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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 08.03.2007
Aktenzeichen: 3 A 4039/06.A
Rechtsgebiete: AsylVfG, AuslG, AufenthG, VwVfG


Vorschriften:

AsylVfG § 26 Abs. 4
AsylVfG § 71 Abs. 1
AuslG § 51 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 1
VwVfG § 51 Abs. 3
Die 3-Monats-Frist für die Stellung eines Asylfolgeantrags gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 Abs. 3 VwVfG beginnt auch im Fall einer Änderung der Rechtslage mit dem Zeitpunkt der konkreten, positiven Kenntniserlangung des Asylbewerbers. Dem steht die schlichte Möglichkeit einer Kenntnisnahme, etwa mit Verkündung des neuen Rechts im Bundesgesetzblatt, nicht gleich.

Dies gilt auch hinsichtlich des in der breiten Öffentlichkeit und den Medien erörterten Zuwanderungsgesetzes.

Schwierigkeiten des Nachweises der Kenntniserlangung rechtfertigen es nicht, die Kenntniserlangung mit der Möglichkeit der Kenntnisnahme gleichzusetzen.


Tatbestand:

Die Klägerinnen, Asylbewerberinnen aus dem Iran, deren Ehemann bzw. Vater im Jahre 2004 Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zuerkannt worden war, stellten am 14.4.2005 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Folgeantrag auf Gewährung von Familienabschiebungsschutz gemäß § 26 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG. Das Bundesamt lehnte den Antrag ab, weil er erst nach Ablauf der Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG gestellt worden sei; diese habe mit Inkrafttreten der fraglichen Normen am 1.1.2005 begonnen. Das VG gab der Klage statt. Der auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG gestützte Zulassungsantrag der Beklagten blieb ohne Erfolg.

Gründe:

Die in der Antragsschrift formulierte Frage, ob für eine Kenntnis der Änderung einer Rechtslage i.S.d. § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG die konkrete Kenntnis von einer Vorschrift und von ihrem Inhalt ... verlangt werden kann oder ob es ausreicht, dass die Gesetzesänderung im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde und deshalb als allgemein bekannt gilt ... bzw. gerade beim Zuwanderungsgesetz wegen der Medienresonanz als bekannt vorausgesetzt werden muss, ist nicht grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG. Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nämlich nur zu, wenn eine sowohl für das erstinstanzliche Urteil als auch für die angestrebte Berufungsentscheidung erhebliche, klärungsfähige und klärungsbedürftige Frage allgemeiner und fallübergreifender Bedeutung formuliert wird. Diese Voraussetzungen erfüllt die Fragestellung der Beklagten nicht.

Die aufgeworfene Frage ist in der hier gegebenen Fallkonstellation entscheidungserheblich, soweit sie sich auf die Änderung des § 26 AsylVfG durch das Zuwanderungsgesetz vom 30.07.2004 bezieht (Erweiterung des Familienasyls auf Familienabschiebungsschutz durch Einfügung eines Absatzes 4); sie bedarf aber keiner Klärung in einem Berufungsverfahren, weil sie sich nach Wortlaut und Sinn des § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG ohne weiteres beantworten lässt.

Der Begriff der "Kenntnis" ist durch den allgemeinen Sprachgebrauch festgelegt und danach nicht gleichbedeutend mit demjenigen der Möglichkeit einer Kenntnisnahme; er setzt vielmehr weitergehend voraus, dass die Möglichkeit einer Kenntnisnahme tatsächlich wahrgenommen worden ist und zu einem konkreten, positiven Kenntnis- oder Wissensstand geführt hat. Von dieser Begrifflichkeit ist auch im Geltungsbereich des § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG auszugehen. Für eine gegenteilige Auslegung, die darauf hinausläuft, Kenntnis und Möglichkeit der Kenntnisnahme gleichzusetzen, spricht nicht etwa der in der Antragsschrift geäußerte Einwand der Beklagten, sie könne unmöglich feststellen, wann ein Asylbewerber von einer Rechtsänderung Kenntnis erlangt habe (und demzufolge die Antragsfrist laufe). Erstens knüpft dieser Einwand nicht an den Inhalt der Regelung des § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG an, die zweifelhaft und deshalb auszulegen wäre, sondern an Schwierigkeiten bei deren Anwendung; zweitens sind solche Schwierigkeiten vom Gesetzgeber ersichtlich in Kauf genommen worden und mithin nicht durch Auslegung zu vermeiden; im Übrigen treten sie nicht nur in der von der Beklagten aufgezeigten Konstellation, sondern auch sonst im Anwendungsbereich des § 51 VwVfG auf, beispielsweise, wenn in Frage steht, ab welchem Zeitpunkt ein neues Beweismittel (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) dem Asylbewerber "zugänglich" war, vgl. BVerwG, Urteil vom 13.05.1993 - 9 C 49.92 - , BVerwGE 92, 378 = NVwZ 1993, 788 = InfAuslR 1993, 357; drittens halten sich etwaige Schwierigkeiten für die Behörde mit Blick darauf in Grenzen, dass im Streitfall nicht sie, sondern der auf Wiederaufnahme des Verfahrens dringende Antragsteller die Wahrung der Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG und in diesem Zusammenhang auch den Zeitpunkt seiner Kenntniserlangung vom Wiederaufnahmegrund darzulegen und zu beweisen hat, vgl. Thüringer OVG, Urteil vom 06.03.2003 - 3 KO 428/99 - , NVwZ 2003, Beilage Nr. I 3, 19-21; OVG Berlin, Urteil vom 19.04.1994 - 8 B 85.89 - , Juris; Funke-Kaiser in: GK-AsylVfG, Stand September 2005, II - § 71 Rn. 164, so dass auch von daher eine sich über den Wortlaut hinwegsetzende Auslegung nicht zu rechtfertigen ist.

