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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 04.09.2008
Aktenzeichen: 19 B 1293/08
Rechtsgebiete:


Vorschriften:

1. Auch für den Prognoseunterricht gilt, dass etwaige Verfahrens- und Bewertungsfehler nur dann erheblich sind, wenn ein Einfluss auf das Ergebnis des Prognoseunterrichts nicht ausgeschlossen werden kann.

2. Der Runderlass des früheren nordrhein-westfälischen Kultusministeriums vom 19.7.1991 über die Förderung der Schülerinnen und Schüler bei besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und des Rechtschreibens (LRS-Erlass) enthält sachverständige Aussagen zu den Anforderungen (auch) an die Durchführung und Bewertung des Ergebnisses des Prognoseunterrichts.

3. Bei der Bewertung des Ergebnisses des Prognoseunterrichts muss eine Leseschwäche berücksichtigt werden, wenn es sich um eine dauerhafte Leseschwäche handelt.

4. Der Verpflichtung, bei einer Lese- und Rechtschreibschwäche und bei anderen Behinderungen zu prüfen, ob ein Nachteilsausgleich oder (auch) eine Berücksichtigung bei der Bewertung des Ergebnisses des Prognoseunterrichts in Betracht zu ziehen ist, korrespondiert die Verpflichtung des Schulamtes und der für den Prognoseunterricht zuständigen Kommission, individuelle Besonderheiten der am Prognoseunterricht teilnehmenden Schülerinnen und Schüler zu ermittelten.

5. Für die nach dem LRS-Erlass beim Übergang zur Realschule und zum Gymnasium vorgesehene unterschiedliche Behandlung einer Leseschwäche und einer Rechtschreibschwäche ist mit Blick auf den Grundsatz der Chancengleichheit ein rechtfertigender Grund erforderlich.


Tatbestand:

Die Antragstellerin zu 3., Tochter der Antragsteller zu 1. und 2., leidet nach außerschulischen Gutachten an einer fortbestehenden Lese- und Rechtschreibschwäche. In der Klasse 3 der Grundschule wurde sie im Lesen und Rechtschreiben zusätzlich gefördert. Da sich ihre Leistungen im Lesen verbesserten, erfolgte im 4. Schuljahr nur noch im Rechtschreiben eine zusätzliche Förderung. Die Grundschule empfahl der Antragstellerin zu 3. den Besuch der Realschule oder Gesamtschule. Nach Teilnahme der Antragstellerin zu 3. am Prognoseunterricht stellte der Antragsgegner fest, dass ihre Eignung für die gewünschte Schulform Gymnasium offensichtlich ausgeschlossen sei. Das VG lehnte den Antrag der Antragsteller auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel der vorläufigen Zulassung zur Schulform Gymnasium ab. Das OVG wies die Beschwerde der Antragsteller zurück.

Gründe:

Die Antragsteller machen ohne Erfolg geltend, bei der Durchführung des Prognoseunterrichts und der Entscheidung über das Ergebnis des Prognoseunterrichts sei die Leseschwäche der Antragstellerin zu 3. nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt worden. Der Vortrag greift aus mehreren Gründen nicht durch. Dabei unterstellt der Senat, dass bei der Antragstellerin zu 3. nicht nur eine - bei der Entscheidung über das Ergebnis des Prognoseunterrichts unstreitig nicht berücksichtigte - Recht-schreibschwäche, sondern auch eine Leseschwäche vorliegt. Nach der im Beschwerdeverfahren vorgelegten Begabungsdiagnostik der Universität N. handelt es sich um eine leichte Leseschwäche.

Etwaige Verfahrens- und Bewertungsfehler sind nur dann erheblich, wenn ein Einfluss auf das Ergebnis des Prognoseunterrichts nicht ausgeschlossen werden kann.

Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 23.3.2007 - 19 B 414/07 -, m. w. N.

