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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 01.04.2003
Aktenzeichen: 15 A 2468/01
Rechtsgebiete: KAG NRW, AO


Vorschriften:

KAG NRW § 8
AO § 169
1. Die Fristwahrungsvoraussetzung in § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO i.V.m. § 12 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b KAG NRW, dass der Bescheid vor Ablauf der Festsetzungsfrist "den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde verlassen hat", setzt zumindest voraus, dass der Bescheid aus den Räumlichkeiten der Gemeindeverwaltung verbracht worden ist mit dem Ziel, die Bekanntgabe an den Adressaten zu bewirken.

2. Ein entsprechender Nachweis kann mit einem Ab-Vermerk des Fachamtes, der lediglich die Ablage des Bescheides in ein Postausgangsfach für die gemeindeeigene Poststelle dokumentiert, nicht geführt werden.


Tatbestand:

Für das klägerische Grundstück entstand spätestens 1992 eine Kanalanschlussbeitragspflicht. In den Verwaltungsakten befindet sich ein mit der Paraphe des ehemaligen Sachbearbeiters unterzeichneter Beitragsbescheid und einem handschriftlichen Vermerk am Textkopf "ab" mit dem eingestempelten Datum "06. April 1994".

Als 1997 auffiel, dass Zahlungen auf die Beitragsschuld nicht eingegangen waren, übersandte die Stadt eine zweite Ausfertigung des Bescheides. Der Kläger macht geltend, er habe nur die zweite Ausfertigung erhalten. Die gegen den Beitragsbescheid gerichtete Klage war in der Berufungsinstanz wegen Festsetzungsverjährung erfolgreich.

Gründe:

Die Beitragspflicht ist wegen Ablaufs der vierjährigen Festsetzungsfrist erloschen (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b KAG NRW i.V.m. § 47 AO) und durfte daher nicht mehr festgesetzt werden (§ 12 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b KAG NRW i.V.m. § 169 Abs. 1 AO).

Die Frist lief gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b KAG NRW i.V.m. § 170 Abs. 1 AO spätestens mit dem Ablauf des Jahres 1992 an, sodass die Festsetzungsfrist 1996 ablief und somit der 1997 dem Kläger bekannt gegebene Bescheid zu spät erlassen wurde.

Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Kläger der Bescheid schon 1994 zugegangen ist. Allerdings schreibt § 12 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b KAG NRW i.V.m. § 122 Abs. 2 erster Halbsatz Nr. 1 AO vor, dass ein Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, als am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post bekannt gegeben gilt. Nach § 122 Abs. 2 2. Halbsatz AO hat die Behörde jedoch im Zweifel den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Dies bedeutet, dass die gesetzliche Bekanntgabevermutung dann nicht eingreift mit der Folge, dass die Behörde das Risiko der Nichterweislichkeit des Zugangs trägt, wenn berechtigte Zweifel daran bestehen, dass im konkreten Fall die auf der Erfahrung des täglichen Lebens beruhende Vermutung, dass eine gewöhnliche Postsendung den Empfänger binnen weniger Tage erreicht, zutrifft.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28.11.1995 - 15 A 72/93 -, NWVBl. 1996, 233.

Solche Zweifel bestehen hier. Der Kläger hat den Zugang des Bescheides bestritten und lediglich den Erhalt der zweiten Ausfertigung im Jahre 1997 bestätigt. An die Substantiierung des Bestreitens durch den Kläger in einem solchen Fall sind, da nur eine negative Tatsache in Rede steht, keine weiteren Anforderungen zu stellen.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28.11.1995 - 15 A 72/93 -, NWVBl. 1996, 233; Urteil vom 7.3.1994 - 22 A 1063/91 -, KKZ 1995, 80 (81); anders für den Fall des bloßen Bestreitens der Rechtzeitigkeit des Zugangs, Urteil vom 28.3.1995 - 15 A 3217/94 -, NVWZ-RR 1995, 550.

Der Nachweis des Zugangs durch Aufgabe des Bescheides zur Post im Jahre 1994 konnte nicht geführt werden, sodass der Beklagte das Risiko der Nichterweislichkeit des Zugangs trägt. Aus der Zustellungsvermutung des § 122 Abs. 2 AO kann hier also nicht zu Gunsten des Beklagten auf die Tatsache der Bekanntgabe in nicht festsetzungsverjährter Zeit geschlossen werden.

