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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 03.11.2005
Aktenzeichen: 14 A 3101/03
Rechtsgebiete: ÄAppO


Vorschriften:

ÄAppO § 18 Abs. 1
ÄAppO § 18 Abs. 1 Satz 1
ÄAppO § 18 Abs. 1 Satz 3
1. Eine zur Prüfungsunfähigkeit im medizinischen Sinne führende Belastungsreaktion kann als wichtiger Grund den Rücktritt von einer Prüfung rechtfertigen, wenn sie ihre Ursache in einer vom Prüfling nicht bewältigten, weil nicht erkannten chronischen Überlastungssituation mit psychosomatischer Reaktionsbildung hat.

2. Einzelfall einer vom Prüfling wegen der soziokulturellen Besonderheiten der Herkunft und wegen der besonderen Gegebenheiten im Migrationsprozess nicht erkannten Überlastungssituation.

3. Zur Rechtzeitigkeit der Rücktrittserklärung und zur Verbindlichkeit amtsärztlicher Atteste.


Tatbestand:

Die Klägerin studiert seit dem WS 1994/95 Humanmedizin. Sie meldete sich nach mehreren genehmigten Rücktritten aus Krankheitsgründen und nach zweimaligem Nichtbestehen erneut zur ärztlichen Vorprüfung im Frühjahr 2001 und nahm am ersten Tag der schriftlichen Prüfung teil. An diesem Tag kollabierte sie und wurde in das Medizinische Zentrum Kreis B. eingeliefert. Sie erklärte am nächsten Tag ihren Rücktritt von der Prüfung. Der Notfallschein des Krankenhauses weist als Diagnose "Verdacht auf psychoreaktive Symptombildung" auf. In einem Kurzbrief des Krankenhauses heißt es: "Die Patientin stellte sich vor mit seit 1 Woche rezidivierend auftretenden Drehschwindelbeschwerden mit subjektiver Fallneigung nach rechts in Verbindung mit Kopfschmerzen, einem Angstgefühl, Herzrasen und einem in den linken Arm ziehenden Brennen der linken Thoraxhälfte ohne Übelkeit, Tinnitus und Luftnot". Neurologische Ausfälle wurden nicht festgestellt. Die Beschwerden sistierten spontan während des eintägigen stationären Aufenthalts. Im amtsärztlichen Attest vom 15.3.2001 wird unter Hinweis auf den vorgenannten Kurzbrief und eine Untersuchung Prüfungsunfähigkeit vom 13. bis 14.3. festgestellt.

Die beklagte Prüfungsbehörde nahm das Säumnisgesuch nicht an und erklärte die ärztliche Vorprüfung in der zweiten Wiederholung und damit insgesamt für nicht bestanden. Widerspruch und Klage auf Genehmigung des Rücktritts blieben ohne Erfolg. Während des Klageverfahrens legte die Klägerin zwei Gutachten einer Universitätsklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin aus dem Jahre 2002 vor, in der sie mehrere Monate lang ambulant behandelt worden war.

Der Senat gab der Berufung statt auf der Grundlage eines von ihm eingeholten Gutachtens einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie über die Frage, ob die Symptome, die am 13.3.2001 angegeben bzw. festgestellt wurden, auf eine Erkrankung und, wenn ja, welcher Art oder auf eine Überlastungssituation zurückzuführen sind. Die Sachverständige sollte u. a. bei Feststellung einer Überlastungssituation als Ursache der gezeigten Symptomatik die Faktoren benennen, die die Überlastungsreaktion ausgelöst haben.

Gründe:

Die Klägerin hat gemäß § 18 Abs. 1 ÄAppO in der Fassung der Bekanntmachung vom 14.7.1987, BGBl. I S. 1593, zuletzt geändert durch Art. 8 des Gesetzes vom 27.4.2002, BGBl. I S. 1467, Anspruch darauf, dass die Beklagte ihren am 14.3.2001 erklärten Rücktritt von der ärztlichen Vorprüfung genehmigt.