Das lässt sich hier nicht feststellen. Es ist bereits nicht erkennbar, dass die Leseschwäche Auswirkungen auf das Leistungsvermögen und -verhalten der Antragstellerin zu 3. im Prognoseunterricht hatte. Der Antragsgegner hat nach Abschluss des Prognoseunterrichts, aber vor Erlass seines Bescheides vom 9.5.2008 Kenntnis von der Lese- und Rechtschreibschwäche der Antragstellerin zu 3. erhalten. Daraufhin hat er eine erneute Auswertung der Leistungen der Antragstellerin zu 3. veranlasst. Nach dem Inhalt seines Bescheides hat auch die erneute Auswertung keine Auswirkungen der Leseschwäche erkennen lassen, weil teilweise auch Aufgaben, die eine umfangreiche Leseleistung voraussetzten, richtig gelöst worden seien. In seinen Schriftsätzen hat er die fehlende "Relevanz" der Leseschwäche der Antragstellerin zu 3. zusätzlich damit begründet, dass sie in beiden Lesetests die wesentlichen Informationen im Text farblich markiert habe. Anhaltspunkte dafür, dass die Einschätzung des Antragsgegners über die Auswirkungen der Leseschwäche fehlerhaft ist, liegen nicht vor.

Die Antragsteller haben nicht substantiiert aufgezeigt, dass sich die Leseschwäche der Antragstellerin zu 3. im Prognoseunterricht konkret ausgewirkt hat. Ihr Vortrag erschöpft sich darin, allgemeine Auswirkungen der Leseschwäche darzulegen. So wird in den Schriftsätzen der Antragsteller vorgetragen, es falle der Antragstellerin zu 3. weitaus schwerer als nicht benachteiligten Kindern, Texte zu verstehen sowie Aufgabenstellungen richtig und zügig umzusetzen, sie benötige zusätzliche Zeit, um einen Text zu verstehen. Konkrete Benachteiligungen der Antragstellerin zu 3. bei bestimmten Aufgabenstellungen im Prognoseunterricht werden nicht angeführt.

Die Antragsteller berufen sich auch ohne Erfolg auf den Runderlass des früheren Kultusministeriums vom 19.7.1991 über die Förderung von Schülerinnen und Schülern bei besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens (im Folgenden: LRS-Erlass), BASS 14-01, Nr. 1, der in Bezug auf die betroffenen Schülerinnen und Schüler eine sachverständige schulfachliche Konkretisierung des Anspruchs auf individuelle Förderung in der Schule (§ 1 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW) darstellt, OVG NRW, Beschluss vom 11.1.2008 - 19 E 726/07 -, juris, Rdnr. 10, und in Nrn. 4.1 und 4.4 auch sachverständige Aussagen zu den Anforderungen an die Durchführung und Bewertung des Ergebnisses des Prognoseunterrichts enthält. Nr. 4.1 des LRS-Erlasses regelt, welcher Nachteilsausgleich bei schriftlichen Arbeiten und Übungen in Betracht kommt. Derartige Arbeiten und Übungen sind auch Gegenstand des Prognoseunterrichts. Nr. 4.4 des LRS-Erlasses enthält Bestimmungen für den Übergang zu Realschulen und Gymnasien, also für den Übergang von der Grundschule zu einer weiterführende Schule und damit auch für den Prognoseunterricht, auf dessen Grundlage das Schulamt über die Zulassung zu der gewünschten und von der Empfehlung der Grundschule abweichenden Schulform entscheidet.

Es ist bereits fraglich, ob Nrn. 4.1 und 4.4 des LRS Erlasses auf die Antragstellerin zu 3. Anwendung finden. Die genannten Bestimmungen gelten ausdrücklich nur für Schülerinnen und Schüler der Klassen 3 bis 6 und in besonders begründeten Einzelfällen auch der Klassen 7 bis 10, sofern die Schülerinnen und Schüler wegen einer Lese- und Rechtschreibschwäche einer zusätzlichen Fördermaßnahme bedürfen. Ob dieses Bedürfnis bei der Antragstellerin zu 3. besteht, lässt sich den dem Senat vorliegenden pädagogischen und psychologischen Stellungnahmen nicht eindeutig entnehmen: Nach den Feststellungen der von der Antragstellerin zu 3. besuchten Städtischen Gemeinschaftsgrundschule bedarf die Antragstellerin zu 3. jedoch keiner zusätzlichen Förderung im Lesen mehr. Sie ist ausweislich der Zeugnisse der Grundschule in der Klasse 3 wegen einer Lese- und Rechtschreibschwäche zusätzlich gefördert worden. In der Klasse 4 erfolgte nur noch eine Förderung wegen der Rechtschreibschwäche. Eine Förderung im Lesen unterblieb, weil die Leistungen der Antragstellerin zu 3. im Fach Lesen von "ausreichend" in der Klasse 3 auf "befriedigend" in der Klasse 4 gestiegen waren. Demgegenüber besteht aber nach der Stellungnahme des Diplom-Psychologen A., der Begabungsdiagnostik der Universität N. und dem Gutachten des Diplom-Pädagogen L. weiterhin auch im Lesen ein zusätzlicher (schulischer und außerschulischer) Förderbedarf. Dies bedarf jedoch keiner näheren Klärung.

