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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 15.11.2006
Aktenzeichen: 6 A 3029/04
Rechtsgebiete: GOÄ
Vorschriften:
GOÄ § 4 Abs. 2 | |
GOÄ § 4 Abs. 2a |
Methodisch notwendig bzw. Bestandteil einer anderen Leistung und damit nicht selbständig abrechenbar ist ein operativer Einzelschritt nur dann, wenn er immer oder jedenfalls typischerweise in unmittelbarem Zusammenhang mit der umfassenderen Leistung erbracht wird.
Tatbestand:
Der Kläger steht als Oberstudienrat im Schuldienst des beklagten Landes. Er begehrt Beihilfe für Aufwendungen, die ihm auf Grund einer zahnärztlichen Behandlung seiner Tochter entstanden sind. Bei dieser Behandlung waren im Zusammenhang mit Eingriffen nach Nr. 2650 GOÄ ("Entfernung eines extrem verlagerten oder retinierten Zahnes durch umfangreiche Osteotomie bei gefährdeten anatomischen Nachbarstrukturen") auch Neurolysen durchgeführt worden. Der Zahnarzt hatte diese Neurolysen unter Bezugnahme auf Nr. 2583 GOÄ ("Neurolyse, als selbständige Leistung") gesondert in Rechnung gestellt. Das VG hatte das beklagte Land verpflichtet, dem Kläger auch insoweit Beihilfe zu zahlen. Die Berufung blieb für das beklagte Land erfolglos.
Gründe:
Gemäß § 3 Abs. 1 BVO sind beihilfefähig die notwendigen Aufwendungen in angemessenem Umfang u.a. in Krankheitsfällen zur Wiedererlangung der Gesundheit. Dass die in Rede stehenden Neurolysen im Rahmen der Zahnbehandlung der Tochter des Klägers medizinisch erforderlich waren, ist unstreitig. Die vom Kläger hierfür erbrachten Aufwendungen waren auch im Übrigen notwendig und vom Umfang her angemessen.
Die Frage der Notwendigkeit und Angemessenheit in Bezug auf Aufwendungen für ärztliche oder zahnärztliche Leistungen beurteilt sich nach Maßgabe der für die Abrechnung dieser Leistungen einschlägigen Gebührenordnungen, hier nach der GOÄ. Damit setzt die Beihilfefähigkeit grundsätzlich voraus, dass der Arzt oder Zahnarzt die Rechnungsbeträge bei zutreffender Auslegung der Gebührenordnung zu Recht in Rechnung gestellt hat. Dies ist verwaltungsgerichtlich voll überprüfbar.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 30.5.1996 - 2 C 10.95 -, NWVBl. 1996, 423.
Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ darf ein Arzt nur für selbständige Leistungen Gebühren berechnen. Für Leistungen, die Bestandteil oder eine besondere Ausführung einer anderen Leistung nach dem Gebührenverzeichnis sind, dürfen dagegen nach § 4 Abs. 2a Satz 1 GOÄ keine gesonderten Gebühren angesetzt werden. Dieses sog. Zielleistungsprinzip wird in § 4 Abs. 2a Satz 2 GOÄ für operative Leistungen - wie hier - besonders hervorgehoben. Danach sind auch operative Einzelschritte, die zur Erbringung der im Gebührenverzeichnis aufgeführten operativen Leistungen methodisch notwendig sind, nicht gesondert abrechenbar. Für Neurolysen wird in Nr. 2583 GOÄ ausdrücklich erwähnt, dass sie nur "als selbständige Leistung" abrechenbar sind.