Die von der Beklagten in der Antragsschrift unter Berufung auf ein Urteil des VG Minden vom 12.04.2005 - 1 K 5205/03.A - , Juris, vorgetragene Überlegung, eine Gesetzesänderung "gelte" mit der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt als allgemein bekannt, gibt für die von ihr befürwortete erweiternde Auslegung des Begriffs "Kenntnis" in § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG ebenfalls nichts her. Eine Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt vermittelt lediglich die Möglichkeit allgemeiner Kenntnisnahme, was ausreicht, um ein Gesetz wirksam werden zu lassen, besagt aber nichts für eine tatsächliche Kenntnisnahme seitens der Gesetzesunterworfenen, auf die sie nicht ausgerichtet ist und die sie auch nicht gewährleisten kann. Eine gesetzliche Fiktion der Kenntnis ab Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt hat der Gesetzgeber nicht angeordnet.

Ebenso wenig tragen die Ausführungen der Beklagten zur Auslegung des § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG bei, es habe sich für einen folgeantragswilligen Antragsteller mit zugrunde zu legendem regelmäßigen Kontakt zur Ausländerbehörde doch aufgedrängt, sich zeitnah zum Jahresanfang 2005 zu erkundigen, ob sich für ihn [im Zusammenhang mit dem in der breiten Öffentlichkeit und den Medien erörterten Zuwanderungsgesetz] eventuelle Änderungen ergeben. Denn auch hieraus ergäbe sich zunächst nur, dass der Antragsteller eventuelle Erkundigungspflichten verletzt und folglich durch eigenes Verschulden keine (frühere) Kenntnis vom Bestehen eines Wiederaufnahmegrundes erlangt hätte. Rechtsfolgen an eine solche etwaige Pflichtverletzung hat der Gesetzgeber in § 51 Abs. 3 VwVfG aber nicht geknüpft. Insbesondere hat er nicht etwa bestimmt, dass der Wiederaufgreifensantrag in einem solchen Fall unzulässig ist, wie er dies in § 51 Abs. 2 VwVfG für den Fall getan hat, dass der Antragsteller den Wiederaufgreifensgrund schon in dem früheren Verfahren hätte geltend machen können, dies aber grob schuldhaft versäumt hat.

So zutreffend VG Magdeburg, Urteil vom 14.10.2005 - 9 A 193/05 MD - . Vgl. auch Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, a.a.O, Rn. 165; Klappstein in: Knack, Verwaltungsverfahrensgesetz, 6. Aufl., § 51 Rn. 7.

Auf die Frage, auf welche Tatsachen im Einzelnen sich die Kenntnis gemäß § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG zu erstrecken hat und inwieweit sie mit einer Erfassung der möglichen Relevanz einer Rechtsänderung für das Asylverfahren (ähnlich einer Parallelwertung in der Laiensphäre) einhergehen muss, vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 28.02.1997 - 1 C 29.95 - , BVerwGE 104, 115 (122); OVG NRW, Urteil vom 30.08.1999 - 21 A 2945/96 - , NVwZ 2000, 89 (90 f.); OVG Berlin, Urteil vom 19.04.1994, a.a.O.; Funke-Kaiser in: GK-AsylVfG, a.a.O., Rn. 165; Marx, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 5. Aufl., § 26 Rn. 272 f.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Dezember 2006, § 71 AsylVfG Rn. 40; Ziekow, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2006, § 51 Rn. 20 f.; Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl., § 51 Rn. 47, braucht der Senat nicht einzugehen. Denn die Beklagte hat keine zulässigen und begründeten Rügen gegen die Feststellung des VG im angefochtenen Urteil erhoben, dass die Klägerinnen erst anlässlich der Bevollmächtigung ihres Prozessvertreters am 12.4.2005 vom Inhalt der ihnen günstigen Regelung des § 26 Abs. 4 AsylVfG erfahren hätten; von dieser Sachlage war infolgedessen im Zulassungsverfahren auszugehen.

Ende der Entscheidung

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