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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 15.04.2003
Aktenzeichen: 14 B 639/03
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 60 Abs. 1
VwGO § 146 Abs. 4 Satz 2
Wird die Begründung einer Beschwerde gegen die Entscheidung des VG im einstweiligen Rechtsschutzverfahren entgegen § 146 Abs. 4 Satz 2 VwGO beim VG eingereicht, so trifft dieses eine gesteigerte prozessuale Fürsorgepflicht, wenn es durch einen Fehler der Geschäftsstelle beim Rechtsmittelführer den Eindruck erweckt hat, die Beschwerdebegründung sei bei ihm einzureichen. Diese gesteigerte Fürsorgepflicht kann gebieten, die Beschwerdebegründung vorab per Fax an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten.
Tatbestand:

Der Antragsteller legte am 21.2.2003 durch seine Prozessbevollmächtigten gegen den eine einstweilige Anordnung ablehnenden Beschluss des VG, der ihm am 13.2.2003 zugestellt worden war, Beschwerde ein und kündigte das Nachreichen der Begründung an. Der Eingang der Beschwerde ist den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers mit Schreiben der Geschäftsstelle des VG vom 26.2.2003 bestätigt worden. Das Schreiben enthält den Zusatz:

"Die Vorlage der Akten an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen erfolgt nach Ablauf der Begründungsfrist".

Am Spätnachmittag des 12.3.2003, dem vorletzten Tag der Begründungsfrist, reichten die Prozessbevollmächtigten des Antragstellers nach Dienstschluss des VG die Begründung der Beschwerde - adressiert an das VG - per Fax bei diesem ein. Nachdem am 15.3.2003 auch die Originale der Beschwerdebegründung eingegangen waren, leitete der Vorsitzende der Kammer des VG mit Verfügung vom 17.3.2003 die Akte an das OVG weiter, wo sie am 19.3.2003 eintraf.

Auf die Fehladressierung der Beschwerdebegründung und deren verspäteten Eingang beim OVG hingewiesen, beantragte der Antragsteller Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdebegründungsfrist.

Das OVG gab dem Wiedereinsetzungsantrag statt.

Gründe:

Dem Antragsteller ist Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdebegründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO zu gewähren, weil er ohne Verschulden an ihrer Einhaltung gehindert war.

1. Der Antragsteller hat die Beschwerdebegründungsfrist versäumt.

Da er die Begründung nicht zusammen mit der Beschwerde eingereicht, sondern nachgereicht hat, war diese gemäß § 146 Abs. 4 Satz 2 VwGO beim OVG einzureichen und zwar innerhalb der hier mit dem 13.3.2003 ablaufenden Begründungsfrist von einem Monat. Beim OVG ist die Beschwerdebegründung jedoch erst nach Ablauf dieser Frist zusammen mit der Verfahrensakte am 19.3.2003 eingegangen.

Die Auffassung des Antragstellers, dass die Begründungsfrist wegen einer durch die Mitteilung der Geschäftsstelle des VG vom 26.2.2003 bewirkten fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung nicht in Gang gesetzt worden sei, ist unzutreffend.

Der Beschluss des VG war mit einer zutreffenden Rechtsmittelbelehrung versehen, die auch die Modalitäten der Beschwerdebegründung richtig wiedergab. Diese Rechtsmittelbelehrung setzte deshalb mit der Zustellung des Beschlusses die Frist für die Beschwerdeeinlegung und die Beschwerdebegründung ordnungsgemäß in Lauf. Diese korrekte Rechtsmittelbelehrung ist nicht dadurch geändert worden, dass die Geschäftsstelle des VG durch ihr Schreiben vom 26.2.2003 beim Empfänger möglicherweise die Vorstellung hat entstehen lassen, die Beschwerdebegründung sei beim VG einzureichen. Ein solches Schreiben der Geschäftsstelle ist nicht Bestandteil der unter den Beschluss gesetzten und von den Richtern unterzeichneten Rechtsmittelbelehrung und ändert diese auch nicht ab.

