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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 06.06.2006
Aktenzeichen: 19 B 742/06
Rechtsgebiete: SchulG NRW


Vorschriften:

SchulG NRW § 53
Die Entlassung eines Schülers von der Schule setzt nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Regelfall die vorherige Androhung der Entlassung voraus, auch wenn dies im Schulgesetz NRW - anders als in der (alten) Allgemeinen Schulordnung - nicht ausdrücklich bestimmt ist.
Tatbestand:

Der Sohn N. der Antragstellerin wurde von der Realschule mit sofortiger Wirkung entlassen, nachdem er an zwei Tagen "China-Böller" bzw. "China-Kracher" mit Zündmechanismus in der Schule angebracht hatte. Das VG gab dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs statt. Das OVG wies die Beschwerde der Schule zurück.

Gründe:

Das VG hat dem Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO im Ergebnis zu Recht stattgegeben. Es hat unter Zurückweisung der eher verharmlosenden Darstellung der Antragstellerin mit der gebotenen Deutlichkeit zutreffend ausgeführt, dass N. durch das Anbringen von jeweils mit einem Zündmechanismus versehenen "China-Böllern" bzw. "China-Krachern" in der Schule am 16. und 17. 3. 2006 (und das Belassen der "China-Kracher" mit funktionsfähigem Zündmechanismus an der Flurtür bis 20. 3. 2006) im Sinne von § 53 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW ein schweres und wiederholtes Fehlverhalten begangen hat, durch welches er die Erfüllung der Aufgaben der Schule und die Rechte anderer ernstlich gefährdet oder verletzt hat; es hat hierbei die besondere Gefährlichkeit des von N. in Gang gesetzten Geschehensablaufs für die Gesundheit der am Schulleben Beteiligten sowie mit Blick auf die eindringliche Belehrung der Klasse über die möglichen Verletzungsfolgen durch den Schulleiter und den Klassenlehrer in der ersten Unterrichtsstunde am 17. 3. 2006 seine nicht hinnehmbare Unbelehrbarkeit berücksichtigt. Zutreffend ist auch der Ansatz des VG, dass sich die sofortige Entlassung von der Schule ohne vorherige Androhung der Entlassung als unverhältnismäßig erweist. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine andere Beurteilung.

In § 53 SchulG NRW ist zwar nicht mehr, wie es bis 31. 7. 2005 in § 19 Abs. 1 der Allgemeinen Schulordnung (AschO) geregelt war, ausdrücklich bestimmt, dass der Entlassung von der Schule in der Regel die Androhung der Entlassung vorausgehen muss. § 19 Abs. 1 ASchO war eine Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. In der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Senats war geklärt, dass die sofortige Entlassung von der Schule ohne vorherige Androhung der Entlassung nur in begründeten Ausnahmefällen verhältnismäßig war; das war nur dann der Fall, wenn zu der in § 19 Abs. 4 ASchO (jetzt § 53 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW) für beide Ordnungsmaßnahmen gleichermaßen normierten Voraussetzung des schweren oder wiederholten Fehlverhaltens, durch welches die Erfüllung der Aufgaben der Schule oder die Rechte anderer ernstlich gefährdet oder verletzt werden, weitere erschwerende Umstände wie insbesondere bei gewalttätigem Handeln oder schwerem kriminellen Tun hinzu kamen.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 28. 2. 2003 - 19 B 223/03 -, NWVBl 2003, 393, und 26. 1. 2000 - 19 B 2087/99 -, NWVBl 2001, 36.

Die durch § 53 SchulG NRW durch das Weglassen einer § 19 Abs. 1 ASchO entsprechenden ausdrücklichen Bestimmung eingetretene (formelle) Rechtsänderung hat aber nicht zur Folge, dass die Entlassung von der Schule nunmehr unter "erleichterten" Voraussetzungen angeordnet werden kann. Sie muss, wie schon während der Geltung des § 19 ASchO, dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, wie es zudem in § 53 Abs. 1 Satz 3 SchulG NRW bestimmt ist. Dies bedeutet, dass eine Schulordnungsmaßnahme 1. geeignet und 2. erforderlich sein muss, um den erstrebten Zweck zu erreichen, und ferner 3. nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache (der Pflichtverletzung bzw. des Fehlverhaltens des Schülers) stehen und den betroffenen Schüler nicht übermäßig oder unzumutbar belasten darf.