Die Gewährung eines Nachteilsausgleichs nach Nr. 4.1 des LRS-Erlasses etwa durch eine Schreibzeitverlängerung steht im Ermessen der Lehrer, hier der Mitglieder der für den Prognoseunterricht der Antragstellerin zu 3. zuständigen Kommission. Diese haben ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Da Auswirkungen der Leseschwäche der Antragstellerin zu 3. im Prognoseunterricht aus den oben dargelegten Gründen nicht erkennbar sind, ist es nicht zu beanstanden, dass ihr kein Nachteilsausgleich gewährt worden ist.

Vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 22.11.2007 - 19 B 1727/07 -.

Auch Nr. 4. 4 des LRS-Erlasses greift nicht zu Gunsten der Antragstellerin ein. Danach sind besondere Schwierigkeiten beim Rechtschreiben allein kein Grund, eine Schülerin oder einen Schüler für den Übergang in die Realschule oder das Gymnasium bei sonst angemessener Gesamtleistung als nicht geeignet zu beurteilen. Dem hat die Kommission Rechnung getragen. Sie hat die Rechtschreibleistungen der Antragstellerin zu 3. nicht in die Bewertung des Ergebnisses des Prognoseunterrichts einbezogen. Eine Nichtberücksichtigung der durch eine Leseschwäche bedingten Minderleistungen sieht Nr. 4.4 des LRS-Erlasses nicht vor. Dagegen bestehen hier keine rechtlichen Bedenken.

Der Prognoseunterricht bezweckt die Feststellung, ob - prognostisch - die Schülerin oder der Schüler befähigt ist, in einer öffentlichen Schule oder Ersatzschule der gewünschten Schulform erfolgreich mitzuarbeiten. Für derartige Befähigungsprüfungen und -feststellungen ist in der Rechtsprechung geklärt, dass dauerhafte Einschränkungen oder Beeinträchtigungen als persönlichkeitsbedingte Eigenschaften die Leistungsfähigkeit eines Prüflings oder einer Schülerin und eines Schülers prägen. Die Folgen und Auswirkungen des Dauerleidens bestimmen deshalb im Gegensatz zu sonstigen krankheitsbedingten Leistungsminderungen das normale Leistungsbild des Betroffenen. Der Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) lässt es nicht zu, eine von den Auswirkungen eines Dauerleidens betroffene Leistung bei der Bewertung unberücksichtigt zu lassen.

BVerwG, Beschluss vom 13.12.1985 - 7 B 210.85 -, juris, Rdnr. 6; Niehues/Rux, Schul- und Prüfungsrecht, Bd. 1, Schulrecht, 4. Aufl., 2006, Rdnr. 446; Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, Bd. 2, 2004, Prüfungsrecht, Rdnr. 121 f., jeweils m. w. N.

Eine Leseschwäche muss damit bei der Bewertung des Ergebnisses des Prognoseunterrichts berücksichtigt werden, wenn es sich um eine dauerhafte Leseschwäche handelt. Sie prägt als persönlichkeitsbedingte Eigenschaft die Leistungsfähigkeit der Schülerin und des Schülers für die weitere Schullaufbahn. Demgegenüber ist eine nur vorübergehende, durch schulische und außerschulische Fördermaßnahmen in absehbarer Zeit behebbare Leseschwäche bei der Prognose über die Eignung einer Schülerin und eines Schülers zum Besuch der gewünschten Schulform nicht zwingend als Eignungsmangel in die Bewertung schulischer Leistungen einzubeziehen.

