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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 26.02.2009
Aktenzeichen: 16 B 1462/08
Rechtsgebiete: StVG


Vorschriften:

StVG § 4 Abs. 2 Satz 3
StVG § 4 Abs. 2 Satz 4
StVG § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2
StVG § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3
StVG § 4 Abs. 7 Satz 1
VwVfG NRW § 47
Die Fahrerlaubnis ist im Rahmen des Punktsystems auch dann nicht nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 (i. V. m. § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 FeV), sondern nach § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG zu entziehen, wenn der Punktestand des Betroffenen nach der Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar auf 18 oder mehr steigt.

Zum bestandskraftfähigen Inhalt einer Ordnungsverfügung, mit der im Rahmen des Punktsystems die Fahrerlaubnis entzogen wird, gehört auch die Angabe der Rechtsgrundlage für die Entziehung.


Tatbestand:

Dem Antragsteller war zunächst die Fahrerlaubnis nach dem Punktsystem entzogen worden, weil er das ihm nach Erreichen von 14 Punkten und mehr auferlegte Aufbauseminar nicht innerhalb der gesetzten Frist absolviert hatte. Er holte daraufhin das Aufbauseminar nach und erwarb hierdurch die Fahrerlaubnis zurück. Nachdem weitere Verstöße zum Überschreiten der 18-Punkte-Marke geführt hatten, entzog ihm der Antragsgegner erneut die Fahrerlaubnis. Der Antragsteller hat gegen die (zweite) Entziehung der Fahrerlaubnis Klage erhoben und zugleich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage beantragt; zur Begründung trug er vor, nach der ersten Entziehung der Fahrerlaubnis habe sein Punktestand "auf Null" reduziert werden müssen. Der Eilantrag war in erster Instanz erfolgreich, in zweiter Instanz führte die Beschwerde des Antragsgegners zur Ablehnung des Antrags.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners hat Erfolg. Dem Begehren des Antragstellers auf Anordnung der kraft Gesetzes (§ 4 Abs. 7 Satz 2 StVG) ausgeschlossenen aufschiebenden Wirkung seiner Klage war nicht zu entsprechen, weil die angefochtene Ordnungsverfügung des Antragsgegners, mit welcher dem Antragsteller die Fahrerlaubnis entzogen worden ist, offensichtlich rechtmäßig ist.

Der Antragsgegner ist beim Erlass der Ordnungsverfügung vom 10.6.2008 insbesondere zu Recht davon ausgegangen, dass sich für den Antragsteller bis zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Ordnungsverfügung mindestens 18 Punkte ergeben haben und er daher gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen galt. Der Antragsteller konnte nicht gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG beanspruchen, dass als Folge der vorangegangenen Entziehung der Fahrerlaubnis durch die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 21.11.2006 die bis zur Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar verwirkten 17 Punkte gelöscht werden. Denn die vormalige Entziehung der Fahrerlaubnis beruhte auf § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG; im Anschluss an eine solche Fahrerlaubnisentziehung findet eine Löschung der bis dahin erreichten Punkte nicht statt (§ 4 Abs. 2 Satz 4 StVG).

Dem VG kann nicht in seiner Auffassung beigetreten werden, im November 2006 hätten auch die Voraussetzungen für eine Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG (i. V. m. den §§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und 46 Abs. 1 FeV) vorgelegen und eine hierauf gestützte Fahrerlaubnisentziehung sei unter Anlegung eines objektiven Maßstabes gegenüber der Fahrerlaubnisentziehung auf der Grundlage des § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG vorrangig gewesen. Die Ordnungsverfügung vom 21.11.2006, mit der der Antragsgegner dem Antragsteller die Fahrerlaubnis auf der Grundlage von § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG entzogen hat, kann weder so ausgelegt noch dahin umgedeutet werden, dass die Entziehung statt dessen auf der Grundlage von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG erfolgt ist.

