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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 29.09.2003
Aktenzeichen: 19 B 1923/03
Rechtsgebiete: ASchO NRW, VO, SchFG


Vorschriften:

ASchO NRW § 5 Abs. 2
VO § 5
SchFG NRW § 6
Das Aufnahmeermessen des Schulleiters ist auch bei Ausschöpfung des Klassenfrequenzhöchstwertes auf Null reduziert, wenn der schulpflichtige Schüler eine andere Schule nicht oder nur in unzumutbarer Weise besuchen kann und die Überschreitung des Klassenfrequenzhöchstwertes die Lernsituation in der aufnehmenden Klasse nicht unzumutbar beeinträchtigt.
Tatbestand:

Der schulpflichtige Antragsteller wohnt in einer Wohngruppe, die von einem privaten Träger betrieben wird. Das Schulamt des Kreises W. stellte fest, dass der Antragsteller einer sonderpädagogischen Förderung bedarf und geeigneter Förderort eine Schule für Erziehungshilfe ist. Der Antragsgegner, der Schulleiter der nächstgelegenen Schule für Erziehungshilfe ist, lehnte die Aufnahme des Antragstellers mit der Begründung ab, in der für den Antragsteller in Betracht kommenden Klasse sei der Klassenfrequenzhöchstwert bereits ausgeschöpft worden. Das VG verpflichtete den Antragsgegner, den Antragsteller bis zur unanfechtbaren Entscheidung im Hauptsacheverfahren aufzunehmen. Die Beschwerde des Antragsgegners hatte keinen Erfolg.

Gründe:

Das VG ist nach dem derzeitigen Erkenntnisstand und bei der im vorliegenden Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass das Aufnahmeermessen des Antragsgegners (§ 5 Abs. 2 Satz 1 ASchO NRW) auf Null reduziert ist.

Der schulpflichtige (§§ 3 Abs. 1, 6 SchpflG NRW) Antragsteller kann keine andere als die für ihn nächstgelegene Schule des Antragsgegners besuchen. Der Besuch einer allgemeinen Schule, etwa einer Hauptschule, kommt nicht in Betracht, weil der Antragsteller nach dem bestandskräftigen Bescheid des Schulamtes für den Kreis W. einer sonderpädagogischen Förderung bedarf und als geeigneter Förderort eine - eine konkrete Schule ist nicht festgelegt worden - Schule für Erziehungshilfe bestimmt worden ist. Der Besuch einer anderen als der vom Antragsgegner geleiteten Schule für Erziehungshilfe kommt nach den vorliegenden Unterlagen schon aus tatsächlichen Gründen nicht in Betracht. Die H. Schule in L. und die R. Schule in B. haben die Aufnahme des Antragstellers unter anderem mit der Begründung abgelehnt, die Aufnahmekapazität dieser Schulen sei erschöpft. Zweifel an der Richtigkeit dieser Begründung sind nicht ersichtlich und werden auch vom Antragsgegner nicht geltend gemacht. Es ist auch nicht erkennbar, dass der Antragsteller die vom Antragsgegner in der Beschwerdebegründung - nicht näher bezeichneten - Schulen für Erziehungshilfe in C. oder D. besuchen kann, weil dort die Aufnahmekapazität nicht erschöpft ist und der Aufnahme des Antragstellers auch keine anderen Gründe entgegenstehen. Der Antragsgegner hat hierzu in der Beschwerdebegründung keine näheren Angaben gemacht. Kreisdirektor J. vom Kreis G. konnte auf telefonische Nachfrage keine konkrete Schule für Erziehungshilfe nennen, die bereit und in der Lage ist, den Antragsteller aufzunehmen. Für eine weitere Sachaufklärung, die auch die Klärung der Frage umfasst, ob der Antragsteller eine eventuell aufnahmebereite Schule für Erziehungshilfe in zumutbarer Weise erreichen kann, ist im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren kein Raum.