Das VG ist zu Recht davon ausgegangen, dass der am 14.3.2001 erklärte Rücktritt unverzüglich im Sinne des § 18 Abs. 1 Satz 1 ÄAppO war. Insbesondere war der Klägerin nicht zuzumuten, bereits vor der Prüfung wegen der von ihr geklagten rezidivierenden Beschwerden zurückzutreten; denn sie hat unwidersprochen und glaubhaft dargelegt, dass es auch immer wieder beschwerdefreie Zeitabschnitte gegeben habe.

Entgegen der Auffassung des VG hat für den Rücktritt ein wichtiger Grund im Sinne des § 18 Abs. 1 Satz 3 ÄAppO vorgelegen. Die Klägerin hat durch die amtsärztliche Bescheinigung vom 15.3.2001 nachgewiesen, dass sie aus medizinischer Sicht prüfungsunfähig war. Die Bescheinigung enthält zwar, wie auch alle zuvor von der Klägerin vorgelegten amtsärztlichen Bescheinigungen des Gesundheitsamtes der Stadt B., keine Befunde und keine Diagnose. Sie verweist aber für die amtsärztliche Feststellung der Prüfungsunfähigkeit am 13. und 14.3.2001, den Tagen des schriftlichen Teils der Ärztlichen Vorprüfung, neben "eigenen Untersuchungen" immerhin auf den Kurzbericht des Medizinischen Zentrums Kreis B. vom 15.3.2001. Damit hat sich der Amtsarzt augenscheinlich die Diagnose "Unklarer Drehschwindel, V. a. akute Belastungsreaktion DD Vestibularisausfall" zu eigen gemacht. An eine derartige amtsärztliche Stellungnahme ist die Beklagte grundsätzlich gebunden, vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.6.1993 - 6 B 9.93 -, Buchholz 421, Prüfungswesen, Nr. 316; OVG NRW, Beschlüsse vom 18.4.2002 - 14 B 308/02 - und vom 11.6.2003 - 14 B 639/03 -, wenn sie nicht auf der Ergänzung eines inhaltsarmen amtsärztlichen Attestes besteht. Es obliegt allerdings der Beurteilung der Prüfungsbehörde und im Streitfall der des Gerichts, ob eine vom Prüfling geltend gemachte und amtsärztlich attestierte Prüfungsunfähigkeit im medizinischen Sinne zu seiner Prüfungsunfähigkeit im Rechtssinne geführt hat und deshalb als wichtiger Grund für einen Rücktritt von der Prüfung anzuerkennen ist. Liegen die Ursachen, welche die Prüfungsbedingungen für den Prüfling im Verhältnis zu anderen Prüflingen ungleich erschweren, und somit auch die Ursachen für eine Prüfungsunfähigkeit, in seiner Person, so bedarf es einer Abgrenzung, ob es sich um eine erhebliche Minderung der allgemeinen Startchancen im Verhältnis zu anderen Prüflingen oder um ein Defizit in der persönlichen Leistungsfähigkeit handelt, die Voraussetzung für den Prüfungserfolg ist. Dementsprechend gehören Prüfungsstress und Examensängste, die zumeist in den spezifischen Belastungen der Prüfungen wurzeln und denen jeder Kandidat je nach Konstitution mehr oder weniger ausgesetzt ist, im Allgemeinen zum Risikobereich des Prüflings, es sei denn, dass sie den Grad einer Erkrankung erreichen.

Vgl. Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, Band 2, Prüfungsrecht, 3. Auflage, Rdnr. 154, m.w.N.; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, 2. Auflage, Rdnr. 321, m.w.N.; zur Prüfungsunfähigkeit und Examenspsychose u.a., BVerwG, Urteil vom 6.7.1979 - 7 C 26.76 -, Buchholz, a.a.O., Nr. 116; OVG NRW, Beschluss vom 16.2.2004 - 14 A 3057/03 -, NVwZ-RR 2004, 497 = WissR 2004, 272.

Auch eine Prüfungsunfähigkeit, die ihre Ursache in einer Dauererkrankung, das heißt einer krankheitsbedingten generellen und damit zur Person des Prüflings gehörenden Einschränkung seiner Leistungsfähigkeit hat, kann deshalb den Rücktritt von einer Prüfung nicht rechtfertigen.

