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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 23.02.2007
Aktenzeichen: 19 B 306/07
Rechtsgebiete: SchulG NRW


Vorschriften:

SchulG NRW § 53 Abs. 2 Satz 3
1. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann im Einzelfall ein Überspringen einer milderen schulischen Ordnungsmaßnahme rechtfertigen, wenn diese zur Erreichung des verfolgten Zwecks nicht ausreicht (Bestätigung der Senatsrechtsprechung).

2. Dem Gebot der Ursachenerforschung in § 53 Abs. 2 Satz 3 SchulG NRW ist nach Lage des Einzelfalles nicht schon dadurch genügt, dass der äußere Ablauf eines schulischen Fehlverhaltens aufgeklärt wird.


Tatbestand:

Die Antragsgegnerin, Schulleiterin eines Gymnasiums, schloss die Antragstellerin wegen häufigen Fehlverhaltens, u. a. Beleidigungen von Mitschülern, mit Bescheid vom 6. 2. 2007 von der Stufenfahrt ("Skifahrt") vom 23. 2. bis 2. 3. 2007 nach Österreich aus. Den Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres hiergegen erhobenen Widerspruchs lehnte das VG ab. Das OVG gab ihrer Beschwerde statt.

Gründe:

Bei der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt das Interesse der Antragstellerin an der Aussetzung der Vollziehung, also daran, an der Stufenfahrt teilnehmen zu dürfen, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Ausschlusses von der Stufenfahrt. Bei summarischer Prüfung erweist sich der Ausschluss der Antragstellerin von der Stufenfahrt als offensichtlich rechtswidrig, weil er gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt, der von Verfassungs wegen und nach § 53 Abs. 1 Sätze 3 und 4 SchulG NRW zu beachten ist. Auf der eingeschränkten Erkenntnisgrundlage des vorliegenden Eilverfahrens ist dieser Grundsatz in zweifacher Hinsicht verletzt, nämlich einmal wegen des Vorrangs milderer Ordnungsmaßnahmen (I.) und zum anderen wegen des Vorrangs erzieherischer Einwirkungen, die die Antragsgegnerin bei ordnungsgemäßer Ursachenerforschung nach § 53 Abs. 2 Satz 3 SchulG NRW möglicherweise gleichfalls hätte in Betracht ziehen müssen (II.).

I. Gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach § 53 Abs. 1 Satz 3 SchulG NRW verstößt der Ausschluss der Antragstellerin von der Stufenfahrt, weil die Schule jedenfalls im Grundsatz der milderen Ordnungsmaßnahme den Vorzug vor der schwereren geben muss. Diesen Vorrang hat der Senat aus dem verfassungsrechtlichen Erforderlichkeitsprinzip sowie aus § 53 Abs. 3 SchulG NRW abgeleitet. Diese Vorschrift benennt die möglichen Schulordnungsmaßnahmen nicht in zufälliger Reihenfolge, sondern abgestuft nach der Schwere der Belastung für den einzelnen betroffenen Schüler. Der Senat folgert daraus indes nicht, dass die Schule stets jede Stufe der in § 53 Abs. 3 SchulG NRW aufgezählten Ordnungsmaßnahmen durchlaufen muss. Letztlich maßgebend ist vielmehr der allgemeine Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der im Einzelfall auch ein Überspringen einer milderen Ordnungsmaßnahme rechtfertigen kann. Die Entscheidung darüber hat die Schule im Rahmen der ihr obliegenden Ermessensentscheidung je nach Art und Schwere des Fehlverhaltens und der Persönlichkeit des Schülers, insbesondere seiner Einsichtsfähigkeit, zu treffen.

OVG NRW, Beschluss vom 6. 6. 2006 - 19 B 742/06 -, NWVBl. 2006, 615 f. = juris Rdnrn. 6 - 8.

