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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 16.11.2007
Aktenzeichen: 6 A 2171/05
Rechtsgebiete: BVO, GG, SGB I, BGG


Vorschriften:

BVO § 4 Abs. 1 Nr. 1
GG Art. 3 Abs. 3 Satz 2
SGB I § 17 Abs. 2
BGG § 8 Abs. 1
Die nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 BVO beihilfefähige Aufwendung für die "Beratung durch einen Arzt" umfasst nicht die Aufwendungen für einen Gebärdendolmetscher, auch wenn die Hinzuziehung eines Gebärdendolmetschers für die Inanspruchnahme der ärztlichen Beratung notwendig ist.

Eine Verletzung der allgemeinen Fürsorgepflicht in ihrem Wesenskern setzt voraus, dass dem Beihilfeempfänger nicht erstattungsfähige Aufwendungen in mehr als geringer Höhe verbleiben.

Zur anspruchsbegründenden Wirkung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, § 17 Abs. 2 SGB I und § 8 Abs. 1 BGG (hier verneint).


Tatbestand:

Der gehörlose Kläger ist als Regierungsamtmann im Dienst des beklagten Landes beschäftigt und begehrt eine Beihilfe für die anlässlich einer ärztlichen Beratung seiner - ebenfalls gehörlosen - Ehefrau entstandenen Aufwendungen für einen Gebärdendolmetscher. Das beklagte Land lehnte den Antrag ab, weil die Tätigkeit des Gebärdendolmetschers keine erstattungsfähige ärztliche Beratung im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 1 BVO NRW sei. Auch sonst sehe die Beihilfeverordnung NRW keinen Erstattungsanspruch für die Kosten eines Gebärdendolmetschers vor. Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Den Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte das OVG ab.

Gründe:

Aus den im Zulassungsverfahren dargelegten Gründen ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

Die im einzelnen begründeten Annahmen des VG werden durch das Zulassungsvorbringen nicht in Frage gestellt.

Die Tätigkeit eines Gebärdendolmetschers im Rahmen eines ärztlichen Beratungsgesprächs kann nicht als "Beratung durch einen Arzt" im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 1 BVO NRW als beihilfefähige Aufwendung angesehen werden. Weder wird der Gebärdendolmetscher selbst beratend tätig noch handelt es sich bei der Übersetzung des gesprochenen Wortes in die Gebärdensprache und umgekehrt um eine spezifisch ärztliche, das heißt auf ärztlichem Fachwissen beruhende Leistung. Der untrennbare Zusammenhang zwischen der Hinzuziehung eines Dolmetschers und der ärztlichen Beratung, auf den der Kläger hinweist, verlangt keine andere Einschätzung. Zutreffend ist zwar, dass die für sich genommen beihilfefähige ärztliche Beratung in Fällen wie hier ohne Dolmetscher nicht in Anspruch genommen werden kann. Eine Änderung der Qualität der vom Dolmetscher auf nichtärztlichem Gebiet erbrachten Leistung findet dadurch, dass sie für die Wahrnehmung der ärztlichen Leistung notwendig ist, jedoch nicht statt. Insoweit unterscheidet sich die Inanspruchnahme eines Dolmetschers nicht von anderen "Nebenleistungen", wie etwa der Beförderung des Erkrankten oder von Begleitpersonen, die ebenfalls trotz ihrer Notwendigkeit begrifflich nicht Teil der durch sie ermöglichten Behandlung werden, sondern nur beihilfefähig sind, wenn dies in den Beihilfevorschriften ausdrücklich vorgesehen ist.

Ein Anspruch auf Übernahme der anlässlich eines ärztlichen Beratungsgesprächs entstandenen Kosten eines Gebärdendolmetschers kann auch nicht aus der allgemeinen Fürsorgepflicht des Dienstherrn für das Wohl des Beamten und seiner Familie (§ 85 LBG NRW) hergeleitet werden. Das VG hat zu Recht zum Ausgangspunkt genommen, dass im Hinblick auf die grundsätzlich durch die Beihilfevorschriften abschließend konkretisierte Fürsorgepflicht ein Rückgriff auf die Generalklausel der Fürsorgepflicht nur dann erfolgen kann, wenn der Ausschluss einer Beihilfe die Fürsorgepflicht in ihrem Wesenskern verletzt.

An einer solchen qualifizierten Verletzung der Fürsorgepflicht fehlt es hier bereits deswegen, weil die durch die geltend gemachten Aufwendungen eingetretene Belastung nicht unzumutbar ist. Die Frage der Zumutbarkeit ist angesichts des Sinns und Zwecks der beihilferechtlichen Regelungen und ihrem Verhältnis zu den Dienst- und Versorgungsbezügen grundsätzlich danach zu beurteilen, ob die notwendigen Aufwendungen im Krankheitsfall die wirtschaftliche Lebensführung des Beamten und seiner Familie so einschränken, dass sie nicht mehr alimentationsgerecht ist. Überschreiten die tatsächlichen Belastungen die vom Dienstherrn durch die Besoldungs- und Versorgungsregelungen festgelegte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Beamten, gebietet die Fürsorgepflicht eine weitergehende ergänzende Hilfeleistung durch Beihilfen.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 28.4.1988 - 2 C 58.85 -, BVerwGE 79, 249, und vom 21.12.2000 - 2 C 39.99 -, BVerwG 112, 308; OVG NRW, Urteil vom 4.7.2002 - 6 A 3458/99 -, ZBR 2004, 279, jeweils m.w.N.

