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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 24.06.2008
Aktenzeichen: 15 A 285/06
Rechtsgebiete: AO


Vorschriften:

AO § 227
Zu den Maßstäben für den teilweisen Erlass eines Straßenbaubeitrags wegen sachlicher Unbilligkeit im Falle eines dreifach erschlossenen Grundstücks.
Tatbestand:

Die Klägerin ist Eigentümerin eines Buchgrundstücks, das mit einer mehreren Gebäuden aus unterschiedlichen Zeiten bebaut ist und auf dem früher eine Zigarrenfabrik betrieben wurde. Heute werden die Räumlichkeiten an eine Vielzahl von namentlich Freiberuflern und Gewerbetreibenden vermietet. Das Grundstück wird von drei Seiten durch Straßen begrenzt. Wegen des Ausbaus der im Westen angrenzenden Straße, der A.-Straße, erhob der beklagte Oberbürgermeister einen Straßenbaubeitrag, dem er die gesamte Fläche des Buchgrundstücks zugrunde legte. Die dagegen erhobene Anfechtungsklage blieb in beiden Instanzen erfolglos. Die im Laufe des Berufungsverfahrens erhobene hilfsweise Klage auf Verpflichtung zu einem Teilerlass aus Gründen sachlicher Unbilligkeit war teilweise erfolgreich.

Gründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das VG hat die zulässige Klage auf Aufhebung des Beitragsbescheides zu Recht abgewiesen. Er ist rechtmäßig (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Er rechtfertigt sich aus § 8 des KAG NRW in Verbindung mit der Satzung über die Erhebung von Beiträgen nach § 8 KAG für straßenbauliche Maßnahmen der Stadt (SBS). Nach § 1 SBS erhebt die Stadt zum Ersatz des Aufwandes für die Herstellung, Anschaffung, Erweiterung, Verbesserung und Erneuerung von Anlagen im Bereich der öffentlichen Straßen, Wege und Plätze (Anlagen) und als Gegenleistung für die dadurch den Eigentümern und Erbbauberechtigten der erschlossenen Grundstücke erwachsenden wirtschaftlichen Vorteile Beiträge.

Die Voraussetzungen lagen vor. Mit der in Rede stehenden Baumaßnahme wurde ein nach Ablauf der üblichen Nutzungszeit verschlissener Mischwasserkanal erneut hergestellt, sodass eine beitragsfähige Ausbaumaßnahme in Form nachmaliger Herstellung der Straßenentwässerung vorliegt. Der nach Abzug des Grundstücksentwässerungsanteils verbliebene umlagefähige Aufwand wurde nach § 3 Abs. 3 Nr. 5 zu 40 % auf die Beitragspflichtigen umgelegt. Zu Recht hat der Beklagte der Verteilung das gesamte klägerische Flurstück zu Grunde gelegt. Das gesamte Flurstück ist nämlich das beitragsrechtlich relevante Grundstück.

Ein der Beitragspflicht unterliegendes Grundstück im Sinne des § 8 Abs. 2 Satz 2 KAG NRW ist die wirtschaftliche Einheit, also jeder demselben Eigentümer gehörende Teil der Grundfläche, der selbständig baulich oder gewerblich genutzt werden kann. Ausgangspunkt ist aber das Buchgrundstück, denn in der Mehrzahl der Fälle sind Grundstücke im Sinne des bürgerlichen Rechts zugleich auch wirtschaftliche Einheiten. Davon ausgehend ist festzustellen, ob das Buchgrundstück zur Bildung einer wirtschaftlichen Einheit um Flächen vergrößert oder verkleinert werden muss. Die Beantwortung der Frage, ob es sich bei einem Flurstück um eine wirtschaftliche Einheit oder mehrere handelt, beurteilt sich nicht nach der tatsächlichen, sondern der zulässigen Nutzung des Grundstücks. Sie hängt von den tatsächlichen Umständen wie Lage, Zuschnitt und Größe des Grundstücks und von rechtlichen Gesichtspunkten, nämlich der Zuordnung des Grundstücks zu einem bestimmten Baugebiet und den hierfür festgesetzten Bezugsgrößen für Maß und Art der baulichen Nutzung ab.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19.2.2008 - 15 A 2568/05 -.

Das hier in Rede stehende Flurstück ist zwar mit fast 3.000 m2 so groß, dass eine Aufteilung in wirtschaftliche Einheiten in Betracht kommt. Die konkrete Bebauung schließt dies aber aus: Die einzelnen Gebäude hängen - wie die Augenscheinseinnahme ergeben hat - baulich zusammen. Eine den Baugenehmigungen zu entnehmende Zuordnung bestimmter abgegrenzter Grundstücksteile zu bestimmten selbständigen Bauvorhaben kann nicht festgestellt werden.

