Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 17.01.2007
Aktenzeichen: 18 A 1465/05
Rechtsgebiete: AuslG, AufenthG, EMRK


Vorschriften:

AuslG § 47 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG § 53 Nr. 1
EMRK Art. 8 Abs. 2
1. Stellt ein Ausweisungstatbestand auf rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen ab, so ist bei der Anwendung keine Prüfung erforderlich, ob der Betroffene tatsächlich eine Straftat begangen hat.

2. Ist aufgrund gesetzlicher Vorschriften jedoch eine ausländerrechtliche Beurteilung erforderlich - beispielsweise ob schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen -, darf die Ausländerbehörde die tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichts, an die sie nicht gebunden ist, ihrer Entscheidung in der Regel zugrunde legen. (Im Anschluss an Senatsbeschluss vom 25.4.1995 - 18 B 3183/93 -, NWVBl. 1995, 438 = NVwZ-RR 1996, 173 = EZAR 030 Nr. 2, 2.5.11 a.F.)


Tatbestand:

Der Kläger, ein serbischer Staatsangehöriger, wurde wegen einer Vielzahl von Straftaten zu Jugend- bzw. Freiheitsstrafen verurteilt, unter anderem wegen gemeinschaftlichen Raubes, Diebstahls, Unterschlagung, Betrugs und Urkundenfälschung zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Daraufhin wies der Beklagte ihn durch Ordnungsverfügung vom 16.4.2002 aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus. Der nach erfolglosem Widerspruch- und Klageverfahren gestellte Antrag auf Zulassung der Berufung wurde vom OVG abgelehnt.

Gründe:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt, weil die von dem Kläger in seiner Antragsbegründung dargelegten Gründe nicht auf die allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO führen.

Die Ansicht des Klägers, das VG sei zu Unrecht vom Vorliegen der Voraussetzungen einer Ist-Ausweisung nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG (jetzt: § 53 Nr. 1 AufenthG) ausgegangen, weil der strafgerichtlichen Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten Fehler bei der Tatsachenfeststellung zugrunde gelegen hätten, die sich strafverschärfend ausgewirkt hätten, greift nicht durch. Stellt ein Ausweisungstatbestand - wie hier § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG oder nunmehr § 53 Nr. 1 AufenthG - auf rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen ab, so ist allein das Vorliegen der Verurteilung durch das Strafgericht maßgebend und bei der Anwendung keine Prüfung erforderlich, ob der Betroffene tatsächlich eine Straftat begangen hat.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 24.2.1998 - 1 B 21.98 -, InfAuslR 1998, 221; OVG NRW, Beschluss vom 14.2.2002 - 18 B 1806/00 -, Urteil vom 10.12.1997 - 17 A 5677/95 -.

Klarstellend wird dazu folgendes angemerkt:

Ist aufgrund gesetzlicher Vorschriften jedoch - anders als hier - eine ausländerrechtliche Beurteilung erforderlich, etwa ob schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen, ob eine Ausnahme von der Regelausweisung gegeben oder wie eine Ermessensentscheidung zu treffen ist, so ist die Ausländerbehörde zwar an die tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichts rechtlich nicht gebunden. Sie darf diese Feststellungen aber in der Regel ihrer Entscheidung zugrunde legen, wenn sich eine weitere Aufklärung nicht aufdrängt, was namentlich dann der Fall ist, wenn nichts dafür ersichtlich ist, dass sie den Vorfall besser aufklären kann als die Strafverfolgungsorgane.

Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8.5.1989 - 1 B 77.89 -, InfAuslR 1989, 269, vom 24.2.1998 - 1 B 21.98 -, InfAuslR 1998, 221, und vom 8.4.2004 - 1 B 201.03 -; vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 25.4.1995 - 18 B 3183/93 -, NWVBl. 1995, 438 = NVwZ-RR 1996, 173 = EZAR 030 Nr. 2.

...

Entgegen der Ansicht des Klägers verstößt seine Ausweisung auch nicht gegen Art. 8 EMRK. Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das hier anzuwendende Ausländergesetz ein differenziertes Regelwerk enthält, das grundsätzlich dem Maßstab des Art. 8 EMRK entspricht, vgl. BVerwG, Urteil vom 17.6.1998 - 1 C 27.96 -, InfAuslR 1998, 424 (429); OVG NRW, Beschlüsse vom 2.12.2003 - 18 A 3688/03 - und vom 5.10.2005 - 18 B 745/05 -, m.w.N., wobei die zu dieser Norm ergangene Rechtsprechung des EGMR nach Maßgabe der Grundrechte des Grundgesetzes als Auslegungshilfe heranzuziehen ist.

Vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 1.3.2004 - 2 BvR 1570/03 -, InfAuslR 2004, 280.

Dem in Art. 8 Abs. 2 EMRK verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird durch die Regelungen des Ausländergesetzes und jetzt des Aufenthaltsgesetzes mit den Abstufungen von zwingender Ausweisung, Regel- und Ermessensausweisung sowie den Bestimmungen über den besonderen Ausweisungsschutz grundsätzlich hinreichend Rechnung getragen.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5.10.2005 - 18 B 745/05 - m.w.N.

Dies gilt auch mit Blick darauf, dass der Kläger, der angesichts der Vielzahl seiner bereits im jugendlichen Alter begangenen Straftaten zu keinem Zeitpunkt eine Aufenthaltsgenehmigung bzw. einen Aufenthaltstitel erhalten hat, in der Bundesrepublik Deutschland geboren wurde und hier aufgewachsen ist. Das BVerfG - vgl. Beschluss vom 1.3.2004 - 2 BvR 1570/03 -, EuGRZ 2004, 317 = DVBl. 2004, 1097 = InfAuslR 2004, 280 = NVwZ 2004, 852 - hat unter eingehender Würdigung der zugunsten der Betroffenen ergangenen Entscheidung des EGMR vom 18.2.1991 - 31/1989/191/291 -, EuGRZ 1993, 552 (Moustaquim, Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten wegen Raubes und Diebstahlsdelikten) und vom 26.9.1997 - 85/1996/704/896 -, InfAuslR 1997, 430 (Mehemi, einheimische Ehefrau und drei minderjährige Kinder) sowie einer Vielzahl zu Lasten der Betroffenen ergangener einschlägiger Entscheidungen festgestellt, der von Kasuistik geprägten Rechtsprechung des EGMR sei nicht zu entnehmen, dass eine Ausweisung von straffällig gewordenen Ausländern der zweiten Generation, die bereits als Kinder in den Vertragsstaat eingereist oder dort geboren und aufgewachsen sind, regelmäßig gegen Art. 8 EMRK verstößt. Wesentliche Umstände für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit seien vielmehr die Schwere der begangenen Straftaten und eine besondere familiäre Situation, aber auch der Bezug des Ausländers zu dem Staat seiner Staatsangehörigkeit.

Da der 1981 in Deutschland geborene und hier aufgewachsene unverheiratete und kinderlose Kläger seit 1996 über viele Jahre hinweg eine Fülle unterschiedlicher, in drei Fällen bereits mit Jugendstrafen geahndeter Straftaten begangen hatte, bevor er am 10.3.1999 wegen gemeinschaftlichen Raubes, Diebstahls in zwei Fällen, Unterschlagung, Betrugs und Urkundenfälschung - also wegen sehr schwerwiegender Straffälligkeit - zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde, kann er aus der Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG zur Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK nichts zu seinen Gunsten herleiten. Dies gilt entgegen seiner Ansicht auch mit Blick darauf, dass das Schwergewicht der von ihm begangenen Straftaten vor Eintritt seiner Volljährigkeit lag. Dies steht jedoch nach der Rechtsprechung des EGMR - IV. Sektion, Entscheidung vom 4.10.2001 über die Zulässigkeit der Beschwerde Nr. 43359/98 (Adam), NJW 2003, 2595 - bei entsprechender Schwere fortlaufend begangener Straftaten - wie hier - einer Ausweisung jedenfalls dann nicht entgegen, wenn - wie hier - keine besonderen familiären Bindungen in seinem Aufnahmeland bestehen. Nach den Angaben der Bewährungshelferin hat der Kläger sich von seiner Mutter und Schwester stark distanziert, und er verfügt nur über oberflächliche soziale Kontakte und hat nach seiner Entlassung aus der Strafhaft auch keine stabilisierenden Pläne für seine Zukunft entwickelt. Angesichts dessen, dass er nach eigenen Angaben serbokroatischen Sprachunterricht genommen hat und mit der Sprache gut zurecht kommt und dass seine Mutter - die ihn nach den Feststellungen des VG sogar möglicherweise nach Serbien begleiten würde - dort einen zweiten Wohnsitz hat, erscheint seine Ausweisung im Hinblick auf die Anzahl und das Gewicht der Straftaten des Klägers nicht als unverhältnismäßig, wobei es unerheblich ist, welchen Unrechtsgehalt die letzten - noch nach Erlass der Ausweisungsverfügung von dem Kläger begangenen - Straftaten im Verhältnis zu seinen früheren Taten hatten.

Ende der Entscheidung

Zurück