ist hier demnach auf die Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege abzustellen, ist in der Rechtsprechung des Senats geklärt, dass der Zeitpunkt "vor Beginn der Leistung" der Zeitpunkt ist, in dem der Antrag auf diese Leistung gestellt wird.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30.4.2004 - 12 A 4295/01 -, Juris, Urteil vom 13.6.2002 - 12 A 3177/00 -, FEVS 54, 275; so im Ergebnis auch: Bay. VGH, Urteil vom 1.4.2004 - 12 B 99.2510 -, Juris, Beschluss vom 19.1.2006 - 12 ZB 04.696 -, Juris, jeweils m. w. N.

Die Hilfe ist hier am 24.5.2002 beantragt und auch mit Wirkung ab diesem Datum bewilligt worden.

E hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt im O-Kreis bei der Familie L jedoch nicht erst mit der Beantragung der Vollzeitpflege, sondern schon vor dem 24.5.2002 begründet. Maßgeblich für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthaltes ist insoweit die Legaldefinition in § 30 Abs. 3 SGB I, wonach jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort hat, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt.

Vgl. zur Legaldefinition zusammenfassend: OVG NRW, Urteil vom 13.9.2006 - 12 A 3259/04 -, m. w. N.

Diese Feststellung ist aufgrund einer die tatsächlichen Verhältnisse berücksichti-genden Prognose zu treffen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 4.6.1997 - 1 C 25.96 -, NVwZ-RR 1997, 751.

Erforderlich ist zunächst auch bei Minderjährigen eine tatsächliche Aufenthaltsnahme, vgl. BVerwG, Beschluss vom 7.7.2005 - 5 C 9.04 -, NVwZ 2006, 97, Urteil vom 26.9.2002 - 5 C 46.01, 5 B 37.01 -, NVwZ 2003, 616, wie sie hier schon durch die Unterbringung des Jungen am 23.12.2001 im Rahmen der Inobhutnahme erfolgt ist. Es ist hingegen kein dauerhafter oder längerer Aufenthalt erforderlich. Vielmehr genügt es, wenn der Betroffene sich an einem bestimmen Ort "bis auf weiteres" im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.3.1999 - 5 C 11.98 -, FEVS 49, 434 (436).

Ein Minderjähriger hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Regel an dem Ort, an dem er seine Erziehung erhält, wobei es darauf ankommt, ob sie nur vorübergehend oder auf Dauer erfolgen soll.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 26.9.2002 - 5 C 46.01, 5 B 37.01 -, a.a.O., mit Hinweis auf Urteile vom 26.11.1981 - 5 C 56.80 -, BVerwGE 64, 224 (231) und vom 15.5.1986 - 5 C 68.84 -, BVerwGE 74, 206 (211).

Von der hiernach erforderlichen Dauerhaftigkeit ist hier auszugehen. Dem steht nicht von vornherein entgegen, dass der Aufenthalt rein rechtlich - wie hier - in eine Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII als einer nur vorläufigen Maßnahme eingebettet ist, denn die Unterbringung von E bei der Familie L sollte nicht nur vorübergehend erfolgen. Laut Vermerk vom 3.1.2002 ging das Jugendamt der Beklagten schon zu einer Zeit, als noch keine Vormundschaft eingerichtet war und es jedenfalls faktisch die Personensorge ausübte, davon aus, dass E in der Pflegestelle L bleiben werde. Dies lag insbesondere deshalb nahe, weil es sich bei L um eine Halbschwester der verstorbenen H handelte und das Ehepaar L bereits deren Tochter K - eine ältere Halbschwester von E - in Pflege hatte. Nur wenn E auf unabsehbare Zeit bei der Familie L unterkommen konnte, rechtfertigte sich die Verlegung seines Lebensmittelpunktes in ein völlig anderes soziales Umfeld. Mit der Bestellung des Jugendamtes des O-Kreises zum Vormund durch amtsgerichtlichen Beschluss vom 6.2.2002 ist die Langfristigkeit des Aufenthaltes des Jungen bei der Familie L bestätigt worden. Die Übertragung der Vormundschaft auf das Jugendamt des O-Kreises war von der Absicht geleitet, E auf unabsehbare Zeit bei der Familie L zu belassen. Diese Vorstellung bestätigt sich in den gemeinsamen Bemühungen des Jugendamtes des O-Kreises und des Jugendamtes der Beklagten, dem Jungen durch die Verschaffung einer Halbwaisenrente und von Kindergeldzahlungen die Grundlage für einen längerfristigen Verbleib bei der Familie L zu verschaffen. Danach wäre also in dem Fall, in dem der Scheinvater H in den Haftanstalten X und F lediglich einen tatsächlichen, nicht aber seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hätte, gemäß § 86 Abs. 4, Satz 1 SGB VIII nicht die Beklagte, sondern der O-Kreis im Rahmen des § 105 SGB X der richtige Erstattungsschuldner.