Entgegen der Auffassung des VG erlauben jedoch weder die amtsärztliche Bescheinigung vom 15.3.2001 noch eine "Gesamtschau des bisherigen Studien- und Prüfungsverlaufs sowie der vorgelegten ärztlichen Atteste und eigenen Einlassungen" den Schluss auf ein nicht zum Rücktritt von der Prüfung berechtigendes Dauerleiden der Klägerin. Die amtsärztlichen Bescheinigungen sind insoweit fast durchweg inhaltsfrei. Die Diagnosen und festgestellten Symptome in den in der Vergangenheit vorgelegten privaten ärztlichen Attesten und die von der Klägerin zu den verschiedenen Anlässen beschriebenen Symptome sind vielgestaltig und mehrdeutig und können ohne sachverständige Hilfe nicht als auf ein einheitliches (Dauer-)Krankheitsbild deutend gewertet werden. Einer solchen Deutung widersprechen auch die Stellungnahmen der Universitätsklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin aus dem Jahre 2002, wo sich die Klägerin mehrere Monate in ambulanter psychosomatischer Behandlung befunden hat. Darin wird die Auffassung vertreten: Die Symptomatik am Prüfungstage habe ihre Ursache in einer chronischen Überforderungssituation, die u. a. durch für die Klägerin unvorhersehbare schicksalhafte Ereignisse im familiären Umfeld entstanden sei. Es bestehe bei ihr keine Prüfungsangst. Es seien auch keine persönlichkeitsbedingten Faktoren als Ursache für die Überforderungssituation erkennbar. Im übrigen hätte in einem solchen Fall für sie auch keine Möglichkeit bestanden, diese Situation aus eigener Kraft zu beheben.

Bei dieser Sachlage war aufzuklären, ob die Symptome, die am Prüfungstage festgestellt worden waren, auf eine Erkrankung oder eine Überlastungssituation zurückzuführen sind. Mit ihrem Gutachten vom 12.7.2005 beantwortet die vom Senat als Sachverständige beauftragte Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. med. N. aus B. diese Frage eindeutig und überzeugend dahin, dass die Symptome ihre Ursache in einer chronischen Überlastungssituation mit psychosomatischer Reaktionsbildung haben und nicht in Prüfungsangst oder einer abnormen Persönlichkeitsstörung. Sie hat weiter entsprechend ihrem Gutachtenauftrag die nach ihrer Ermittlung wesentlichen Faktoren benannt, die diese Überlastungssituation ausgelöst haben dürften. Danach habe die Klägerin die von ihr erwartete versorgende Rolle der türkischen Tochter gegenüber ihren Eltern übernommen, nachdem der familiäre Zusammenhalt wegen des heiratsbedingten Auszugs des älteren Bruders aus der gemeinsamen Familienwohnung im Jahre 1992 auseinander gebrochen sei. Die Eltern hätten diesen Konflikt nicht adäquat geklärt, sondern mit Depressionen, sozialem Rückzug und dem Verlust der Fähigkeit zur Bewältigung des eigenen Alltags beantwortet. Bei beiden Elternteilen seien zu verschiedenen Zeiten ernsthafte körperliche Erkrankungen hinzu getreten. Die Klägerin habe die Sorge aufopfernd allein getragen, weil sie sie mit dem Bruder, der sich davon zurückgezogen hätte, nicht habe teilen können. Daneben habe sie ihr Studium und die Prüfungsvorbereitungen betrieben und sei dazu zwischen dem Wohnsitz ihrer Eltern in C. und ihrem Studienort B. gependelt. Sie habe außerdem durch Nachtschichten die Versorgung des elterlichen Haushalts und die medizinische Versorgung der Eltern gewährleistet. Ihre Mutter habe ihr Medizinstudium zu torpedieren versucht und sich an sie geklammert. Die Klägerin habe die eigenen Grenzen nicht mehr gesehen. Sie habe sich von den Forderungen der Eltern aufgrund der soziokulturellen Besonderheiten ihrer türkischen Herkunft und der besonderen Gegebenheiten im Migrationsprozess mit hohen Anforderungen an den Familienzusammenhalt nicht distanzieren können. Weder die Klägerin noch die behandelnden Ärzte und die Familienmitglieder hätten die Überforderungssituation in ihrem tatsächlichen Ausmaß erkannt. Dies sei ihr erst gelungen, als sie im Laufe des gegenwärtigen Verfahrens eine ambulante psychotherapeutische Behandlung wahrgenommen habe. Im Laufe der kurzzeitigen Therapie seien ihr die psychodynamischen Zusammenhänge klar geworden und sie habe rasch ihre Grenzen adäquat einschätzen und ihre Konflikte lösen können.

