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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 07.01.2004
Aktenzeichen: 22 B 1288/03
Rechtsgebiete: BlmSchG, BauGB


Vorschriften:

BlmSchG § 5 Abs. 1 Nr. 1
BlmSchG § 10 BauGB § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3
1. Bei der im Rahmen der §§ 80, 80 a VwGO erforderlichen Interessenabwägung begründen die verfahrensrechtlichen Vorschriften des § 10 BImSchG allein keine Rechtsposition des Nachbarn gegen die baurechtliche Genehmigung einer Windenergieanlage, weil ein Verstoß gegen Verfahrensrecht für sich gesehen die Kassation des verfahrensfehlerhaften Verwaltungsaktes nicht nach sich zieht.

§ 10 BImSchG gehört nicht zu den Verfahrensvorschriften, bei denen ausnahmsweise Nachbarrechtsschutz allein auf Grund der Möglichkeit zu gewähren ist, dass infolge des verkürzten Verfahrens der erforderliche Nachbarschutz nicht sichergestellt ist.

2. Die Vorschriften über das Erfordernis einer Umweltverträglichkeitsprüfung begründen kein nachbarliches Abwehrrecht; ein Abwehrrecht des Nachbarn gegenüber einer im Außenbereich gelegenen, baurechtlich genehmigten Windenergieanlage ist regelmäßig nur gegeben, wenn ihre Errichtung und/oder ihr Betrieb gegen das - auch - in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB verankerte Gebot der Rücksichtnahme oder gegen die Schutzvorschrift des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG verstößt.

3. Auch wenn für die Lärmimmissionsprognose von Windenergieanlagen der Schallleistungspegel bei Nennleistung maßgeblich ist (im Anschluss an OVG NRW, Urteile vom 18. 11. 2002 - 7 A 2127/00 und 7 A 2139/00 -), schließt dies bei summarischer Prüfung nicht die Befugnis aus, die bei 95 % der Nennleistung gemessene Schallemission in die Prognose einzustellen.

4. Die DIN ISO 9613-2, die ein Verfahren zur Berechnung der Dämpfung des Schalls bei der Ausbreitung im Freien festlegt, mit dem die Pegel von Geräuschimmissionen in einem Abstand von verschiedenen Schallquellen vorausberechnet werden können, hat gerade die günstigere Schallausbreitung zur Nachtzeit im Blick.


Tatbestand:

Der Antragsteller begehrte in einem Eilververfahren vorläufigen Rechtschutz gegen die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung einer Windenergieanlage an die Beigeladene. Die gegen den ablehnenden Beschluss des VG gerichtete Beschwerde blieb ohne Erfolg.

Gründe:

Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, gibt keinen Anlass, die Interessenabwägung des VG in Frage zu stellen, die davon ausgeht, dass die Widersprüche des Antragstellers voraussichtlich keinen Erfolg haben werden, weil die dem Beigeladenen erteilten Baugenehmigungen vom keine Nachbarrechte des Antragstellers verletzen und deshalb sein Interesse hinter dem des Beigeladenen, die ihm erteilte Baugenehmigung ohne Verzögerung auszunutzen, zurücktreten müsse.

Die vom Antragsteller in den Vordergrund gerückten Bedenken werden voraussichtlich nicht zum Erfolg einer Anfechtungsklage gegen die erteilten Baugenehmigungen führen. Selbst wenn für das Vorhaben immissionsschutzrechtliche Genehmigungen nach §§ 4, 10 BImSchG erforderlich und die an deren Stelle erlassenen Baugenehmigungen aus verfahrensrechtlichen Gründen rechtswidrig sein sollten (vgl. etwa § 13 BImSchG), besagte dies nicht, dass diese Baugenehmigungen auf die Klage des Antragstellers hin aufzuheben wären. Der Erfolg einer Anfechtungsklage hängt nicht allein davon ab, dass der angegriffene Verwaltungsakt rechtswidrig ist. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO verlangt außerdem, dass der jeweilige Kläger durch den rechtswidrigen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt ist. Am Fehlen einer verletzten individuellen Rechtsposition wird die Anfechtungsklage aller Voraussicht nach scheitern.