Bei einer Zahnextraktion nach Nr. 2650 GOÄ ist die Neurolyse weder ein im Sinne des § 4 Abs. 2a Satz 2 GOÄ methodisch notwendiger Einzelschritt noch Bestandteil oder eine besondere Ausführung der Zahnextraktion. Methodisch notwendig bzw. Bestandteil einer anderen Leistung ist ein Einzelschritt nur dann, wenn er immer oder jedenfalls typischerweise in unmittelbarem Zusammenhang mit der umfassenderen Leistung erbracht wird.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 24.8.1994 - 6 A 2408/91 -, m.w.N., bestätigt durch BVerwG, Urteil vom 21.9.1995 - 2 C 33.94 -, NWVBl. 1996, 100, sowie vom 18.1.1995 - 12 A 841/92 -, NWVBl. 1995, 347, bestätigt durch BVerwG, Urteil vom 30.5.1996 - 2 C 10/95 -, a.a.O.; so offenbar auch BSG, Urteil vom 25.8.1999 - B 6 KA 57/98 R -, MedR 2000, 201; in Bezug auf Neurolysen ausdrücklich auch AG Düsseldorf, Urteil vom 5.12.2005 - 39 C 15279/04 -; a.A. insofern SG Kiel, Urteil vom 24.11.2000 - S 13 KA 366/99 -.
Bei Zahnextraktionen nach Nr. 2650 GOÄ ist eine Neurolyse in der Regel nicht erforderlich. Mit Rücksicht auf die bei derartigen Eingriffen "gefährdeten anatomischen Nachbarstrukturen", zu denen auch benachbarte Nervenbahnen gehören können, wird zwar eine besondere Vorsicht bei der Behandlung geboten sein; es bedarf jedoch nicht immer oder typischerweise besonderer zusätzlicher Schutzmaßnahmen in Form von Neurolysen. Der Kläger hat unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme der Zahnärztekammer Westfalen-Lippe vom 29.8.2006 nachvollziehbar ausgeführt, dass eine Neurolyse bei Zahnextraktionen nach Nr. 2650 GOÄ nur in sehr seltenen Fällen erforderlich wird, etwa wenn die Wurzel des zu ziehenden Zahns im Unterkiefer einen Nerv umschlingt oder dieser Nerv an die Zahnwurzel angelagert ist. An der tatsächlichen Richtigkeit dieser Darstellung bestehen keine Zweifel. In der Berufungsverhandlung ist die Stellungnahme der Zahnärztekammer und deren Bedeutung für die Beurteilung des Streitfalls besonders herausgestellt worden. Auch in diesem Zusammenhang hat das beklagte Land wie zuvor bereits schriftsätzlich die tatsächlichen Angaben der Zahnärztekammer nicht in Frage gestellt. Ausgehend davon kann es sich, wenn im Einzelfall anlässlich einer Zahnextraktion nach Nr. 2650 GOÄ eine Neurolyse erforderlich wird, weder um einen methodisch notwendigen Einzelschritt noch um einen Bestandteil oder eine besondere Ausführung der Extraktion handeln, vielmehr geht es in solchen Fällen um eine selbständige Leistung.
Die vom beklagten Land angeführte Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 13.5.2004 - III ZR 344/03 -, BGHZ 159, 142, steht hierzu nicht im Widerspruch. Nach dieser Rechtsprechung ist eine Neurolyse nur dann als selbständige Leistung anzusehen und damit gesondert nach Nr. 2583 GOÄ abrechenbar, wenn sie eigenständig medizinisch indiziert ist.