Einer Reduzierung des Aufnahmeermessens des Antragsgegners auf Null steht auch nicht entgegen, dass die Aufnahmekapazität der für den Antragsteller in Betracht kommenden Klasse erschöpft ist. Nach dem unwidersprochen geblieben Vortrag des Antragsgegners besuchen bereits 14 Kinder diese Klasse. Damit ist der Klassenfrequenzhöchstwert (§ 6 Abs. 8 der Verordnung zur Ausführung des § 5 SchFG NRW - VO zu § 5 SchFG NRW) erschöpft. Der Antragsgegner ist zwar im Rahmen seines Aufnahmeermessens grundsätzlich gehindert, den Klassenfrequenzhöchstwert zu überschreiten. Denn eine Überschreitung widerspricht den mit § 6 Abs. 8 VO zu § 5 SchFG NRW verfolgten Zielsetzungen des Verordnungsgebers. Die Festsetzung des Klassenfrequenzhöchstwertes dient nämlich nicht nur haushaltsrechtlichen Zielsetzungen, sondern auch der Gewährleistung einer erfolgreichen Erziehungs- und Bildungsarbeit, die nach der Wertung des Verordnungsgebers grundsätzlich die Einhaltung des Klassenfrequenzhöchstwertes erfordert.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 22.11.2002 - 19 B 1843/02 -, und 2.9.1991 - 19 B 2373/91 -.

Allerdings sind nach § 6 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 VO zu § 5 SchFG NRW nach Ermessen der Schulleiterin oder des Schulleiters geringfügige Abweichungen in besonderen Ausnahmefällen zulässig. Ein Ausnahmefall, der ein Überschreiten des Klassenfrequenzhöchstwertes zulässt und gebietet, liegt vor, wenn es andernfalls vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Anspruchs des Schülers auf Erziehung und Bildung (Art. 8 Abs. 1 Satz 1 LV NRW, Art. 2 Abs. 1 und 12 GG) und des Rechts seiner Eltern auf Erziehung und Bildung ihres Kindes in der Schule (Art. 8 Abs. 1 Satz 2 LV NRW, Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), und des hieraus folgenden Rechts auf Zugang zum öffentlichen Bildungswesen unter zumutbaren Bedingungen zu unerträglichen Ergebnissen kommen würde.

Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 26.9.1996 - 19 B 2155/96 -, m. w. N.

Das ist hier der Fall. Die Nichtaufnahme des schulpflichtigen Antragstellers an der vom Antragsgegner geleiteten Schule hätte zur Folge, dass der verfassungsrechtliche Anspruch des Antragstellers auf Erziehung und Bildung in der Schule sowie die verfassungsrechtlichen Rechte seiner Eltern vollständig leer liefen. Der Antragsteller bedarf, wie ausgeführt, einer sonderpädagogischen Förderung in einer Schule für Erziehungshilfe und kann derzeit eine andere als die vom Antragsgegner geleitete Schule für Erziehungshilfe nicht in zumutbarer Weise besuchen. Wenn der Antragsteller, der seit Mai 2003 keine Schule besucht, weiterhin keine seinem sonderpädagogischen Förderbedarf entsprechende Schule besucht, lässt sich eine weitere nachhaltige Verschärfung seiner seit längerem vorhandenen und erheblichen emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen nicht ausschließen. Er benötigt nach dem sonderpädagogischen Gutachten "dringend" Hilfe und Unterstützung durch geeignete Fördermaßnahmen in einer Schule für Erziehungshilfe, weil er "emotional tief verunsichert und anscheinend traumatisiert" ist. Anhaltspunkte dafür, dass sich der Förderbedarf des Antragstellers nach der Erstellung des sonderpädagogischen Gutachtens geändert hat, sind nicht ersichtlich.