Eine zum Erfolg der Anfechtungsklage führende Rechtsposition begründen nicht die verfahrensrechtlichen Vorschriften des § 10 BImSchG, über die sich der Antragsgegner hinweggesetzt hätte, wenn nach § 4 Abs. 1 BImSchG i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der 4. BImSchV im Verfahren des § 10 BImSchG zu entscheiden wäre. Es ist zwar anerkannt, dass der Gesetzgeber mit verfahrensrechtlichen Vorschriften vorgezogenen Grundrechtsschutz bezwecken kann und diesen Vorschriften deshalb eine drittschützende Wirkung zukommt. Das BVerwG gesteht gerade § 10 Abs. 2 - 4, 6, 8 und 9 BImSchG im Gegensatz zum vereinfachten Genehmigungsverfahren eine solche Bedeutung zu.

Urt. vom 5. 10. 1990 - 7 C 55 und 56.89 -, BVerwGE 85, 368, 374.

Dies besagt jedoch nicht, dass ein Verstoß gegen Verfahrensrecht für sich gesehen die Kassation des verfahrensfehlerhaften Verwaltungsaktes nach sich zieht, wenn nur die Möglichkeit besteht, dass infolge des verkürzten Verfahrens der erforderliche Nachbarschutz nicht sichergestellt ist. Dies ist von der Rechtsprechung lediglich für das Atomrecht und für Planungsentscheidungen sowie im Sonderfall eines verletzten kommunalen Beteiligungsrechtes anerkannt worden. Im Übrigen bleibt es aber dabei, dass ein Verstoß gegen drittschützendes Verfahrensrecht auf zwei Ebenen abzuhandeln ist: Ergibt sich aus dem Vorbringen des Klägers, dass sich der von ihm gerügte Verfahrensfehler auf seine materiellrechtliche Position ausgewirkt haben kann, ist er klagebefugt. Der Drittbetroffene hat im allgemeinen aber keinen Anspruch auf Durchführung eines Genehmigungs- oder Planfeststellungsverfahrens. Er ist durch Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche hinreichend geschützt, die allerdings nur durchgreifen, soweit der Drittbetroffene durch das Vorhaben in seinen materiellen Rechten verletzt ist.

BVerwG, a.a.O., S. 375, 377.

Bei einer im vorliegenden Verfahren nur möglichen summarischen Überprüfung ist für eine Verletzung materieller Rechte des Antragstellers nichts ersichtlich. Dies gilt zunächst für die Beanstandung des Antragstellers, der Antragsgegner habe zu Unrecht von einer Umweltverträglichkeitsprüfung abgesehen. Ob eine Umweltverträglichkeitsprüfung hätte durchgeführt werden müssen, wird im Hauptsacheverfahren voraussichtlich dahingestellt bleiben können. Die Umweltverträglichkeitsprüfung ist nach § 2 Abs. 1 Satz 1 UVPG lediglich ein unselbstständiger Teil des verwaltungsbehördlichen Verfahrens, das der Sachentscheidung über die Zulässigkeit des Vorhabens dient, ohne diese um materiellrechtliche Vorgaben anzureichern.

BVerwG, Beschluss vom 16. 11. 1998 - 6 B 110.98 -, NVwZ-RR 1999, 429 ff.

Daran ändert nichts, dass gerade unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 c der 4. BImSchV das Erfordernis einer Umweltverträglichkeitsprüfung ein Genehmigungsverfahren nach § 10 BImSchG nach sich zieht. Aus einer Umweltverträglichkeitsprüfung wäre im Zusammenhang mit einem durch § 10 BImSchG vermittelten Drittschutz nichts für die individuelle Rechtsposition des Antragstellers gewonnen. Es wird vielmehr dabei bleiben, dass ein Abwehrrecht des Antragstellers gegenüber den beiden baurechtlich genehmigten Windenergieanlagen, deren Standort unstreitig im Außenbereich liegt, nur gegeben ist, wenn die Errichtung und/oder der Betrieb der umstrittenen Windenergieanlagen gegen das - auch - in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB verankerte Gebot der Rücksichtnahme oder gegen die Schutzvorschrift des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG verstößt.

Vgl. zum Rücksichtnahmegebot in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB: BVerwG, Beschluss vom 28. 7. 1999 - 4 B 38.99 -, BRS 62 Nr. 189; zur Identität des Schutzniveaus des Rücksichtnahmegebots einerseits und der Betreiberpflicht des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG andererseits BVerwG, Beschluss vom 2. 2. 2000 - 4 B 87.99 -, NVwZ 2000, 679.