Die nach der Rücknahme des Widerspruchs bestandskräftig gewordene Ordnungsverfügung vom 21.11.2006 ist keiner anderen Auslegung zugänglich, als dass der Antragsgegner damit die Fahrerlaubnis auf der Grundlage von § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG entzogen hat. Allerdings bedarf es der Auslegung, weil sich der Tenor der Ordnungsverfügung allein auf die Entziehung der Fahrerlaubnis richtet und die Entziehung im Rahmen des Punktsystems auf verschiedenen Rechtsgrundlagen - § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG (i. V. m. § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 FeV) oder § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG - beruhen kann. Die Klärung, auf welcher rechtlichen und damit auch tatsächlichen Grundlage die Fahrerlaubnisentziehung beruht, kann nicht dahinstehen, weil sich die weiteren Rechtsfolgen der beiden Entziehungstatbestände erheblich voneinander unterscheiden. Ein Unterschied besteht nicht nur im Hinblick auf die vorliegend strittige Löschung der bis dahin erreichten Punkte (vgl. einerseits § 4 Abs. 2 Satz 3, andererseits § 4 Abs. 2 Satz 4 StVG), sondern auch im Hinblick auf die Voraussetzungen, unter denen nachfolgend eine neue Fahrerlaubnis erworben werden kann. Im Falle einer Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt insoweit § 4 Abs. 10 StVG. Nach Satz 1 dieser Bestimmung darf eine neue Fahrerlaubnis frühestens sechs Monate nach der Wirksamkeit der Fahrerlaubnisentziehung erteilt werden; Satz 3 sieht vor, dass in der Regel durch die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens der Nachweis der wiedererlangten Fahreignung erbracht werden muss. Nach einer auf § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG gestützten Fahrerlaubnisentziehung genügt es demgegenüber, wenn der Betroffene die zuvor von ihm versäumte Teilnahme an einem Aufbauseminar nachgeholt hat (§ 4 Abs. 11 Satz 1 StVG); es bedarf weder des Ablaufs einer Sperrfrist noch der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (§ 4 Abs. 11 Satz 3 StVG). In einem solchen Fall ist es geboten, zur Auslegung der getroffenen Regelung auf die Begründung des Verwaltungsakts zurückzugreifen.

Vgl. U. Stelkens, in: P. Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 7. Aufl., § 35 Rn. 142; Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 10. Aufl., § 43 Rn. 15.

Danach hat der Antragsgegner die Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG entzogen. Eine andere Auslegung ist nicht dadurch eröffnet, dass der Antragsgegner dem Antragsteller wegen zwischenzeitlich begangener bzw. bekannt gewordener weiterer Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr vor der Wiedererteilung der nach § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG entzogenen Fahrerlaubnis über die Nachholung des Aufbauseminars hinaus auch eine medizinisch-psychologische Begutachtung abverlangt hat. Dies wäre in der Tat nur dann möglich bzw. geboten gewesen, wenn die Fahrerlaubnisentziehung vom 21.11.2006 auf § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützt gewesen wäre. Die Ordnungsverfügung vom 21.11.2006 war aber mit der Rücknahme des Widerspruchs durch den Antragsteller bestandskräftig geworden, sodass es eines erneuten Verwaltungsakts bedurft hätte, um die auf die andere Rechtsgrundlage gestützte Entziehung zu regeln. Eine solche die bisherige Regelung ersetzende Verfügung hat der Antragsgegner nicht dadurch getroffen, dass er für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis über die Teilnahme am Aufbauseminar hinaus eine medizinisch-psychologische Untersuchung verlangt hat.

Ebensowenig kommt es in Betracht, die Ordnungsverfügung vom 21.11.2006 in eine Fahrerlaubnisentziehung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG umzudeuten. Nach § 47 VwVfG NRW kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Weder war die auf § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG gestützte Fahrerlaubnisentziehung vom 21.11.2006 fehlerhaft noch wäre der Antragsgegner berechtigt gewesen, die Begehung eines weiteren Verkehrsverstoßes durch den Antragsteller nach der Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar zum Anlass zu nehmen, seine Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG zu entziehen, also eine Maßnahme auf der letzten Stufe des Sanktionssystems des § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG zu ergreifen.