Bei summarischer Prüfung stehen der Aufnahme des Antragstellers auch nicht die ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Ansprüche der (künftigen) Mitschüler, die die für den Antragsteller in Betracht kommende Klasse besuchen, auf Erziehung und Bildung und die Rechte der Eltern der Mitschüler auf Erziehung und Bildung ihrer Kinder in der Schule entgegen. Es spricht zwar Vieles dafür, dass die Mitschüler im Falle einer Aufnahme des Antragstellers nicht in gleichem Umfang wie bisher gefördert werden können. Dieser Gesichtspunkt hat jedoch bei der gebotenen Abwägung der gegenläufigen verfassungsrechtlichen Ansprüche des Antragstellers und seiner Eltern einerseits sowie der seiner Mitschüler und deren Eltern andererseits kein durchgreifendes Gewicht. Es ist nicht ersichtlich, dass die Überschreitung des Klassenfrequenzhöchstwertes um einen Schüler die Lernsituation in der Klasse derart beeinträchtigt, dass die erforderliche sonderpädagogische Förderung der Schüler unmöglich wird oder sonst schlechthin unzumutbare Lernverhältnisse in der Klasse entstehen. Dem Senat liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass der Festsetzung des Klassenfrequenzhöchstwertes durch den Verordnungsgeber pädagogische oder sonstige wissenschaftliche Studien zu Grunde liegen, die die Einhaltung des Klassenfrequenzhöchstwertes nicht nur als pädagogisch sinnvoll erscheinen lassen, sondern zur Vermeidung einer unerträglichen Lernsituation zwingend erfordern. Die Ausnahmeregelung in § 6 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 VO zu § 5 SchFG NRW lässt vielmehr erkennen, dass der Klassenfrequenzhöchstwert nicht ausnahmslos eingehalten werden muss. Eine weitergehende Sachaufklärung muss einem etwaigen Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Der Antragsgegner hat auch nicht substantiiert dargelegt, dass auf Grund der konkreten Lernsituation in der für den Antragsteller in Betracht kommenden Klasse die Aufnahme eines weiteren Schülers schlechthin unzumutbare Nachteile für die anderen Schüler dieser Klasse hätte. Konkrete Angaben zu den gegenwärtigen Verhältnissen in der Klasse hat der Antragsgegner nicht gemacht, obwohl ihm dies als Schulleiter gegebenenfalls nach Rücksprache mit den unterrichtenden Lehrern ohne Weiteres möglich gewesen wäre.

Der Antragsgegner macht auch ohne Erfolg geltend, dass - unter anderem - der Träger der vom Antragsteller besuchten Wohngruppe "durch unabgesprochene Aufnahmen von Kindern mit besonderen Förderbedarfen die sehr engen Kapazitäten der Sonderschulen des Kreises G. aus wirtschaftlichem Interesse heraus überfordere". Der verfassungsrechtliche Anspruch des Antragstellers auf Erziehung und Bildung und das Recht seiner Eltern auf Erziehung und Bildung ihres Kindes in der Schule wiegen auch unter Ermessensgesichtspunkten (§ 5 Abs. 2 ASchO NRW) höher als etwaige Schwierigkeiten in der nach § 5 b SchVG NRW erforderlichen Zusammenarbeit zwischen dem Antragsgegner und dem Träger der vom Antragsteller besuchten Wohngruppe sowie - selbstverständlich - auch dem Träger der vom Antragsgegner geleiteten Schule. Sie sind im Übrigen gerade auch im Interesse des Antragstellers verpflichtet, ihrer gemeinsamen Verantwortung für die Belange von Kindern, Jugendlichen und jungen Volljährigen, soweit sie schulpflichtig sind oder über ihre Schulpflicht hinaus eine Schule besuchen, durch vertrauensvolle Zusammenarbeit nachzukommen (§ 5 b Abs. 1 Sätze 1 und 2 SchVG NRW) und vorhandene Kooperationsschwierigkeiten zu beseitigen. Derartige Schwierigkeiten dürfen sich nicht zu Lasten der Schüler auswirken. Abgesehen davon ist der Kreis G. verpflichtet, Schulen für Erziehungshilfe in ausreichendem Maße zu errichten und fortzuführen, soweit der vorhandene Bedarf nicht gedeckt werden kann (§ 10 Abs. 5 SchVG). Diese Verpflichtung steht nach den schulrechtlichen Vorschriften nicht unter dem Vorbehalt ausreichender Hausmittel. Der Verweis auf andere Schulen, etwa eine Hauptschule, oder auf Möglichkeiten der integrativen Beschulung an allgemeinen weiterführenden Schulen ist dem Kreis und dem Antragsgegner bei Schülern verwehrt, bei denen - wie beim Antragsteller - die Schule für Erziehungshilfe oder eine andere Sonderschule in dem Verfahren auf Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und der Entscheidung über den Förderort als geeigneter Förderort festgelegt worden ist. Die Beschulung dieser Schüler an allgemeinen weiterführenden Schulen widerspricht den schul- und verfassungsrechtlichen Vorgaben.

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