Die Festsetzungsfrist ist auch nicht gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b KAG NRW i.V.m. § 169 Abs. 1 Satz 3 AO gewahrt. Danach ist die Frist gewahrt, wenn der Bescheid den Bereich der für die Beitragsfestsetzung zuständigen Behörde vor Ablauf der Festsetzungsfrist verlassen hat. Diese Voraussetzungen können ebenfalls nicht festgestellt werden. Der Begriff des "Bereichs der für die Beitragsfestsetzung zuständigen Behörde" erfasst den Bereich der Stadtverwaltung H., denn zuständige Behörde im oben genannten Sinne ist der Bürgermeister der Stadt H. Den Bereich der Stadtverwaltung hat der Bescheid frühestens verlassen, wenn er aus den Räumlichkeiten der Stadtverwaltung verbracht worden ist mit dem Ziel, die Bekanntgabe an den Adressaten zu bewirken. Ob das Merkmal des Verlassens des Bereichs der Stadtverwaltung sogar erst anzunehmen ist, wenn Bedienstete der Stadt den Besitz (§ 854 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB) am Bescheid durch Übergabe an den Beförderungsunternehmer verloren haben, lässt der Senat offen, denn schon die vorgelagerte Tatsache des Entfernens aus den Räumlichkeiten der Stadtverwaltung ist nicht feststellbar.

Insbesondere ermöglicht der Ab-Vermerk auf dem Original des angefochtenen Bescheides in den Akten eine solche Feststellung nicht, da er, wie die Postaufgabe beim Beklagten organisiert ist, alleine dokumentiert, dass der Sachbearbeiter den Bescheid gefertigt und zum Versand bereit gelegt hat. Danach verblieb der Bescheid jedoch in den Räumlichkeiten der Stadtverwaltung, er sollte vom Poststellenverantwortlichen zusammen mit den übrigen Sendungen der Stadtverwaltung eingesammelt, zur Poststelle verbracht und dort frankiert werden. Dann erst sollte die Sendung aus den Räumlichkeiten der Stadtverwaltung entfernt und dem Beförderungsunternehmer übergeben werden. Der Ab-Vermerk, wenn ihm trotz der fehlenden Paraphierung ein Beweiswert zukommt, beweist somit nur - unter der Voraussetzung, dass ein Abholen am selben Tag durch den Poststellenverantwortlichen gesichert war -, dass der Bescheid den Bereich des Rechtsamtes verlassen hat.

Der Beweis kann auch nicht geführt werden aus dem Umstand, dass nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge die eingesammelten Sendungen noch am selben Tage zur Post gebracht werden sollen. Insoweit wäre allenfalls ein Beweis des ersten Anscheins denkbar, der es im hier interessierenden Zusammenhang erlaubt, aus einem feststehenden typischen Sachverhalt, der nach der Lebenserfahrung bestimmte Folgen auslöst, auf diese Folgen zu schließen. Der Beweis ist dann erbracht, wenn der typische Sachverhalt zur Überzeugung des Gerichts feststeht, und er ist dann erschüttert, wenn im Einzelfall Umstände feststehen, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs im konkreten Fall ergibt.

Vgl. zum Anscheinsbeweis BVerwG, Beschluss vom 1.12.1995 - 8 B 150.95 -, NWVBl. 1996, 125 (126); zum umgekehrten Fall des Schließens von einer typischen Folge auf einen bestimmten Geschehensablauf vgl. OVG NRW, Urteil vom 14.1.2003 - 15 A 4115/01 -, S. 18 des amtl. Umdrucks.

Die Ablage eines Bescheids in das Postausgangsfach eines Fachamtes stellt keinen typischen Sachverhalt dar, aus dem auf die Folge geschlossen werden kann, der Bescheid habe den Bereich der Stadtverwaltung verlassen.

Vgl. BFH, Urteil vom 28.9.2000 - III R 43/97 -, NVWZ-RR 2002, 250 (251).

Der Bescheid kann auf dem Transport vom Fachamt zur Poststelle, aber auch auf der Poststelle selbst verloren gegangen sein. Zwischen der Ablage in das Postausgangsfach eines Amtes und dem Wegtransport aus den Räumlichkeiten der Stadtverwaltung durch Bedienstete der Poststelle liegen zu viele Arbeitsschritte, um hinreichend sicher aus dem Ab-Vermerk des Fachamtes darauf schließen zu können, dass das Schriftstück die Räumlichkeiten der Stadtverwaltung verlassen habe.

Ende der Entscheidung

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