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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 22.01.2007
Aktenzeichen: 18 E 274/06
Rechtsgebiete: AufenthG


Vorschriften:

AufenthG § 25 Abs. 3
AufenthG § 60 Abs. 7 Satz 1
1. Eine durch die Ausländerbehörde zugesicherte Finanzierung erforderlicher Medikamente für einen Übergangszeitraum nach der Rückkehr ins Heimatland lässt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur entfallen, wenn mit hinreichender Sicherheit erwartet werden kann, dass danach die erforderliche weitere Behandlung im Zielstaat dem Ausländer zur Verfügung steht.

2. Die Ausschlussregelung des § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG wegen Verstoßes gegen Mitwirkungspflichten erfasst nur den Fall der Ausreise in einen Drittstaat.


Tatbestand:

Die aus der Türkei stammende Familie der Kläger reiste 1989 als angeblich staatenlose kurdische Volkszugehörige aus dem Libanon nach Deutschland ein. Nach erfolglosem Asylverfahren, an dem der 1990 geborene und von Geburt an schwer erkrankte Kläger zu 4. nicht teilnahm, erhielten alle Kläger Aufenthaltsbefugnisse, die zuletzt wegen der inzwischen bekannt gewordenen Identitätstäuschung der Kläger nicht mehr verlängert wurden. Im Zusammenhang mit einer Klage gegen die Ablehnung ihrer Anträge auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnisse aus humanitären Gründen beantragten die Kläger Prozesskostenhilfe, die vom VG mangels hinreichender Erfolgsaussichten abgelehnt wurde. Mit ihrer Beschwerde machten die Kläger geltend, dass die für den Kläger zu 4. erforderlichen Medikamente im Wert von monatlich 4.570 € ihnen jedenfalls aus finanziellen Gründen nicht zugänglich seien, jener deshalb einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG habe und davon ableitend auch den übrigen Klägern eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen sei. Der Beklagte bot an, für einen (nicht näher bezeichneten) Übergangszeitraum den nach seiner Ansicht erforderlichen Betrag von rund 672 € für das auch nach seiner Auffassung unverzichtbare Medikament Cystagon monatlich zur Verfügung stellen zu wollen, und war der Ansicht, dass der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger zu 4. wegen der Identitätstäuschung und wegen Passlosigkeit § 23 Abs. 3 S. 2 AufenthG entgegen stehe. Die Beschwerde hatte Erfolg.

Gründe:

Die Kläger haben einen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Klageverfahren. Sie können nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht - auch nicht zum Teil oder in Raten - aufbringen (§ 166 VwGO iVm § 114 ZPO).

Die Klage hat auch hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne des § 114 ZPO bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG orientierten Auslegung des Begriffs einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht erst und nur dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits auch, dass Prozesskostenhilfe versagt werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist. Die Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsschutzbegehrens darf dabei nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den grundrechtlich garantierten Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen. Schwierige, bislang nicht ausreichend geklärte Rechts- und Tatsachenfragen dürfen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren geklärt werden.

Vgl. hierzu BVerfG, Beschlüsse vom 10.8.2001 - 2 BvR 569/01 -, DVBl. 2001, 1748, vom 6.10. 2004 - 1 BvR 414/04 -, NJW 2005, 1567 und vom 13.7.2005 - 1 BvR 175/05 -, NJW 2005, 3489; zuletzt OVG NRW, Beschluss vom 14.6.2006 18 E 36/06 -.

Hiervon ausgehend sind hinreichende Erfolgsaussichten zu bejahen. Gegenwärtig lässt sich nicht abschließend beurteilen, ob den Klägern die geltend gemachten Ansprüche zustehen. Maßgeblich ist insoweit zunächst einmal, ob der jetzt 16 Jahre alte Kläger zu 4., von dem die übrigen Kläger ihre Ansprüche ableiten, aufgrund seiner Erkrankung einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit dem hier nur in Betracht kommenden § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat. In diesem Zusammenhang stellt sich insbesondere die schwierig zu beantwortende Tatsachenfrage, ob dem Kläger zu 4. bei einer Ausreise in die Türkei die notwendige Medikation (finanziell) zugänglich ist.

Die Beteiligten stimmen darin überein, dass der Kläger zu 4. ununterbrochen der Einnahme von Medikamenten bedarf und er nach Ankunft in der Türkei, dem Zielstaat der beabsichtigten Abschiebung, jedenfalls ohne die Einnahme des Medikamentes Cystagon oder eines vergleichbaren Medikamentes einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt wäre.

Insoweit ist zwar nach den im Widerspruchsbescheid ausführlich wiedergegebenen und unter Beteiligung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gewonnenen Erkenntnissen die schwere Erkrankung des Klägers zu 4. in der Türkei grundsätzlich behandelbar. Allerdings lässt sich nach dem gegenwärtigen Sachstand nicht die Frage beantworten, ob dem Kläger zu 4. alle erforderlichen Medikamente finanziell zugänglich sind. Sollte das nicht der Fall sein, wäre eine krankheitsbedingte zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu bejahen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 66 = AuAS 2003, 106.

Eine derartige Gefahr ist nicht schon deshalb zu verneinen, weil der Beklagte dem Kläger zu 4. für einen Übergangszeitraum eine Finanzierung der erforderlichen Medikamente angeboten hat. Maßgeblich ist insoweit, ob infolge einer solchen Hilfsmaßnahme mit hinreichender Sicherheit erwartet werden kann, dass danach die erforderliche weitere Behandlung im Zielstaat dem Ausländer zur Verfügung steht. Ob eine solche Prognose getroffen werden kann, hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab und lässt sich deshalb nicht allgemein beantworten.

Vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 23.2.2006 - 7 UZ 269/06.A -, NVwZ 2006, 1203.

