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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 19.02.2008
Aktenzeichen: 19 A 4554/06
Rechtsgebiete: AufenthV


Vorschriften:

AufenthV § 5 Abs. 1
Die Ausländerbehörde übt ihr Ermessen nach § 5 Abs. 1 AufenthV fehlerhaft aus, wenn sie die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer mit der Erwägung versagt, der Antragsteller beziehe Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch XII oder nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Tatbestand:

Die 1998 in das Bundesgebiet eingereiste Klägerin zu 1. und ihre Söhne, die Kläger zu 2. bis 4., sind somalische Staatsangehörige. Um einen Verwandten in den Niederlanden besuchen zu können, beantragten sie die Ausstellung von Reiseausweisen für Ausländer. Die Beklagte lehnte die Anträge der Kläger zu 1. bis 3. ab. Nach deren erfolglosem Widerspruchsverfahren erhoben die Kläger zu 1. bis 4. Klage, die das VG abwies. Die Berufung hatte nur insoweit Erfolg, als die Kläger hilfsweise die Verpflichtung der Beklagten zur Bescheidung ihrer Anträge unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts begehrten.

Gründe:

I. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Ausstellung von Reiseausweisen. Die einzige Anspruchsgrundlage, die für dieses Begehren in Betracht kommt, sind die §§ 5 Abs. 1, 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthV. Nach diesen Vorschriften kann die Behörde einen solchen Reiseausweis unter anderem einem Ausländer ausstellen, der nachweislich keinen Pass oder Passersatz besitzt und ihn nicht auf zumutbare Weise erlangen kann und eine Aufenthaltserlaubnis besitzt. Ob diese tatbestandlichen Voraussetzungen hier erfüllt sind, ist für den Hauptantrag der Kläger unerheblich. Denn der mit ihm geltend gemachte Anspruch scheidet jedenfalls deshalb aus, weil das dann eröffnete Ermessen der Beklagten nicht auf eine Entscheidung zugunsten der Kläger reduziert ist.

Bei der Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde über die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer nach §§ 5, 6 AufenthV stehen die öffentlichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Vordergrund, die durch die Ausweisausstellung regelmäßig berührt werden. Dazu gehört insbesondere die Personalhoheit des Herkunftsstaates, in die die deutsche Ausländerbehörde mit der Ausweisausstellung eingreift, wenn der Ausländer nicht staatenlos ist. Das Gewicht dieses Ermessensgesichtspunktes hängt im Einzelfall davon ab, mit welchem Nachdruck der Herkunftsstaat seine Personalhoheit über die Passhoheit gegenüber der Bundesrepublik Deutschland geltend macht und ob die Ausweisausstellung die zwischenstaatlichen Beziehungen zu diesem oder anderen Staaten belasten kann. Ferner darf die Ausländerbehörde als öffentliches Interesse berücksichtigen, dass eine erhebliche abstrakte Missbrauchsgefahr im Umgang mit Reiseausweisen für Ausländer besteht. Diese und weitere Ermessensgesichtspunkte, etwa integrationspolitische Gründe, rechtfertigen regelmäßig eine generelle Ermessenspraxis der Ausländerbehörde, die Ausstellung solcher Reiseausweise zurückhaltend zu handhaben oder - anders formuliert - darauf gerichteten Anträgen nur in Ausnahmefällen zu entsprechen.

Vgl. die amtliche Begründung zu §§ 5 bis 13 AufenthV, BR-Drucks. 731/04 vom 24.9.2004, S. 151 f.; BVerwG, Urteil vom 3.5.1973 - 1 C 59.70 -, juris, Rdn. 23 f., Beschlüsse vom 19.1.1983 - 1 B 11.83 -, juris, Rdn. 5, und vom 29.9.1988 - 1 B 106.88 -, InfAuslR 1988, 317 (318).

Das in dieser Weise allgemein gekennzeichnete öffentliche Interesse muss die Ausländerbehörde im Einzelfall konkret gewichten und gegen das private Interesse des Ausländers an der Ausweisausstellung abwägen, wenn er solche privaten Belange geltend macht. Zu den privaten Interessen des Ausländers, die die Ausländerbehörde in die Abwägung einzustellen hat, können der Schutz von Ehe und Familie gehören, aber auch humanitäre Gründe sowie das Interesse des Ausländers an der Ermöglichung von Urlaubsreisen ins Ausland.

So für den Reiseausweis nach der Genfer Konvention: BVerwG, Urteil vom 13.12.2005 - 1 C 36.04 -, juris, Rdn. 23.

Solche privaten Belange vermögen nur dann einen Anspruch des Ausländers auf Ausweisausstellung zu begründen, wenn sie gegenüber den beschriebenen öffentlichen Interessen im Einzelfall ein derart überragendes Gewicht besitzen, dass sie ihnen gegenüber einen zwingenden Vorrang beanspruchen und jede andere Entscheidung als die Ausstellung des Reiseausweises rechtswidrig wäre (Ermessensreduzierung auf Null). Private Belange von derart überragendem Gewicht hat die Rechtsprechung etwa angenommen, wenn die Antragsablehnung zu einer so gut wie vollständigen Trennung des Ausländers von seiner deutschen Ehefrau und seinem deutschen Kind für die Dauer von vier bis fünf Jahren führen und deshalb eine überaus ernste Bedrohung des Fortbestandes seiner Ehe und Familie nach sich ziehen würde.