Hier sind keine rechtfertigenden Gründe für das Überspringen der milderen Ordnungsmaßnahmen nach § 53 Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 SchulG NRW (schriftlicher Verweis, Überweisung in eine parallele Klasse oder vorübergehender Unterrichtsausschluss bereits zu einem früheren Zeitpunkt) ersichtlich. Aus den dem Senat vorliegenden Aktenmaterial ergibt sich nicht, dass diese milderen Maßnahmen ungeeignet waren, die Ziele des Einschreitens zu erreichen, nämlich mit dem gebotenen Nachdruck auf die Antragstellerin einzuwirken und ihre Einsicht und die Besserung ihres schulischen Verhaltens zu bewirken sowie andere Mitschüler davon abzuhalten, gleichartige Ordnungsverstöße zu begehen. Für eine weitere Sachverhaltsaufklärung ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren kein Raum.

Insbesondere die beiden letztgenannten Ordnungsmaßnahmen nach § 53 Abs. 3 Nrn. 2 und 3 SchulG NRW stellen sich in der konkreten schulischen Situation in Relation zum Ausschluss von der bevorstehenden Skifahrt für die Antragstellerin als weniger belastende Maßnahmen dar. Denn die Teilnahme an der Skifahrt hat für die Antragstellerin besonders große Bedeutung, weil sie, wie die Antragstellerin glaubhaft gemacht hat, in ihrer Schullaufbahn die einzige Schulveranstaltung dieser Art, zumal im Stufenverband, ist; diese gewichtige Bedeutung, die für die Antragstellerin die Teilnahme an der Stufenfahrt im Kreise ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler hat, hat die Antragsgegnerin nicht in Abrede gestellt. Insbesondere der vorübergehende Ausschluss vom Unterricht hat nicht wegen des Unterrichtsausfalls für die Antragstellerin belastendere Auswirkungen, weil er zur Verhinderung von Lernrückständen mit Aufgabenstellungen und (engmaschig) kontrollierter häuslicher Arbeit verknüpft werden kann.

Nach Aktenlage ist nicht ersichtlich, dass die milderen Ordnungsmaßnahmen zur Erreichung der mit dem Ausschluss von der Stufenfahrt verfolgten Ziele nicht in gleicher Weise geeignet waren. Das gilt insbesondere für einen auf einen früheren Zeitpunkt bezogenen Unterrichtsausschluss, verbunden etwa mit der Auflage zur ideellen Wiedergutmachung, sich schriftlich bei der betroffenen Mitschülerin (und deren Eltern) zu entschuldigen. Der Senat kann nicht feststellen, dass eine derartige Maßnahme nicht ausgereicht hätte, der Antragstellerin die Rücksichtslosigkeit und Unangemessenheit ihrer beleidigenden Äußerung vor Augen zu führen und ihre Einsicht zu fördern, dass "man so etwas nicht tut", dass also eine Beleidigung der in Rede stehenden Art für die Mitschülerin sehr verletzend ist und von der Schule nicht hingenommen werden kann. Das zeigen insbesondere die von ihr gewählten Formulierungen in den schriftlichen Entschuldigungen, die sie am 6. Februar 2007 der beleidigten Mitschülerin und deren Eltern sowie der Antragsgegnerin persönlich übergeben hat, mögen jene auch von dem Druck des drohenden Ausschlusses von der Stufenfahrt beeinflusst gewesen sein.

Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin lässt sich der angefochtene Ausschluss von der Stufenfahrt schließlich nicht damit rechtfertigen, den Aufsicht führenden Lehrkräften könne die Verantwortung für die Teilnahme der Antragstellerin nicht zugemutet werden. An einer Schulveranstaltung der in Rede stehenden Art, die Pflichtveranstaltung ist, muss und darf jeder Schüler aus dem für die Veranstaltung bestimmten Kreis der teilnahmeberechtigten Schüler teilnehmen, wenn er nicht von der Teilnahme befreit oder durch eine Ordnungsmaßnahme ausgeschlossen ist. Die Verantwortung für alle teilnehmenden Schüler zu übernehmen ist Aufgabe der Schule und in diesem Rahmen Dienstpflicht der Aufsicht führenden Lehrkräfte. Disziplinlosigkeiten von Schülern auf einer Klassen- oder Stufenfahrt ist mit den zu Gebote stehenden verhältnismäßigen erzieherischen Maßnahmen und/oder Ordnungsmaßnahmen (etwa auch des Ausschlusses von der weiteren Teilnahme) zu begegnen. Abgesehen davon besteht nach Aktenlage kein hinreichender tatsächlicher Anlass zu der Annahme, die Teilnahme der Antragstellerin an der Stufenfahrt sei den aufsichtsführenden Lehrern unzumutbar.