Vgl. zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit allgemein nur BVerfG, Beschluss vom 10. 4. 1997 - 2 BvL 45/92 -, BVerfGE 96, 10, 21.

In § 53 Abs. 3 SchulG NRW sind die schulischen Ordnungsmaßnahmen, beginnend mit dem schriftlichen Verweis und endend mit der Verweisung von allen öffentlichen Schulen des Landes, abgestuft in der Reihenfolge ihrer Belastung für die Schüler aufgeführt. Aus dieser gesetzlichen Ausgestaltung und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgt, dass dem betroffenen Schüler gegenüber die am wenigsten in seine Rechte eingreifende Ordnungsmaßnahme anzuwenden ist, die noch geeignet, aber auch erforderlich ist, um die in § 53 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW normierten Zwecke von Ordnungsmaßnahmen zu erreichen, nämlich die geordnete Unterrichts- und Erziehungsarbeit der Schule und den Schutz von Personen und Sachen zu gewährleisten. Hieraus folgt umgekehrt aber auch, dass die Schule im Rahmen der ihr obliegenden Ermessensentscheidung je nach Art und Schwere des Fehlverhaltens und der Persönlichkeit des Schülers, insbesondere seiner Einsichtsfähigkeit, mildere Ordnungsmaßnahmen gleichsam überspringen und unmittelbar zu einer den Schüler stärker belastenden Ordnungsmaßnahme greifen darf. Insoweit, also in der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, ist an der oben angeführten Senatsrechtsprechung festzuhalten.

Gemessen daran hat das VG in der Sache zu Recht entschieden, dass die sofortige Entlassung des N. von der Schule nicht erforderlich, vielmehr die Androhung der Entlassung ausreichend ist, um die mit einer Schulordnungsmaßnahme zu verfolgenden Zwecke zu erreichen. Aus dem Beschwerdevorbringen der Antragsgegnerin ergibt sich dem gegenüber nicht, dass die sofortige Entlassung des N. "das einzige sichere Mittel" ist, um weiteres erhebliches Fehlverhalten des Schülers auszuschließen; dies hat die Antragsgegnerin mit der Beschwerde zwar behauptet, aber nicht auf tragfähige Gründe gestützt. Das VG hat einen hinreichenden Anhalt für seine Prognose, dass N. schon durch die Androhung der Entlassung von der Schule nachhaltig zu beeinflussen gewesen wäre und schon dadurch der Wiederholungsgefahr erneuten schweren Fehlverhaltens wirksam begegnet werden könne, neben den Folgen für seine Schullaufbahn darin gesehen, dass ihn, wie nachvollziehbar vorgetragen worden sei, die polizeilichen Ermittlungen, insbesondere die erkennungsdienstliche Behandlung, beeindruckt haben. Auch die Antragsgegnerin hat in der Beschwerdebegründung eine Wiederholungsgefahr nicht aufgezeigt, vielmehr selbst angeführt, es möge unwahrscheinlich sein, dass N. "sein pyromanisches Handeln nochmals wiederholt hätte".

Die weitere Erwägung der Antragsgegnerin, zum Zeitpunkt der Verhängung der Maßnahme (zunächst gemeint der vom Schulleiter am 23. 3. 2006 angeordnete Ausschluss vom Unterricht) habe noch keine Erklärung der Einsicht und kein Schuldbekenntnis des N. vorgelegen, trifft in dieser Allgemeinheit bezogen auf die in der Lehrerkonferenz am 29. 3. 2006 beschlossene sofortige Entlassung von der Schule nicht zu. Hier hat N. sein Fehlverhalten bedauert und zum Ausdruck gebracht, die Gefährlichkeit seines Handelns für andere Personen sei ihm nicht bewusst gewesen, sonst hätte er es nicht getan. Letztere Einlassung mag zwar angesichts des Alters des zur Tatzeit 17-jährigen Schülers und seiner Erfahrung im Bau elektronischer Schaltungen unglaubhaft sein, ändert aber nichts daran, dass er derzeit das Unrecht seines Fehlverhaltens einsieht und deshalb nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass es der Entlassung von der Schule ohne vorherige Androhung bedarf, um nachhaltig und erfolgreich auf ihn einzuwirken. Dass diese - späte - Einsicht nicht ernst gemeint sei, macht auch die Antragsgegnerin nicht hinreichend geltend. Aus dem Hinweis, N. habe, obschon seine Klasse am 17. 3. 2006 in der ersten Unterrichtstunde durch den Schulleiter und den Klassenlehrer über die Gefährlichkeit des Handelns und die möglichen Verletzungsfolgen eindringlich belehrt worden sei, danach noch den "zweiten Sprengsatz" angebracht, erschließt sich die mangelnde Ernsthaftigkeit der geäußerten Einsicht und des Bedauerns nicht. Das Verhalten des N. am 17. 3. 2006 lässt zwar, bezogen auf diesen Zeitpunkt, auf seine Unbelehrbarkeit schließen. Nach der nachvollziehbaren Einlassung seines Vaters in der Lehrerkonferenz kann aber, was für die Prognose ausschlaggebend ist, davon ausgegangen werden, dass N. danach, nämlich durch die polizeilichen Ermittlungen und insbesondere die erkennungsdienstliche Behandlung, nachhaltig beeindruckt worden ist.