Eine solche Höhe erreichen die hier geltend gemachten, verhältnismäßig geringen Aufwendungen nicht. Der Rechnungsbetrag beläuft sich auf 201,60 Euro, was bei einem Beihilfebemessungssatz von 70 v.H. einem erstattungsfähigen Betrag von lediglich 141,12 Euro entspricht.

Ob neben der Höhe der Aufwendungen davon unabhängige rechtliche Grundentscheidungen für die Beurteilung der Zumutbarkeit der Belastung relevant werden können, ist angesichts der Anknüpfung der Fürsorgepflicht im Beihilferecht an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Beamten fraglich.

Vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 30.11.2004 - 6 A 3733/03 -.

Das bedarf jedoch keiner abschließenden Entscheidung, weil hier keine Rechtsverstöße dargelegt sind, die gegebenenfalls auf die Fürsorgepflicht durchgreifen könnten. Aus dem Benachteiligungsverbot wegen Behinderung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, auf das sich der Kläger beruft, kann ein unmittelbarer Leistungsanspruch nicht hergeleitet werden, da es sich um ein grundrechtliches Abwehrrecht handelt, dessen Aktualisierung dem Gesetzgeber obliegt.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30.11.2004 - 6 A 3733/03 -; Nds. OVG, Beschluss vom 11.9.1998 - 2 L 2640/98 -, ZBR 1999, 241, jeweils m.w.N.

Aber auch in seiner Funktion als Abwehrrecht ist das Diskriminierungsverbot hinreichend berücksichtigt. Zwar verlangt Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vom Dienstherrn auch, dass Behinderten aus ihrer Behinderung soweit möglich keine Nachteile entstehen dürfen. Der Dienstherr hat jedoch im Rahmen seiner Fürsorgepflicht und bei der Ausgestaltung seiner Beihilfevorschriften einen weiten Ermessensspielraum, bei der er Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nur beachten muss. Der Normgeber hat die Nachteile gesehen, die behinderte Beamte oder behinderte Angehörige haben können. Mit der Möglichkeit, nach § 12 Abs. 4 Satz 1 und 5 lit. c) BVO NRW den Bemessungssatz zu erhöhen, hat er diesen Nachteilen angesichts der pauschalierenden und typisierenden Konkretisierung der Fürsorgepflicht durch die Beihilfeverordnung auch insgesamt hinreichend Rechnung getragen.

Vgl. auch BVerwG, Urteil vom 18.6.1980 - 6 C 19.79 -, BVerwGE 60, 212; OVG NRW, Beschlüsse vom 26.5.1998 - 6 A 640/97 -, DÖD 1999, 157, und vom 30.11.2004, a.a.O.; Nds. OVG, Beschluss vom 11.9.1998, a.a.O.

Aus § 17 Abs. 2 SGB I kann der Kläger in diesem Zusammenhang ebenfalls keinen Anspruch herleiten. Nach dieser Regelung haben hörbehinderte Menschen das Recht, bei der Ausführung von Sozialleistungen, insbesondere auch bei ärztlichen Untersuchungen und Behandlungen, Gebärdensprache zu verwenden. Die für die Sozialleistung zuständigen Leistungsträger sind verpflichtet, die durch die Verwendung der Gebärdensprache entstehenden Kosten zu decken. Die unmittelbare Heranziehung dieser Norm scheitert bereits an der fehlenden Vergleichbarkeit des Beihilfesystems mit dem Sozialversicherungssystem. Die Regelung vermag aber auch in Verbindung mit der Fürsorgepflicht den geltend gemachten Anspruch nicht zu begründen. Der Senat sieht zwar ebenso wie der Kläger die für Betroffene in diesem Punkt kaum nachvollziehbare abweichende Behandlung von Beihilfeberechtigten und deren Angehörigen im Vergleich zu Empfängern von Sozialleistungen. Eine Verletzung der Fürsorgepflicht in ihrem Wesenskern folgt daraus gleichwohl jedoch nicht. In dem in seiner Struktur mit der gesetzlichen Krankenversicherung nicht vergleichbaren Beihilfesystem ist den Nachteilen, die behinderte Beamte und deren Angehörige erleiden können, wie bereits dargestellt, hinreichend Rechnung getragen. Ein darüber hinausgehender Beihilfeanspruch kann aus dem Gesichtspunkt der Fürsorgepflicht nicht hergeleitet werden.

Vgl. dazu auch BVerwG, Urteil vom 30.6.1983 - 2 C 36 und 37.81 -, NVwZ 1985, 417.

Entsprechendes gilt für den Anspruch aus § 8 Abs. 1 BGG. Im Übrigen ließe sich daraus allenfalls ein Anspruch gegenüber der entsprechenden öffentlichen Einrichtung - hier dem Krankenhaus - herleiten (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 2, § 1 Abs. 2 BGG). Ein darüber hinausgehender Beihilfeanspruch kann insoweit auch unter Berücksichtigung der Fürsorgepflicht nicht abgeleitet werden.

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