II. Zum Anderen verstößt der Ausschluss von der Stufenfahrt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch wegen des Vorrangs erzieherischer Einwirkungen nach § 53 Abs. 1 Satz 4 SchulG NRW. Nach dieser Vorschrift, die eine Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist, sind Ordnungsmaßnahmen nur zulässig, wenn erzieherische Maßnahmen nicht ausreichen.

Der Senat kann auf der Grundlage der ihm derzeit vorliegenden Erkenntnisse nicht feststellen, dass die Antragsgegnerin alle nach Lage der Dinge in Betracht kommenden erzieherischen Maßnahmen ausgeschöpft hat, um dem besonders häufigen Fehlverhalten der Antragstellerin zu begegnen. Danach hat sich die Antragsgegnerin hier zunächst mit der Wiederholung von aus sich heraus folgenlosen Klassenbucheintragungen begnügt. Diese ersetzen nicht eine erzieherische Einwirkung, mit der die Schule anlassbezogen und mit hinreichendem Nachdruck sowie mit tatsächlichen Konsequenzen reagiert. Weitere erzieherische Einwirkungen im Sinne von § 53 Abs. 2 SchulG NRW wie erzieherische Gespräche, schriftliche Missbilligung konkreten Fehlverhaltens, Nacharbeit unter Aufsicht oder Beauftragung mit zur Verdeutlichung des Fehlverhaltens geeigneten Aufgaben sind nicht ersichtlich.

Nach Aktenlage kann nicht festgestellt werden, dass derartige oder andere (weitergehende) erzieherische Maßnahmen nicht ausreichten, nachhaltig erzieherisch auf die Antragstellerin einzuwirken. Die Beantwortung dieser Frage setzt nicht nur die Aufklärung des schulischen Fehlverhaltens im Einzelfall voraus. Erforderlich ist außerdem, den Ursachen des Fehlverhaltens nachzugehen. Erst bei Kenntnis der Ursachen kann verlässlich beurteilt werden, ob und in welcher Weise dem schulischen Fehlverhalten entgegenzutreten ist. Dieses Gebot der Ursachenerforschung enthält auch § 53 Abs. 2 Satz 3 SchulG NRW. Nach dieser Vorschrift soll bei besonders häufigem Fehlverhalten einer Schülerin oder eines Schülers den Ursachen für das Fehlverhalten in besonderer Weise nachgegangen werden.

Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind im vorliegenden Fall jedenfalls auf der Grundlage des von der Antragsgegnerin mitgeteilten Sachverhalts erfüllt. Sie geht von einem besonders häufigen Fehlverhalten der Antragstellerin aus, das in ihren beleidigenden Äußerungen gegenüber der Mitschülerin S. zu Beginn der Deutschstunde am 23. 1. 2007 seinen Höhepunkt gefunden hat. Die Antragsgegnerin führt an, die Antragstellerin habe sich über einen langen Zeitraum und bei verschiedenen Gelegenheiten unsozial verhalten und verweist hierzu auf das Schülerstammblatt und die dazugehörigen Anlagen. Daraus ergeben sich 24 Klassenbucheintragungen im laufenden Schuljahr bis Anfang Februar 2007 wegen Verspätungen und beleidigender Äußerungen im Unterricht. Die Antragstellerin hat die Beleidigungen vom 23. 1. 2007 inzwischen dem Grunde nach und auch in Bezug auf ihr ehrverletzendes Gewicht gegenüber der Mitschülerin eingeräumt.