Vgl. zu diesem einer Aufteilung in wirtschaftliche Einheiten entgegenstehenden Gesichtspunkt OVG NRW, Urteil vom 19.2.2008 - 15 A 2568/05 -.

Im Gegenteil ergibt sich aus der Stellplatzberechnung, die Bestandteil der Baugenehmigung vom 16.12.1986 ist, dass für die Nutzung des gesamten Flurstücks Stellplätze berechnet und solche auf diesem Flurstück in drei Teilbereichen nachgewiesen wurden. Das belegt, dass das gesamte Flurstück eine wirtschaftliche Einheit ist.

Vgl. dazu, dass baulastgesicherte Stellplätze auf einem Nachbargrundstück das Erfordernis eines Mindestmaßes rechtlicher Zusammengehörigkeit zweier Buchgrundstücke zur Bildung einer wirtschaftlichen Einheit begründen können, OVG NRW, Beschluss vom 20.10.2006 - 15 A 4280/04 -.

Die hilfsweise im Berufungsrechtszug erhobene Klage ist zulässig und zum Teil begründet. Es handelt sich dabei um eine nach § 91 Abs. 1 VwGO zulässige Klageänderung, da der Beklagte darin eingewilligt hat. Sie ist auch teilweise begründet. Zwar hat die Klägerin keinen Anspruch auf den begehrten Teilerlass um 2/3 des festgesetzten Beitrags, aber die Ablehnung jeglichen Erlasses ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Mangels Spruchreife hat der Beklagte die Klägerin insoweit unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Nach § 12 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. a KAG NRW i. V. m. § 227 AO können die Gemeinden Ansprüche aus dem Beitragsverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des Falles unbillig wäre. Eine zum Erlass verpflichtende sachliche Unbilligkeit im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, wenn im Einzelfall die Erhebung der Abgabe in dieser Höhe mit dem Sinn und Zweck des Abgabengesetzes nicht vereinbar ist, wenn also mit anderen Worten ein Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzgebers feststellbar ist und der gegebene Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Abgabenerhebung aber dennoch den Wertungen des Gesetzes zuwiderläuft.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15.9.2006 - 15 A 3118/06 -, Urteile vom 4.12.2001 - 15 A 5566/99 -, NWVBl. 2002, 188 (190) und vom 30.10.2001 - 15 A 5184/99 -, NWVBl. 2002, 275 (277).

Bei einer Dreifacherschließung kann nach Lage des Falles eine solche sachliche Unbilligkeit der Beitragserhebung vorliegen und deshalb ein Anspruch auf Teilerlass bestehen.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19.2.2008 - 15 A 2568/05 -, Beschlüsse vom 14.8.2000 - 15 A 3873/00 - und vom 22.3.1996 - 15 B 3424/95 -, Urteil vom 17.4.1978 - II A 2014/75 -, OVGE 33, 223 (225 ff.); ebenso für das bayerische Recht Bay. VGH, Urteil vom 11.4.2001 - 6 B 96.522 -, juris Rn. 25.

Das ist hier der Fall. Die Erhebung eines vollen Beitrags für das klägerische Grundstück zum Ersatz des Aufwands für die Ausbaumaßnahme an der A.-Straße ist unbillig, weil sie nicht den Wertungen des § 8 Abs. 6 Satz 1 KAG NRW entspricht, wonach die Beiträge nach den Vorteilen zu bemessen sind. Die volle Veranlagung ist so wenig vorteilsgerecht, dass sie unbillig ist.

Der wirtschaftliche Vorteil liegt bei einem Straßenausbau darin, dass der den Anliegern durch den Ausbau gewährte Gebrauchsvorteil hinsichtlich der Straße den Gebrauchswert der Grundstücke erhöht.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7.12.2007 - 15 B 1837/07 -, Urteil vom 23.9.2003 - 15 A 4700/01 -, NWVBl. 2004, 106 (107).

Allerdings muss, wie sich auch § 8 Abs. 6 Satz 2 KAG NRW ergibt, die Entsprechung von Beitrag und Vorteil nur "annähernd" gleich sein. Dies führt dazu, dass Grundstücke, die von zwei Anlagen erschlossen werden, etwa Eckgrundstücke, mit einfach erschlossenen Grundstücken gleich behandelt werden dürfen. Der Ausbau jeder der beiden Straßen gewährt regelmäßig einen vollen wirtschaftlichen Vorteil, weil der Gebrauchswert durch die umfassendere Erschließung von zwei Seiten entsprechend stärker gesteigert wird.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 15.11.2005 - 15 A 95/05 - und vom 30.6.2004 - 15 B 577/04 -, NVwZ-RR 2005, 451.