Danach kann vorliegend nicht davon ausgegangen werden, dass die erforderliche medikamentöse Versorgung des Klägers zu 4. in der Türkei gesichert ist. In diesem Zusammenhang ist zunächst schon unklar, ob der Kläger zu 4. neben Cystagon ebenso dringend der anderen in der von ihm vorgelegten ärztlichen Bescheinigung aufgeführten Medikamente weiterhin bedarf, wovon es abhängt, ob die Kosten für die Medikamente - was im Widerspruchsbescheid zugrunde gelegt wird - monatlich ungefähr 672 € oder - wie in der ärztlichen Bescheinigung ausgeführt - 4.570 € betragen. Hierzu ist weiter aufzuklären, welche Auswirkungen es für den Kläger zu 4. hätte, wenn mit Ausnahme des unstreitig unverzichtbaren Medikamentes Cystagon bzw. eines vergleichbaren Medikamentes die übrigen Medikamente entweder abgesetzt oder gegebenenfalls durch in der Türkei erhältliche preiswertere Medikamente ersetzt würden. Zudem fehlt es an genaueren Erkenntnissen dazu, inwieweit die Familie des Klägers zu 4. bei einer Rückkehr in die Türkei in der Lage sein wird, durch eigene Erwerbstätigkeit oder mit Hilfe ihrer Verwandten die Kosten für die Medikamente aufzubringen. Selbst unter Berücksichtigung dessen, dass die Kläger für die anspruchsbegründenden Voraussetzungen darlegungs- und beweispflichtig sind, ist der im Widerspruchsbescheid enthaltene Hinweis darauf, es könne von einem solidarischen, die Finanzierung der Medikamente sicher stellenden Familienverband ausgegangen werden, bei bisher vom Beklagten vorausgesetzten monatlichen Kosten von 672 € so nicht allein tragfähig.

Gründe für ein Abweichen von der "Soll"-Regelung des § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG sind nicht erkennbar.

Ebenso wenig bestehen Anhaltspunkte für einen Ausschlussgrund nach § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG. Entgegen der im Widerspruchsbescheid vertretenen Auffassung ist die im zweiten Satzteil der Norm enthaltene Regelung, nach der eine Aufenthaltserlaubnis nicht erteilt wird, wenn der Ausländer - was hier zweifelsfrei zu bejahen ist - wiederholt gegen "entsprechende Mitwirkungspflichten" verstoßen hat, nur auf den im ersten Satzteil des § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG geregelten Sachverhalt der Ausreise in einen Drittstaat und nicht auf die Verletzung von Mitwirkungspflichten schlechthin (vgl. §§ 48, 49 Abs. 1 AufenthG) anwendbar. Nur hinsichtlich eines Drittstaates ist die Frage einer freiwilligen Ausreise und damit auch eine in diesem Kontext stehende Verletzung der Mitwirkungspflicht, die die Erfüllung der Passpflicht einschließt, bedeutsam.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 22.11.2005 - 1 C 18/04 -, InfAuslR 2006, 272; Bay. VGH, Beschluss vom 1.6.2006 - 19 ZB 06.659 -; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 30.5.2005 - 13 S 1309/04 -; Zeitler, HTK-AuslR, § 25 AufenthG, zu Abs. 3 11/2006 Nr. 3.2.

Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Norm, da sich die Bezugnahme "entsprechende Mitwirkungspflichten" sprachlich nur auf die im ersten Satzteil des § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG genannte Möglichkeit und Zumutbarkeit einer Ausreise in einen anderen Staat beziehen kann.

So auch Bay. VGH, Beschluss vom 1.6.2006 - 19 ZB 06.659 -.

Gesetzessystematische Erwägungen gelangen zu demselben Ergebnis. Es führte zu einem gesetzlichen Wertungswiderspruch, wenn jede Verletzung von Mitwirkungspflichten, also einschließlich der Fälle einer nicht in Betracht kommenden Einreise in einen Drittstaat, auf den Ausschlusstatbestand des § 25 Abs. 3 Satz 2 zweiter Satzteil AufenthG führte. Dann wäre § 5 Abs. 3 AufenthG, nach dem in den Fällen des § 25 Abs. 3 von der Anwendung der Absätze 1 bis 3 abzusehen ist, praktisch bedeutungslos. Dieses widersinnige Ergebnis wird vermieden, wenn die Regelung des § 23 Abs. 3 Satz 2 AufenthG als Sonderregelung gegenüber § 5 Abs. 3 AufenthG verstanden wird.

In diesem Sinne äußern sich auch die Gesetzesmaterialien. Ihnen zufolge soll Satz 2 sicher stellen, dass kein Aufenthaltstitel erteilt wird, wenn die Ausreise in einen anderen Staat (Drittstaat) möglich und zumutbar ist.

Vgl. BT-Drucks. 15/420, S. 79.

Gleiches ist schließlich auch Nr. 25.3.3.1 der Vorläufigen Anwendungshinweise zum Aufenthaltsgesetz zu entnehmen. Danach sanktioniert § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht die wiederholte oder gröbliche Verletzung aller Mitwirkungspflichten. Vielmehr muss der Ausländer eine gesetzliche Mitwirkungspflicht verletzt haben, wodurch die Ausreise in einen anderen Staat gegenwärtig nicht möglich oder zumutbar ist.

In Bezug auf die übrigen Kläger, die sich ihrerseits nicht auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG und demzufolge auch nicht auf die Möglichkeit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG berufen können, stellen sich etliche Rechtsfragen, die abschließend zu beantworten nicht Aufgabe des Gerichts im Verfahren der Prozesskostenhilfe ist und deren Beantwortung möglicherweise von weiterer Sachverhaltsaufklärung abhängt. (Wird ausgeführt)



Ende der Entscheidung

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