Danach hat die Antragstellerin keinen Anspruch auf Nichtberücksichtigung ihrer Leseschwäche bei der Entscheidung über ihre Eignung zum Besuch der Schulform Gymnasium. Nach Aktenlage ist nicht ersichtlich, dass sie nur vorübergehend an einer Leseschwäche leidet. Die Universität N. hat die Aussage in der Begabungsdiagnostik, bei weiterem Üben könne davon ausgegangen werden, dass die leichte Leseschwäche der Antragstellerin zu 3. "wahrscheinlich bald behoben sein wird", nicht näher begründet. Insbesondere sind keine Angaben darüber gemacht worden, welche konkreten schulischen oder außerschulischen Fördermaßnahmen geboten sind. In dem Gutachten des Diplom-Pädagogen L. ist die dort enthaltene Prognose, die bisherigen Fortschritte der Antragstellerin ließen erwarten, dass ihre Lese- und Rechtschreibschwäche in 1 bis 1 1/2 Jahren behoben sein werde, ebenfalls nicht näher begründet worden. Das Gutachten enthält zudem keine konkreten Vorschläge zur weiteren schulischen und außerschulischen Förderung. Angesichts der nach Angaben des Diplom-Pädagogen L. bereits seit mehr als 1 1/2 Jahren erfolgten außerschulischen, der (zumindest) über ein Jahr erfolgten schulischen Förderung in der Klasse 3 der Grundschule und angesichts der von der Universität N. festgestellten überdurchschnittlichen Begabung und außergewöhnlich hohen Grundintelligenz ist auch die Verbesserung der Leistungen im Lesen von "ausreichend" in der Klasse 3 auf "befriedigend" in der Klasse 4 der Grundschule kein hinreichendes Indiz für eine nur vorübergehende Leseschwäche.

Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass mit dem oben dargelegten Erfordernis, bei einer Lese- und Rechtschreibschwäche und auch bei anderen Behinderungen zu prüfen, ob ein Nachteilsausgleich oder (auch) eine Berücksichtigung bei der Bewertung des Ergebnisses des Prognoseunterrichts in Betracht zu ziehen ist, die Verpflichtung des Schulamtes und der für den Prognoseunterricht zuständigen Kommission korrespondiert, individuelle Besonderheiten zu ermitteln. Dies ist geboten, um auf der Grundlage des in Prognoseunterrichts gezeigten Lern- und Leistungsverhaltens (vgl. § 8 Abs. 8 AO-GS) eine individuelle Eignungsprognose stellen zu können. Soweit, wie hier, die Eltern die Grundschule und die weiterführende Schule, bei der sie ihr Kind angemeldet haben, über beachtliche individuelle Besonderheiten informiert haben, kann ihnen nicht entgegengehalten werden, dass sie selbst das Schulamt und/oder die Kommission nicht informiert haben. Vielmehr dürfen sie darauf vertrauen, dass die Grundschule und die weiterführende Schule ihre Erkenntnisse über individuelle Besonderheiten weitergeben.

Außerdem weist der Senat darauf hin, dass für die sich aus Nr. 4.4 des LRS-Erlasses ergebende unterschiedliche Behandlung eine Leseschwäche und einer Rechtschreibschwäche mit Blick auf den Grundsatz der Chancengleichheit ein rechtfertigender Grund gegeben sein muss. Ein solcher geht aus dem LRS-Erlass nicht hervor. Es versteht sich auch nicht aus sich, dass Lese- und Rechtschreibschwächen bei der Versetzung gleich (Nr. 4.3 des LRS-Erlasses), aber beim Übergang zur Realschule und zum Gymnasium (Nr. 4.4 des LRS-Erlasses) ungleich behandelt werden. Die dauerhafte Rechtschreibschwäche erschwert nicht nur, wie etwa eine Handverletzung, vgl. hierzu Niehues, Prüfungsrecht, a. a. O., Rdnr. 21, den Nachweis einer uneingeschränkt vorhandenen Befähigung. Vielmehr prägt sie wie die dauerhafte Leseschwäche als persönlichkeitsbedingte Eigenschaft die Leistungsfähigkeit der Schülerin und des Schülers.

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