Selbst der Ausbau dreier erschließender Straßen vermag jeweils noch einen solchen wirtschaftlichen Vorteil zu gewähren, wenn das Grundstück in seiner Gesamtheit eine entsprechende Gebrauchswerterhöhung erfährt, wie es etwa bei einer einheitlichen gewerblichen Nutzung des Gesamtgrundstücks oder einer auf die Mehrfacherschließung ausgerichteten architektonischen Gestaltung der Bebauung der Fall sein kann.

So liegt der Fall hier jedoch nicht. Das Grundstück ist mit einem Konglomerat unterschiedlicher Gebäude mit unterschiedlicher Nutzung bebaut, die nur lose zusammenhängen. Dass sie alle auf einem einzigen Flurstück angeordnet sind, beruht auf der früheren einheitlichen Nutzung des Gesamtgeländes zu Zwecken der Zigarrenproduktion. Faktisch erstreckt sich die Erhöhung des Gebrauchswerts des Grundstücks durch den Ausbau der A.-Straße nicht bis zur Fläche mit der Bebauung am östlichen Teil der anderen beiden Straßen. Wenn auch ein Durchgang von der A.-Straße bis zu jedem Teil des Grundstücks möglich ist, ist der reale Wert der Erschließung durch die A.-Straße doch auf die Grundstücksfläche mit der zu dieser Straße hin ausgerichteten Bebauung beschränkt. Für die Nutzung der übrigen Grundstücksteile ist die Erschließung durch diese Straße ohne Bedeutung. Daher wird durch den Ausbau einer der drei erschließenden Straßen jeweils der Gebrauchswert des Gesamtflurstückes nicht annähernd gleich erhöht wie bei einer einfachen Erschließung, so dass eine volle Erhebung des Beitrags nicht vorteilsgerecht ist. Dabei kommt es entgegen der Auffassung des Beklagten nicht darauf an, ob es sich bei der hier in Rede stehenden Veranlagung um den ersten, zweiten oder dritten Straßenausbau handelt. Maßgebend ist vielmehr, dass kein Straßenausbau den Gebrauchswert des Gesamtgrundstücks in vollem Maße erhöht. Daher ist für jeden Ausbau ein Billigkeitserlass zu gewähren.

Allerdings hat die Klägerin keinen Anspruch auf Erlass von zwei Dritteln des festgesetzten Betrages. Dafür spielt die Länge der Straße von vorneherein keine Rolle, da es um die Gebrauchswerterhöhung des Grundstücks durch den Ausbau geht, die von der Straßenlänge unabhängig ist. Auch führt der Umstand, dass eine Dreifacherschließung vorliegt, nicht dazu, dass nur ein Drittel des satzungsgemäß für jeden Ausbau einer Straße anfallenden Beitrages billigerweise erhoben werden darf, denn jedenfalls eine Doppelerschließung vermittelt - wie oben ausgeführt - grundsätzlich ebenso wie eine Einfacherschließung einen wirtschaftlichen Vorteil. Bei der gegebenen Sachlage wäre daher, wenn bloß eine Erschließung von zwei Seiten in Rede stünde, die jeweils volle Beitragserhebung gerechtfertigt. Daher besteht, wenn der Ausbau aller drei Straßen gleich behandelt werden soll, lediglich ein Anspruch auf Reduzierung um ein Drittel.

Allerdings ist die Sache noch nicht spruchreif im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Bei dem Erlass handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, bei der Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens durch den Rechtsbegriff der Unbilligkeit bestimmt werden.

Vgl. Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 13.2.1970 - GmS-OGB 3/70 -, BVerwGE 39, 355; ebenso für den Begriff der unbilligen Härte im Studiengebührenrecht OVG NRW, Urteil vom 6.2.2007 - 15 A 5228/04 -, NWVBl. 2007, 352 (353).

Der Beklagte ist nicht gehindert, seinen Ermessensspielraum etwa auch dahin auszuüben, die Gesamtfläche des Flurstücks für die Berechnung des zu gewährenden Billigkeitserlasses jeweils einzelnen Straßen unter dem Gesichtspunkt zuzuordnen, welche Teilflächen vom Ausbau welcher Straße im Wesentlichen gebrauchswerterhöhend bevorteilt sind. Daher kann nur eine Verurteilung des Beklagten zur Neubescheidung ergehen.

Ende der Entscheidung

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