Der Antragsteller macht geltend, von den Anlagen würden schädliche Umwelteinwirkungen durch Geräusche ausgehen. Nach der - unwidersprochen gebliebenen - Annahme des VG liegt das Wohngrundstück des Antragstellers in einem Dorfgebiet im Sinne des § 5 BauNVO. Gemäß Nr. 6.1 TA Lärm betragen die Richtwerte für Immissionsorte außerhalb von Gebäuden in Dorfgebieten tags 60 dB(A) und nachts 45 dB(A). In dem Schallgutachten der Firma T. vom 16. 11. 2001 wurde für die Ortslage L., der das Wohnhaus des Antragstellers zuzuordnen ist, der schallkritischste Punkt bestimmt und für diesen die durch die vier Windkraftanlagen verursachte größte Schallbelastung mit 43,6 dB(A) ermittelt. Dieser Wert wurde berechnet durch Rückgriff auf den messtechnisch ermittelten Schallleistungspegel einer bereits in Betrieb genommenen Anlage des selben Anlagentyps.

Der Einwand des Antragstellers gegen die Vermessung der Referenzanlage bei einer Windgeschwindigkeit von 8,8 m/s in 10 m Höhe, bei der die Anlage 95 % ihrer Nennleistung erreicht, greift nicht durch. Zu Recht weist der Antragsteller zwar darauf hin, dass für die Prognose der Schallleistungspegel bei Nennleistung maßgeblich ist, wenn der Betrieb der Anlage nicht von vornherein auf eine geringere Leistung beschränkt werden soll.

Vgl. OVG NRW, Urteile vom 18. 11. 2002 - 7 A 2127/00 und 7 A 2139/00 -.

Dies besagt aber nicht, dass die Prognose nur durch Messung an der Referenzanlage bei Nennleistungsbetrieb angestellt werden kann. Nach den Einschätzungen von Sachverständigen ergeben sich reproduzierbare und repräsentative Emissionswerte, die als Eingangsdaten für Schallimmissionsprognosen geeignet sind, bei der Vermessung von Windenergieanlagen nach dem Verfahren der DIN EN 61400-11 "Windenergieanlagen, Teil 11: Schallmessverfahren" in Verbindung mit Konkretisierungen, die in den "Technischen Richtlinien für Windenergieanlagen, Teil 1: Bestimmung der Schallemissionswerte", herausgegeben von der Fördergesellschaft Windenergie e.V., festgelegt sind. Die Anwendung dieser Regelwerke hat unter anderem der Länderausschuss für Immissionsschutz auf seiner 99. Sitzung im Mai 2000 empfohlen. Eine entsprechende Festlegung enthält der Windenergie-Erlass des Landes Nordrhein-Westfalen vom 3. 5. 2002. Dieses Verfahren ermöglicht die Ermittlung von akustischen Daten im Bereich von Windgeschwindigkeiten zwischen 6 m/s und 10 m/s in 10 m Höhe über Grund. Die nach dieser Richtlinie ermittelten Daten gelten nach dem aktuellen Erkenntnisstand als hinreichende Näherung für die erzeugten Geräuschimmissionen im Nennleistungsbereich, bei dem die höchsten Beurteilungspegel im Sinne der TA Lärm auftreten.

Vgl. Landesumweltamt, Materialien Nr. 63, Windenergieanlagen und Immissionsschutz, Seite 8 und 13.

Die Festlegung der Vermessung der Anlage bei (nur) 95 % der Nennleistung steht nicht in Widerspruch zu Nr. 1.2 Buchst. a) des Anhangs zur TA Lärm, nach der zur Bestimmung der durch die Anlage verursachten zusätzlichen Schallimmissionen diejenige bestimmungsgemäße Betriebsart zu Grunde zu legen ist, die in ihrem Einwirkungsbereich die höchsten Beurteilungspegel erzeugt. Denn als hinreichende Näherung für die im Nennleistungsbereich erzeugten Geräuschemissionen sind die bei nur 95 % der Nennleistung gemessenen Schallemissionen mit denen im Nennleistungsbetrieb vergleichbar. Bei der Erstellung einer Lärmprognose können die bekannten geringfügigen Abweichungen spätestens bei den im Rahmen der Prognose "auf der sicheren Seite" vorzunehmenden Sicherheitszuschlägen berücksichtigt werden. Gegen die Vermessung der Referenzanlage(n) bei nur 95 % der Nennleistung bestehen daher jedenfalls im vorliegenden vorläufigen Rechtsschutzverfahren keine durchgreifenden Bedenken.

