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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 29.09.2004
Aktenzeichen: 13 A 4479/02
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 2
GG Art. 19 Abs. 4
GG Art. 20 Abs. 3
VerfG § 32
AMG § 31
Trifft auch die Behörde für die Versäumung einer Antragsfrist ein Verschulden, so kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sein.
Tatbestand:

Die Klägerin beantragte im Mai 1995 die Verlängerung der Zulassung eines Arzneimittels, das erstmals unter dem 18.11.1985 zugelassen worden war. In dem Verlängerungsbescheid der Beklagten vom 23.9.1999 heißt es, die Verlängerung werde für fünf Jahre erteilt. Im Oktober 2000 fragte die Klägerin bei der Beklagten an, ob die Verlängerung bis zum 23.9.2004 oder bis zum 18.11.2005 reiche; sollte die Verlängerung nur bis zum 18.11.2000 gelten, beantrage sie eine erneute Verlängerung und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der dann versäumten Drei-Monats-Frist des § 31 Abs. 3 Satz 1 AMG. Die Beklagte lehnte den Antrag als unzulässig ab. Mit ihrer Klage auf Bescheidung in der Sache hatte die Klägerin in beiden Instanzen Erfolg.

Gründe:

Zwar hat die Klägerin die Drei-Monats-Frist des § 31 Abs. 3 Satz 1 AMG - zur Auslegung des § 31 AMG und zur Fristberechnung vgl. Urteil des Senats vom 27.4.2004 - 13 A 3596/01 -, noch nicht veröffentlicht, Revisionsaktenzeichen BVerwG 3 C 22.04 - versäumt. Dies war nach den Maßstäben des vorstehend genannten Senatsurteils, an denen festgehalten wird, auch schuldhaft. Jedoch hätte die Beklagte den insofern - nach den überzeugenden Feststellungen des angefochtenen Urteils, die die Beklagte hingenommen hat, auch rechtzeitig - gestellten Wiedereinsetzungsantrag positiv bescheiden müssen, was das VG nachgeholt hat und nachholen konnte.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 29.3.1995 - 13 A 3442/93 -, NWVBl. 1996, 156.

Wie in dem angefochtenen Urteil zutreffend ausgeführt, steht § 31 Abs. 1 Nr. 3 AMG einer Statthaftigkeit der Wiedereinsetzung gemäß § 32 Abs. 1 VwVfG nicht entgegen. Nach § 32 Abs. 1 Satz 1 VwVfG ist dem Betroffenen auf Antrag Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn er ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Unverschuldete Fristversäumung erfordert, dass dem Betroffenen nach den gesamten Umständen kein Vorwurf daraus zu machen ist, dass er die Frist versäumt hat und ihm die Einhaltung der Frist zumutbar war. Es darf also nicht diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen werden, die einem gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Verfahrensbeteiligten geboten und zumutbar ist.

Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 5.2.1990 - 9 B 506.89 -, NJW 1990, 3103, und Urteil vom 27.2.1976 - IV C 74.74 -, NJW 1976, 1332, wo zugleich ausgeführt wird, mit § 60 Abs. 1 VwGO (der § 32 Abs. 1 VwVfG entspricht) könnten Härten aufgefangen werden; die Vorschrift ermögliche, dort zu helfen, wo dazu wegen der konkreten Gegebenheiten Anlass besteht.

Das Kriterium der Zumutbarkeit räumt die Möglichkeit ein, den vom Gesetz nicht geregelten Fall eines Verschuldens auch der Behörde zu berücksichtigen. Aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG ergibt sich ein allgemeines Grundrecht auf ein faires Verfahren. Aus dem Gebot eines fairen Verfahrens folgt u. a., dass ein Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern, Unklarheiten oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten darf.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.4.1988 - 1 BvR 669, 686, 687/87 -, BVerfGE 78, 123, 126.

Ausdrücklich hat das BVerfG, Beschluss vom 4.5.2004 - 1 BvR 1892/03 -, Rz. 11, JURIS, formuliert: Beruhe eine Fristversäumung auf Fehlern des Gerichts, seien die Anforderungen an eine Wiedereinsetzung "mit besonderer Fairness" zu handhaben.

Zwar sind die genannten Entscheidungen des BVerfG jeweils zu gerichtlichen Verfahren ergangen. Da es für den durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Kreis aber keine Bedeutung hat, ob er durch überspannte Anforderungen bei Gericht in seinem in Art. 19 Abs. 4 GG verankerten Justizgewährungsanspruch verletzt wird oder ob er sein Anliegen erst gar nicht vor Gericht bringen kann, weil er im Verwaltungsverfahren unfair behandelt wird, und sich Art. 20 Abs. 3 GG auch an die vollziehende Gewalt richtet, sieht sich der Senat nicht gehindert, das vom BVerfG betonte Fairnessgebot bei behördlichen Fehlern auch im Rahmen des § 32 VwVfG zu berücksichtigen.

So auch BVerwG, Urteil vom 22.10.1993 - 6 C 10.92 -, NVwZ 1994, 575.