BVerwG, Urteil vom 3.5.1973 - 1 C 59.70 -, juris, Rdn. 30 f.

Von derart überragendem Gewicht ist das private Interesse der Kläger nicht. Ihnen droht weder eine dauerhafte noch eine vorübergehende Trennung vom Ehegatten oder einem anderen engen Familienangehörigen. Ihnen droht auch nicht der Verlust oder eine ernsthafte Belastung der familiären Bindung zu ihrem Cousin und Onkel in den Niederlanden, die ohnehin in der Vergangenheit im Wesentlichen nur durch Besuchskontakte geprägt war. Selbst diese Besuchskontakte können weiterhin jederzeit stattfinden. Es geht vielmehr lediglich darum, ob diese Besuchskontakte wie bisher ausschließlich in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden können oder künftig auch in den Niederlanden. Das Gewicht dieses Interesses der Kläger ist mit demjenigen der oben geschilderten Art auch nicht annähernd vergleichbar.

II. Der Hilfsantrag der Kläger auf Bescheidung ist demgegenüber begründet. Die gegenüber den Klägern zu 1. bis 3. ergangenen Ablehnungsbescheide der Beklagten in der Gestalt der Widerspruchsbescheide der Bezirksregierung sind rechtswidrig und verletzen diese Kläger in ihren Rechten. Mit ihnen hat die Beklagte die Anträge der Kläger zu 1. bis 3. ermessensfehlerhaft abgelehnt. In Bezug auf diese Kläger handelt es sich bei der tenorierten Verpflichtung der Beklagten um eine erneute Bescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO. Hinsichtlich des Klägers zu 4., dessen Antrag die Beklagte bisher nicht beschieden hat, besteht die tenorierte Verpflichtung in einer erstmaligen Bescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts nach der genannten Vorschrift.

Das Ermessen der Beklagten nach den §§ 5 Abs. 1, 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthV ist eröffnet, denn die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschriften sind erfüllt. Gegenüber den Klägern zu 1. bis 3. hat sie dieses Ermessen fehlerhaft ausgeübt, gegenüber dem Kläger zu 4. hat sie es gar nicht ausgeübt.

Die Ermessensentscheidung der Beklagten ist am Maßstab der oben unter I. dargestellten Grundsätze fehlerhaft. Die maßgebliche Erwägung für ihre ablehnende Entscheidung, die Kläger könnten ihren Lebensunterhalt nicht ohne den Bezug von Sozialleistungen sicherstellen, ist ungeeignet, den damit verfolgten Zweck zu erreichen. Dieser Zweck besteht augenscheinlich darin, öffentliche Kassen zu schonen. Die ablehnende Ermessensentscheidung der Beklagten ist nicht geeignet diesen Zweck zu fördern, weil die Auslandsreisen, die sie den Klägern damit ermöglichen würde, nicht zu einer Zusatzbelastung der öffentlichen Kassen führen. Denn weder das Asylbewerberleistungsgesetz noch das Sozialgesetzbuch XII, das nach § 2 Abs. 1 AsylbLG inzwischen auf die Klägerin zu 1. anwendbar sein dürfte, sehen einen Mehrbedarf für Fahrtkosten der in Rede stehenden Art vor. Diese gehören vielmehr zu dem durch Regelsätze abgedeckten Regelbedarf für den notwendigen Lebensunterhalt, zu dem in vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Umwelt (§ 27 Abs. 1 Satz 2 SGB XII) und damit grundsätzlich der Umgang mit Familienangehörigen zu zählen ist. Die Fahrtkosten, die durch den Besuch des Verwandten in Roosendaal verursacht würden, gehören insbesondere nicht zu den Sonderbedarfen nach den §§ 30 bis 34 SGB XII. Zudem ist nicht davon auszugehen, dass den Klägern insoweit ein Anspruch aus § 73 Satz 1 SGB XII zustehen könnte. Danach können Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Dies setzt - wofür hier nichts ersichtlich ist - das Vorliegen einer besonderen Bedarfslage voraus, die eine gewisse Nähe zu den speziell in den §§ 47 bis 74 SGB XII geregelten Bedarfslagen aufweist.

BSG, Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 14/06 R -, juris, Rdn. 23.

Es sind auch keinerlei greifbare Anhaltspunkte dafür vorgetragen oder ersichtlich, dass die Klägerin zu 1. die ihr gewährten Sozialleistungen sachwidrig einsetzt. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass ihr Cousin, den die Kläger in den in Niederlanden besuchen wollen, nach ihren Angaben angeboten hat, die Kläger in Bonn abzuholen.

Ende der Entscheidung

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