Soweit der Antragsteller vorträgt, auch nach Erreichen der elektrischen Nennleistung steige die Schallemission mit zunehmender Windgeschwindigkeit weiter an, hat der Antragsteller dies jedenfalls für die vom Beigeladenen projektierte Windenergieanlage nicht hinreichend dargelegt. Die dazu vorgelegte Unterlage (Anlage AA3) stützt die Auffassung des Antragstellers nicht. Es handelt sich um eine Darstellung des Landesumweltamtes NRW ("Folie 19"), in der ein "untypisches, aber serienmäßiges Verhalten" einer pitch-gesteuerten Anlage beschrieben wird, bei dem nach Erreichen der Nennleistung die Drehzahl bei hohen Windgeschwindigkeiten weiter erhöht wird ("Der Schalldruckpegel steigt sprunghaft an."). Für den Aussetzungsantrag ist mit dieser Folie nichts gewonnen, weil sie einen untypischen Ausnahmefall betrifft, der nach der weiteren Eintragung bei der Planung berücksichtigt werden muss und damit offensichtlich beherrschbar ist, zumal die Erhöhung der Drehzahl, die bei hohen Windgeschwindigkeiten auch nach Erreichen der Nennleistung zu einem sprunghaften Anstieg der Schallpegel führen soll, durch die Pitch-Steuerung gerade unterbunden werden soll. Davon abgesehen deutet eine handschriftliche Eintragung auf der Folie darauf hin, dass es sich ohnehin um die Anlage eines anderen Herstellers handelt. Außerdem ändert der vom Landesumweltamt NRW in der Folie 19 erörterte Ausnahmefall nichts daran, dass diese Behörde in den bereits zitierten Materialien Nr. 63 die Pitch-Steuerung als anerkannte Technik der Geräuschbegrenzung beschreibt (a.a.O. S. 8 f.). Die Behauptung des Antragstellers, Windenergieanlagen seien in der Nachtzeit bei gleicher Schallemission lauter als zur Tageszeit, wie sich aus der Anlage, Folie 26 ergebe, lässt ebenfalls keine Überschreitung des Nachtwerts von 45 dB(A) am Wohnhaus des Antragstellers erwarten. Zunächst einmal ist kein Grund dafür ersichtlich, dass die Emissionen einer Windenergieanlage bei gleichen meteorologischen Bedingungen während der Nacht größer sind als tagsüber. Die gemessenen Schallemissionswerte der Referenzanlage können daher der Berechnung der Schallprognose unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Erhebung zugrunde gelegt werden. Diese Schallprognose beruht auf der DIN ISO 9613-2, die ein Verfahren zur Berechnung der Dämpfung des Schalls bei der Ausbreitung im Freien festlegt, mit dem die Pegel von Geräuschimmissionen in einem Abstand von verschiedenen Schallquellen vorausberechnet werden können. Dabei wird von schallausbreitungsgünstigen Witterungsbedingungen in Mitwindrichtung oder - gleichwertig - bei gut entwickelter, leichter Bodeninversion ausgegangen, wie sie üblicherweise nachts auftritt (vgl. Abschnitt 1 "Anwendungsbereich" der DIN ISO 9613-2). Damit hat diese Normierung gerade die günstigere Schallausbreitung zur Nachtzeit im Blick.

Aus dem Vorbringen des Antragstellers, der streitbefangene Anlagentyp erreiche seine Nennleistung bei einer Windgeschwindigkeit von 12,4 m/s - nach den Angaben im Herstellerprospekt tritt dieser Fall bereits bei einer Windgeschwindigkeit von 12,0 m/s ein -, lässt sich nicht herleiten, dass auch die Messung bei einer solchen Windgeschwindigkeit durchgeführt und die Prognose diese Windgeschwindigkeit berücksichtigen müsste. Der Antragsteller verkennt dabei, dass sich diese Angabe auf die Nabenhöhe der Windkraftanlage bezieht. Die Prognose und die ihr zugrunde gelegte Referenzmessung gehen jedoch von den in 10 m über dem Erdboden herrschenden Windgeschwindigkeiten aus. Werden dort Windgeschwindigkeiten von bis zu 10 m/s gemessen beträgt bei Nabenhöhen von bis zu 70 m die Windgeschwindigkeit in Nabenhöhe etwa 12 bis 14 m/s.

Vgl. dazu auch Nr. 5.3.1 der Grundsätze für Planung und Genehmigung von Windenergieanlagen - Windenergie-Erlass - vom 3. 5. 2002.

Ende der Entscheidung

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