Wie und unter welchen Umständen eine behördliche Mitschuld geeignet ist, ein eigenes Verschulden des Betroffenen zu relativieren, ist von Fall zu Fall in wertender Betrachtung festzustellen. Ob behördliches (Mit-)Verschulden gegebenenfalls die Einhaltung einer Frist unzumutbar macht oder dadurch das Verschulden des Betroffenen überlagert wird oder auf sonstige Weise entfallen lässt, ist eher eine akademische Frage, die keiner Entscheidung bedarf. Das gilt auch für die Möglichkeit, dass sich die Behörde auf das Verschulden des Betroffenen bei ursächlichem eigenen Verschulden nicht berufen darf.

So BVerwG, Urteil vom 22.10.1993, a.a.O.

Jedenfalls ist im vorliegenden Fall das Verschulden der Klägerin in einem solchen Maße durch Umstände aus der Sphäre der (beklagten) Behörde beeinflusst, dass hier die gebotene Fairness schon zu einer Wiedereinsetzung durch die Beklagte selbst hätte führen müssen, so dass die Wiedereinsetzung durch das VG nicht zu beanstanden ist.

Zunächst fällt die Antragsbescheidung nach mehr als 4 (in Worten: vier) Jahren allein in die Sphäre der Beklagten, die durch § 27 Abs. 1 AMG zu einer wesentlich schnelleren Entscheidung verpflichtet war. Je näher die Entscheidung an den Zeitpunkt des Erlöschens einer Zulassung nach fünf Jahren (§ 31 Abs. 1 Nr. 1 AMG) heranrückt, desto eher kann der Betroffene der Meinung sein, eine ohne Erklärung oder ausdrücklich formulierte Rückwirkung erteilte Verlängerung gelte vom Zeitpunkt der Zustellung des Bescheides an. Je länger die Behörde aber die Bescheidung des Zulassungsantrags - aus welchen sonstigen Gründen auch immer - unter Verstoß gegen ihre gesetzliche Verpflichtung hinausgeschoben hat, desto mehr wird auch eine kleinliche Behandlung der Wiedereinsetzung unbillig und unfair. Das gilt zumindest hier, wo bis zum 28.8.2000, dem letzten Tag einer fristgemäßen erneuten Antragstellung auf Verlängerung nicht einmal mehr ein ganzes Jahr ab Bescheidzustellung am 29.9.1999 lag.

Zu der verspäteten Bescheidung kommt hinzu, dass der Verlängerungsbescheid mit der Aussage, die Verlängerung der Zulassung für das genannte Arzneimittel werde "für fünf Jahre erteilt", an sich schon missverständlich war. Er war zwar nicht sachlich unrichtig, aber trotz des weiteren Hinweises auf § 31 Abs. 3 AMG und - an späterer Stelle - der Angabe des Datums der (Erst-)Zulassung, also des 18.11.1985, auch nicht hinreichend klar formuliert. Dies wäre der Beklagten aber durch einen zusätzlichen Hinweis oder durch eine sonstige geeignete Wortwahl zur Berechnung des Beginns der fünf Jahre unschwer möglich gewesen. Jedenfalls im vorliegenden Fall, in dem die Antragstellung über vier Jahre zurücklag und die schlichte Erteilung "für fünf Jahre" besonders leicht zu einem Missverständnis führen konnte, wäre dies im Sinne einer fairen Verfahrensgestaltung geboten gewesen. Hierin liegt das Verschulden der Beklagten. Wer eine unklare Formulierung verursacht, muss sich daran festhalten lassen, weil er es in der Hand hatte, eindeutig zu formulieren.

Mit dieser Entscheidung weicht der Senat nicht von seinem eingangs erwähnten Urteil vom 27.4.2004 ab. Dort war zunächst der Bescheid zwar auch nicht eindeutig formuliert (wenn auch etwas klarer als im vorliegenden Fall). Der Senat hat aber ausdrücklich festgestellt, das Ergebnis der Wiedereinsetzungsablehnung sei auch nicht unbillig, "da die Behörde selbst nichts ursächlich falsch gemacht" habe. Dort war auch nach der Beantragung der Verlängerung bis zum Bescheid eine wesentlich kürzere Zeit vergangen und die Zeit der Gültigkeit der Zulassung wesentlich länger, so dass sich der Behörde die vorliegend durch den Zusammenhang mit der sehr späten Bescheidung entstandene Missverständlichkeit der Formulierung des Bescheides nicht aufzudrängen brauchte.

Der Senat hält auch daran fest, dass grundsätzlich ein Verschulden des Betroffenen daraus abgeleitet werden kann, dass er Zweifel hätte haben und aufklären müssen. Er geht daher auch vorliegend von einem der Klägerin zuzurechnenden Verschulden aus. Er entnimmt aber dem Beschluss des BVerfG vom 4.5.2004 im Kontext mit der abweichenden Meinung Haas, dass sich nach der Mehrheitsmeinung das Fairnessgebot auch dieser Art von Verschulden gegenüber durchsetzen können soll und sich hier durchsetzt.

Ende der Entscheidung

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