Anderer Ansicht Bay.VGH, Beschluss vom 14.12.2005 - 11 CS 05.1677 -, DAR 2006, 169 = VRS 110 (2006), 71.

Das in § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG vorgeschriebene abgestufte Vorgehen der Fahrerlaubnisbehörde hat zur Konsequenz, dass erst nach dem Abschluss einer der dort vorgesehenen Maßnahmen zu der jeweils nachfolgenden Sanktionsstufe übergegangen werden darf. Nur die strikte Trennung der einzelnen Sanktionsstufen stellt sicher, dass das vom Gesetzgeber mit der Einführung des Punktsystems verfolgte Ziel erreicht wird, die Schaffung eines zwingenden Entziehungstatbestandes beim Erreichen einer hohen Punktezahl mit einem System vorgeschalteter Warnhinweise und Hilfestellungen zu kombinieren. Allein die Summierung von Verkehrsverstößen innerhalb eines überschaubaren Zeitraums soll - abgesehen von besonders gelagerten Fällen (§ 4 Abs. 1 Satz 2 StVG) - nicht zum Verlust der Fahreignung führen; hinzutreten muss vielmehr, dass sich der Betroffene auch angesichts der ihm gegebenen Warnungen und Hilfestellungen als unbelehrbar erweist. Daher richtet sich die Auswahl der nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG vorgesehenen Sanktionen nicht nur nach dem zu einem gegebenen Zeitpunkt erreichten "Roh-"Punktestand. Vielmehr sieht § 4 Abs. 5 StVG die Reduktion des Punktestandes vor, wenn der Betroffene 14 bzw. 18 Punkte oder mehr erreicht hat, ohne dass die bereits bei einem geringeren Punktestand fälligen Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 StVG ergriffen worden wären. Zu den schon auf der zweiten Sanktionsstufe zu ergreifenden Maßnahmen gehört über die Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar sowie die Erteilung der in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG genannten zusätzlichen oder alternativen Hinweise hinaus auch die Entziehung der Fahrerlaubnis, wenn der Fahrerlaubnisinhaber der Anordnung zur Teilnahme an einem Aufbauseminar nicht nachgekommen ist (§ 4 Abs. 7 Satz 1 StVG). Diese Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG stellt ausschließlich eine Reaktion darauf dar, dass der Betroffene auf der zweiten Sanktionsstufe (zunächst) nicht in der geforderten Weise mitgewirkt hat. Sie hat insoweit Strafcharakter, dient aber auch und vor allem dem Zweck, den Betroffenen zur Nachholung des Versäumten zu veranlassen. In Konsequenz daraus ist ihm ohne Einhaltung einer Sperrfrist und ohne aktuellen positiven Nachweis der Fahreignung die Fahrerlaubnis wiederzuerteilen, sobald er die zunächst verabsäumte Teilnahme an einem Aufbauseminar nachgeholt hat (§ 4 Abs. 11 StVG). Daraus folgt für den vorliegenden Fall, dass die nach der Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar, aber noch vor dem Erlass der Ordnungsverfügung vom 21.11.2006 begangene bzw. rechtskräftig geahndete Ordnungswidrigkeit des Antragstellers - verbotswidrige Benutzung eines Mobiltelefons am Steuer am 29.8.2006 - gemäß § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG nicht zur weiteren Erhöhung des Punktestandes führte und daher auch nicht zum (vorzeitigen) Betreten der dritten Sanktionsstufe des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG berechtigte. Der Antragsgegner durfte und musste weiterhin nur auf der noch nicht abgeschlossenen zweiten Sanktionsstufe des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 handeln und wie geschehen eine Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG - mit den weiteren Rechtsfolgen nach § 4 Abs. 2 Satz 4 und Abs. 11 StVG - aussprechen.

Ende der Entscheidung

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