2. Die Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist ist für den Antragsteller jedoch unverschuldet, so daß die Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in die Begründungsfrist nach § 60 Abs. 1 VwGO vorliegen.

a) Dass der Antragsteller die Beschwerdebegründung fehlerhaft beim VG und nicht beim OVG eingereicht hat, ist ihm allerdings als Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten zuzurechnen. Sowohl die gesetzliche Regelung als auch die Rechtsmittelbelehrung unter dem angefochtenen Beschluss beinhalten eindeutig, dass die nicht zusammen mit der Beschwerde eingereichte Beschwerdebegründung an das OVG zu richten ist.

An diesem Verschulden ändert sich nichts dadurch, dass die Mitteilung der Geschäftsstelle des VG, die Akte werde nach Ablauf der Begründungsfrist dem OVG vorgelegt, leicht die Vorstellung erwecken konnte, die Begründung sei beim VG einzureichen. Eine solche Assoziation drängte sich zwar deshalb auf, weil ein Zurückbehalten der Akte durch das VG bis zum Ablauf der Begründungsfrist nur Sinn gemacht hätte, wenn die Beschwerdebegründung bei ihm einzureichen gewesen wäre. Dass die Geschäftsstelle des VG durch falsche verfahrensmäßige Behandlung der Sache fehlerhafte Vorstellungen erweckt, entlastet den rechtskundigen Prozessvertreter einer Partei jedoch nicht von der Pflicht, anhand des Gesetzes und der Rechtsmittelbelehrung zu überprüfen, wie für das beabsichtigte Rechtsmittel prozessual vorzugehen ist.

b) Die dem Antragsteller zuzurechnende Fehladressierung der Beschwerdebegründung ist jedoch in ihrer Kausalität für die Fristversäumnis durch einen Fehler des VG überholt worden. Bei pflichtgemäßer Behandlung der Beschwerdebegründung durch das VG wäre diese nämlich noch rechtzeitig beim OVG eingegangen.

Durch die Rechtsprechung des BVerfG

- vgl. Beschluss vom 20.6.1995 - 1 BvR 166/93 -, BVerfGE 93, 99 = NJW 1995, 323 = FamRZ 1995, 1559 -

ist geklärt, dass ein Gericht, das bereits mit dem Verfahren befasst war, die bei ihm fehlerhaft eingereichten fristgebundenen Schriftsätze für das Rechtsmittelverfahren im Zuge des ordentlichen Geschäftsgangs an das Rechtsmittelgericht weiterreichen muss. Das BVerfG hat diese Verpflichtung aus einer aus dem Gebot eines fairen Verfahrens resultierenden, über die Zeit der Anhängigkeit hinaus nachwirkenden Fürsorgepflicht des Gerichtes hergeleitet.

Das VG als fehlerhaft angegangenes, jedoch früher befasstes Gericht war somit verpflichtet, die bei ihm eingereichte Beschwerdebegründung "im Zuge des ordentlichen Geschäftsgangs" weiterzuleiten. Eine solche Weiterleitung hätte auch zur Fristwahrung geführt mit der Folge, dass die Kausalität des in der Fehladressierung liegenden Verschuldens der Prozessbevollmächtigten durch einen Verstoß des VG gegen die (nachwirkende) Fürsorgepflicht des befassten Gerichtes überholt worden ist. Das ergibt sich aus folgenden Überlegungen:

Da das Fax mit der Beschwerdebegründung erst nach Dienstschluss des 12.3.2003 beim VG einging, konnte diese erst am nächsten Tag, dem letzten Tag der Frist, dem zuständigen Richter des VG vorgelegt werden. Auch wenn dieser die sofortige Weiterleitung in der üblichen Art verfügt hätte, ist offensichtlich, dass der Schriftsatz nicht mehr innerhalb der Frist beim OVG eingegangen wäre. Das gilt selbst, wenn hier wegen der Eilbedürftigkeit ausnahmsweise eine Vorabübermittlung des Schriftsatzes, also ohne die zugehörige Akte, erfolgt wäre, denn mit der Post wäre auch in diesem Fall der Schriftsatz nicht vor dem 14.3.2003 und damit nach Fristablauf beim OVG eingegangen. Hieraus folgt, dass eine - isolierte - Weiterleitung der Beschwerdebegründung allein per Fax geeignet gewesen wäre, die Fristversäumnis zu verhindern.