Hinzu kommt, dass N. bisher nicht negativ aufgefallen ist. Dies ist unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten ein wesentlicher Umstand. Ihn hat sein Klassenlehrer in der Lehrerkonferenz auch angeführt. Nach Aktenlage hat er aber bei der Beratung der Lehrerkonferenz keine oder nur eine Rolle gespielt, die dem Gewicht dieses Aspekts nicht hinreichend gerecht wird.

Auch mit dem bloßen Hinweis der Antragsgegnerin auf den mit der Maßnahme verbundenen "Abschreckungseffekt", der andere Schüler von einer Nachahmung abhalten solle, wird nicht aufgezeigt, dass allein die sofortige Entlassung des N. von der Schule erforderlich ist, um mit generalpräventiver Zielrichtung eine geordnete Unterrichts- und Erziehungsarbeit der Schule und den Schutz von Personen und Sachen zu gewährleisten, und die Androhung der Entlassung nicht ausreichend ist, um andere Schüler von vergleichbarem schwerem Fehlverhalten abzuhalten. Dem steht schon entgegen, dass die in Rede stehenden Vorfälle einzigartig sind. Dass auch andere Schüler versucht sein könnten, in ähnlicher Weise zu handeln, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Die Androhung der Entlassung von der Schule ist überdies in der abgestuften Reihenfolge der Schulordnungsmaßnahmen nach § 53 Abs. 3 SchulG NRW schon eine gravierende Ordnungsmaßnahme, wie die auch für sie in § 53 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW normierte besondere Voraussetzung zeigt, und wird im Allgemeinen auch als solche empfunden. Die Antragsgegnerin hat keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür dargetan, dass mit der Androhung der Entlassung von der Schule (anstelle der sofortigen Entlassung) dem Fehlverhalten des N. nicht entschieden genug entgegengetreten würde, um bei anderen Schülern die Bereitschaft zu vergleichbarem Fehlverhalten nicht aufkommen zu lassen. Das ungewöhnliche, aber eben auch gefährliche Fehlverhalten des N. rechtfertigt eine deutliche und mit einer ernsten Warnung und Signalwirkung für die schulische Öffentlichkeit verbundene Reaktion der Schule. Nicht nur das Fehlverhalten des N., vielmehr auch die polizeilichen Ermittlungen sind, wie die Pressemitteilung der Kreispolizeibehörde vom 21. 3. 2006 mit der Überschrift "Elektronikfreak zündete Feuerwerkskracher in der Schule" zeigt, in der schulischen Öffentlichkeit (und weit darüber hinaus) bekannt geworden. Angesichts dessen kann davon ausgegangen werden, dass auch eine - anstelle der sofortigen Entlassung verhängte - Androhung der Entlassung von der Schule hinreichend publik geworden wäre. Es kann auch angenommen werden, dass diese Sanktion verbunden mit dem bekannten Einschreiten der Polizei einen nachhaltigen Eindruck unter den Mitschülern hinterlassen, einer Nachahmung entgegengewirkt und ein deutliches Zeichen gesetzt hätte, dass die Schule ein solches Fehlverhalten zum Schutz von Personen und Sachen und im Interesse einer geordneten Unterrichts- und Erziehungsarbeit nicht hinnimmt.

Ende der Entscheidung

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