Das Gutachten beruht auf einer umfassenden Auswertung der Gerichtsakten und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten einschließlich der sich darin befindlichen ärztlichen Stellungnahmen sowie auf zwei ambulanten psychiatrischen Untersuchungen der Klägerin. Der Senat hatte die Sachverständige u. a. unter dem Aspekt ausgewählt, dass etwa bestehende soziokulturelle Besonderheiten aufgrund der türkischen Abstammung der Klägerin angemessen erkannt und gewürdigt werden können. Das Gutachten ist wissenschaftlich fundiert und sachlich plausibel. Es erfasst und würdigt umfassend die soziale und medizinische Vorgeschichte.

Soweit dem die Beklagte mit "versorgungsärztlichen Stellungnahmen" entgegentritt, ist nicht erkennbar, dass diese auf einer überlegenen sachlichen Kompetenz oder auf besseren Einsichtsmöglichkeiten beruhen. Die ärztliche Mitarbeiterin der Beklagten, die die Autorin dieser Stellungnahmen ist, hat eigene Untersuchungen nicht angestellt. Es werden auch keine wissenschaftlichen Mängel des Gutachtens aufgezeigt. Vielmehr lehnt die "versorgungsärztliche Stellungnahme" vom 19.8.2005 vor allem die Annahme einer akuten Belastungsreaktion am 13.3.2001 und damit eine Diagnose ab, die die gerichtliche Sachverständige ihrem Gutachten gerade nicht zugrunde gelegt hatte. Allerdings wird in den Stellungnahmen der Beklagten an verschiedenen Stellen der Vorwurf gegenüber der Sachverständigen erhoben, Befunde zugunsten der Klägerin ignoriert oder verschleiert und das Gutachten parteiisch zweckgerichtet abgefasst zu haben. Da die Beklagte von den in einem solchen Fall zur Verfügung stehenden prozessualen Mitteln keinen Gebrauch gemacht hat, sind solche Äußerungen als Versuch unsachlicher Stimmungsmache zu werten. Im übrigen ist die Sachverständige den Vorwürfen mit ihrer Stellungnahme vom 11.10.2005 sachlich und persönlich überzeugend entgegen getreten.

Der Senat ist aufgrund der Beweisaufnahme davon überzeugt, dass die festgestellten Symptome am 13.3.2001 ihre Ursache nicht in einem Dauerleiden haben. Sie beruhen auch nicht auf einer dauerhaften psychosozialen Konflikt- und Belastungssituation, die die Klägerin persönlichkeits- und sozialisationsbedingt nicht bewältigen konnte und in deren Kenntnis sie sich aufgrund bewusster Risikoentscheidung der Prüfung gestellt hätte. Vielmehr ist erst aufgrund der Dekompensation am 13.3.2001 und in der Folgezeit für die Klägerin und ihre behandelnden Ärzte sowie die Familienmitglieder ihre Not sichtbar geworden, die durch die langandauernde familiäre Überlastungssituation aufgrund der soziokulturellen Besonderheiten ihrer türkischen Herkunft und der besonderen Gegebenheiten im Migrationsprozess entstanden war. Nach kurzzeitiger Therapie ist die Klägerin sodann in der Lage gewesen, die Konflikte sozial adäquat zu lösen.

Damit ist festgestellt, dass die Klägerin aus einem wichtigen Grund zurückgetreten ist. Die Beklagte hat deshalb den Rücktritt zu genehmigen.

Ende der Entscheidung

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