Das würde auch unabhängig von § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII für den Zeitraum ab dem 24.12.2003 nach Maßgabe von § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gelten, falls der O-Kreis zum 24.12.2003 nach § 86 Abs. 6 SGB VIII für die Erbringung der Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege erstmals zuständig geworden sein sollte, weil E zu diesem Zeitpunkt 2 Jahre bei der Familie L gelebt hatte und sein dortiger Verbleib auf Dauer zu erwarten war. Der Kläger hätte unter dieser Voraussetzung die Leistung trotz Zuständigkeitswechsels i. S. v. § 86c SGB VIII fortgesetzt.

Ein Erstattungsdurchgriff auf die Beklagte kommt nicht in Betracht. Ein solcher ergibt sich nicht aus § 89e SGB VIII.

Dabei mag dahinstehen, ob E überhaupt im Sinne dieser Vorschrift "in einer anderen Familie" untergebracht gewesen ist. Denn dies setzt eine grundsätzlich auswahloffene Aufnahmefamilie voraus, vgl. BVerwG, Urteile vom 2.6.2005 - 5 C 1.04 -, NJW 2005, 2794, und vom 25.10.2004 - 5 C 39.03 -, FEVS 56, 353, was im Hinblick auf das verwandtschaftliche Verhältnis zwischen der Familie L und E vorliegend zumindest zweifelhaft erscheint.

Ungeachtet dessen ist ein "Durchgriff" unmittelbar auf die - dem O-Kreis bei dessen Inanspruchnahme als Erstattungsschuldner ihrerseits dem Grunde nach auf die Erstattungskosten erstattungspflichtige - Beklagte, vgl. zur Kostenerstattung nach § 89a SGB VIII von Kosten, die rechtmäßig zur Erfüllung eines Erstattungsanspruches eines weiteren Jugendhilfeträgers aufgewendet worden sind: BVerwG, Urteil vom 5.4.2007 - 5 C 25.05 -, FEVS 58, 536, m. w. N., deshalb nicht möglich, weil § 89e Abs. 1 SGB VIII - anders als § 89a Abs. 2 SGB VIII - vgl. dazu Bay. VGH, Urteil vom 18.7.2007 - 12 B 06.955 -, Juris; DIJuf-Rechtsgutachten vom 4.2.2003 - JAmt 2003, 139 (140), jeweils m. w. N., einen solchen Durchgriff nicht vorsieht. Denn der in § 89e Abs. 1 SGB VIII normierte Erstattungsanspruch steht nur dem öffentlichen Träger des Einrichtungsortes zu, dessen Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes oder des Jugendlichen begründet wird und nicht dem trotz fehlender Zuständigkeit tatsächlich leistenden Jugendhilfeträger.

Vgl. Reisch, a.a.O., Erl. § 89e Art. 1 KJHG, Rnr. 27 a.E., m. w. N.

Als Ausnahmevorschrift ist § 89a Abs. 2 SGB VIII insoweit eng auszulegen und nicht erweiternd auf andere Erstattungskonstellationen auszudehnen.

In diesem Sinne: BVerwG, Urteil vom 5.4.2007 - 5 C 25.05 -, BVerwGE 128, 301.

Der Schutz der Einrichtungsorte wird in den nicht von § 89a SGB VIII erfassten Fällen - gerade etwa auch bei einer Weiterleistung nach § 86c SGB VIII -, vielmehr in hinreichender Weise durch den dem zuständig gewordenen Leistungsträger selbst nach seinem Eintritt zustehenden Anspruch auf Kostenerstattung erreicht.

So wohl DIJuF-Rechtsgutachten vom 13.10.2005, JAmt 2006, 87, mit Hinweis u.a. auf BVerwG, Urteil vom 22.11.2001 - 5 C 42.01 -, EuG 56, 353 = BVerwGE 115, 251.

Eine erweiterte Anwendung des Erstattungsdurchgriffes nach § 89a Abs. 2 SGB VIII wird dementsprechend - soweit ersichtlich - nur für die Erstattungssituation des § 89b Abs. 3 SGB VIII, also im Rahmen des Erstattungsanspruches nach § 89a Abs. 1 bejaht.

Vgl. Schl.-H. OVG, Urteil vom 28.3.2001 - 2 L 68/01 -, FEVS 53, 25; Kunkel, in: LPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 89b, Rnr. 6, m. w. N.

Ende der Entscheidung

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