Es erscheint fraglich, ob eine Weiterleitung per Fax zum "ordentlichen Geschäftsgang" gehört, auf den die angeführte Rechtsprechung des BVerfG abstellt. Zwar findet das Fax im schriftlichen Austausch zwischen Prozessbeteiligten und Gericht zunehmende Verwendung. Dies gilt nicht nur für Eingaben an das Gericht, sondern zunehmend auch für Mitteilungen des Gerichtes an die Parteien, wie sich auch gerade im vorliegenden Verfahren zeigt, in dem das VG mehrfach seine Schreiben an die Beteiligten per Fax übermittelt hat. Der Senat hat dennoch Zweifel, ob die sich an die geänderten technischen Möglichkeiten der Geschäftsabwicklung langsam anpassende Praxis der Gerichte bei der Fax-Übermittlung bereits zu dem gehört, was vom Begriff des "ordentlichen Geschäftsgangs" umfasst wird. Er lässt diese Frage offen und kann sie offen lassen, weil auch dann, wenn man sie in dieser Allgemeinheit verneint, unter den Besonderheiten des konkreten Falles hier eine Weiterleitung der Beschwerdebegründung durch das VG per Fax geboten war.

Die sich aus der nachwirkenden Fürsorgepflicht des mit dem Verfahren vorher befassten Gerichts ableitende Weiterleitungspflicht kann gesteigerte Maßnahmen verlangen, wenn das Gericht - wie hier durch die verfahrensordnungswidrige Information im Bestätigungsschreiben für den Rechtsmitteleingang - selbst dazu beigetragen hat, dass es zu dieser Fehladressierung gekommen ist.

Vgl. zur gesteigerten Fürsorgepflicht bei aus dem Bereich der Gerichte herrührenden Zweifelsfragen: BVerfG, aaO.

Es muss dann zwar nicht alles Denkbare unternehmen, um den Schriftsatz noch innerhalb der Frist weiterzuleiten. Vielmehr ist auch die Funktionsfähigkeit der Justiz in die Abwägung einzustellen.

Vgl. BVerfG, aaO.

Daraus folgt, dass das Gericht gegebenenfalls Kommunikationsmittel benutzen muss, deren Einsatz zwar noch nicht generell zum "ordentlichen Geschäftsgang" gehört, aber keinen nennenswerten zusätzlichen Betriebsaufwand auslöst. Bei einer gesteigerten Fürsorgepflicht, wie sie hier durch die mit dem Schreiben der Geschäftsstelle vom 26.2.2003 bewirkte Fehlassoziation ausgelöst wurde, ist deshalb das früher befasste Gericht gehalten, die fehlgeleitete Rechtsmittelbegründung auch per Fax an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten.

Ob etwas anderes gegolten hätte, wenn das Gericht die Prozessbevollmächtigten des Antragstellers sofort nach Vorlage der Beschwerdebegründung telefonisch über die Fehladressierung informiert und ihnen dadurch die Möglichkeit gegeben hätte, dem Mangel abzuhelfen, kann dahinstehen. Hier ist jedenfalls so nicht verfahren worden, so dass die unverzügliche Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht Pflicht des Ausgangsgerichtes blieb. Dies hätte hier noch am 13.3.2003 geschehen können und müssen, so dass die Begründungsfrist gewahrt worden wäre. Dass sie wegen der erst später erfolgten Weiterleitung nicht gewahrt worden ist, ist deshalb auf ein dem Antragsteller nicht zuzurechnenden Verhalten des VG zurückzuführen, das in seiner Kausalität für die Fristversäumnis den dem Antragsteller zuzurechnenden Fehler überlagert hat.

Ende der Entscheidung

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