Da keine Gründe für ein Abweichen von § 53 Abs. 2 Satz 3 SchulG NRW ersichtlich sind ("soll"), war die Antragsgegnerin hiernach verpflichtet, den Ursachen für das Fehlverhalten der Antragstellerin in besonderer Weise nachzugehen. Die Erfüllung dieser Verpflichtung kann der Senat nach Aktenlage nicht feststellen. Insbesondere hinsichtlich der Beleidigungen vom 23. 1. 2007 ist den Akten lediglich zu entnehmen, dass die Antragsgegnerin in der persönlichen Anhörung der Antragstellerin und ihrer Mutter vor der Teilkonferenz am 5. 2. 2007 den "Tathergang" und die "Täterschaft" der Antragstellerin klären wollte. Nur diese Fragen gehen jedenfalls aus dem darüber gefertigten Aktenvermerk als Gesprächsgegenstand hervor. Nicht ersichtlich ist daraus hingegen, ob und mit welchem Ergebnis die Antragsgegnerin auch der Frage nachgegangen ist, warum die Antragstellerin die erwähnten wiederholten Pflichtverletzungen begangen hat.

Damit hat die Antragsgegnerin dem Gebot der Ursachenerforschung in § 53 Abs. 2 Satz 3 SchulG NRW nicht genügt. Danach ist nach Aufklärung einzelner oder aller Vorfälle, aus denen sich die Kette besonders häufigen Fehlverhaltens eines Schüler zusammensetzt, auch den Ursachen dieser Fehlverhaltenskette in besonderer Weise nachzugehen. Dies kann durch Gespräche mit dem Schüler selbst, den ihn unterrichtenden Lehrern, seinen Eltern oder auf andere Weise geschehen. Erst aus dem Ergebnis von Gesprächen mit dieser Fragestellung kann die Schule ersehen, ob und gegebenenfalls welche weiteren erzieherischen Maßnahmen geeignet erscheinen, dem wiederholten Fehlverhalten zu begegnen.

Der Senat weist klarstellend darauf hin, dass Ergebnis einer dem § 53 Abs. 2 Satz 3 SchulG NRW gerecht werdenden Ursachenerforschung durchaus auch sein kann, dass die Schule im Rahmen ihres pädagogischen Beurteilungsspielraums weitere erzieherische Maßnahmen als nicht ausreichend einstuft und sie deshalb ermessensgerecht zu einer Ordnungsmaßnahme greift (etwa aus generalpräventiven Gründen). Eine solche pädagogische Bewertung kann die Schule jedoch erst dann vornehmen, wenn sie die Ursachen der Fehlverhaltenskette und geeignete erzieherische Maßnahmen ermittelt hat. Etwas Anderes kann gelten, wenn zu häufigem Fehlverhalten ein schwerwiegender Ordnungsverstoß hinzutritt, der auch isoliert betrachtet eine Ordnungsmaßnahme rechtfertigen würde.

Mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen Nr. 1 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 6. 2. 2007 sind die Maßnahmen unter 2. und 4. des Bescheides - Nr. 3 (schriftliche Entschuldigung) dürfte erfüllt sein - für das vorliegende Aussetzungsverfahren gegenstandslos, weil die Maßnahmen nur für den Fall gelten, dass die Antragstellerin vollziehbar von der Teilnahme an der Stufenfahrt ausgeschlossen ist. Es bedarf daher keiner weiteren Prüfung, ob Nr. 4 des Bescheides (Sozialstunden bei einer Kleiderkammer) den erzieherischen Einwirkungen im Sinne von § 53 Abs. 2 SchulG NRW zugeordnet werden kann und nicht den Bereich zulässiger Einwirkungen in der Schule überschreitet oder die Antragstellerin unzumutbar belastet hätte. Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die Auferlegung von Sozialstunden in einer außerschulischen Einrichtung auch unter versicherungsrechtlichen Gesichtspunkten einer (vorgehenden) Klärung durch die Schule bedarf.

Ende der Entscheidung

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