Eine solche eigenständige medizinische Indikation lag im vorliegenden Fall vor. Zwar war die Neurolyse nicht das eigentliche Behandlungsziel. Jedoch kann auch eine im Einzelfall gebotene Vorarbeit auf dem Weg zum eigentlichen Behandlungsziel eigenständig medizinisch indiziert sein. Dies hängt davon ab, ob es sich um einen im Sinne des § 4 Abs. 2a GOÄ methodisch notwendigen Einzelschritt bzw. um einen Bestandteil einer anderen Leistung handelt oder nicht: Stellt die Neurolyse einen methodisch notwendigen Einzelschritt zur Erbringung der operativen Hauptleistung oder nur einen Bestandteil davon dar, kann sie nicht eigenständig medizinisch indiziert sein. Stellt sie hingegen keinen solchen methodisch notwendigen Einzelschritt bzw. Bestandteil dar, weil sie nicht immer oder jedenfalls nicht typischerweise in unmittelbarem Zusammenhang mit der operativen Hauptleistung erbracht wird, so muss sie - wenn sie gleichwohl erforderlich wird - auch eigenständig medizinisch indiziert sein. Im vorliegenden Fall ergab sich die eigenständige medizinische Indikation der Neurolysen daraus, dass ohne vorherige Neurolysen eine Verletzung des nervus lingualis drohte. Neben das eigentliche Behandlungsziel, das in der Zahnextraktion lag, trat damit als weiteres Behandlungsziel der Schutz des nervus lingualis. Dass dies im Einzelfall so sein kann, etwa bei einem anatomisch besonders nahen Verlauf dieses Nervs an den Zahnwurzeln, ist der o.a. Stellungnahme der Zahnärztekammer Westfalen-Lippe vom 29.8.2006 zu entnehmen. Dass auch der konkrete Streitfall so gelagert war, folgt - wie schon eingangs hervorgehoben - daraus, dass die medizinische Notwendigkeit der Neurolysen zwischen den Prozessbeteiligten zu keinem Zeitpunkt im Streit war.
Soweit der BGH in seinem o.a. Urteil vom 13.5.2004 ausgeführt hat, der in dem dort entschiedenen Fall herangezogene Sachverständige habe, "wenn auch unter Hinweis auf eine aus seiner Sicht suggestive Fragestellung, eingeräumt, dass man als selbständige Leistung nur eine solche ansehen könne, die wegen einer eigenständigen medizinischen Indikation vorgenommen werde, und nicht, um beim Erreichen des Operationsziels benachbarte Strukturen zu schonen und nicht zu verletzen", hat er damit konkrete allgemeingültige Kriterien für die Annahme einer "eigenständigen medizinischen Indikation" nicht aufgestellt. Dass medizinische Leistungen, die dazu dienen, im Zusammenhang mit einer Operation benachbarte Strukturen zu schonen und nicht zu verletzen, ungeachtet der konkreten Umstände niemals eigenständig medizinisch indiziert sind, lässt sich den Ausführungen des BGH nicht entnehmen.
Dass eine Neurolyse nach Nr. 2583 GOÄ kein methodisch notwendiger Einzelschritt bei einer Zahnextraktion nach Nr. 2650 GOÄ ist, sondern nur im Einzelfall bei eigenständiger medizinischer Indikation erforderlich wird, wird auch durch die punktmäßige Bewertung beider Leistungen bestätigt. Die Zahnextraktion nach Nr. 2650 GOÄ ist mit 740 Punkten bewertet, die Neurolyse nach Nr. 2583 GOÄ dagegen mit 924 Punkten. Es kann dahinstehen, ob eine Leistung von vornherein nur dann im Sinne des § 4 Abs. 2 und 2a GOÄ Bestandteil einer anderen (umfassenderen) Leistung sein kann, wenn sie punktmäßig niedriger bewertet ist.
So OVG NRW, Urteil vom 18.1.1995 - 12 A 841/92 -, a.a.O.
Jedenfalls stellt die punktmäßige Bewertung ein zusätzliches Indiz für die Selbständigkeit oder Unselbständigkeit einer Leistung dar.
Vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 16.3.2006 - III ZR 217/05 -, NJW-RR 2006, 919.
Das VG hat in diesem Zusammenhang zu Recht auf die sich bei Zugrundelegung der Rechtsansicht des beklagten Landes ergebende Ungereimtheit hingewiesen, dass bei einer Zahnextraktion und zusätzlicher Neurolyse insgesamt geringere zahnärztliche Gebühren anfielen als im Falle einer alleinigen Neurolyse.
Der Runderlass des Finanzministeriums NRW vom 10.12.1997 - B 3100 - 3.1.6 - IV A 4 -, MBl. NRW. 1998, S. 36, ist für die Entscheidung der vorliegenden gebührenrechtlichen Streitfrage letztlich nicht maßgeblich. Die in ihm enthaltenen "Hinweise zum ärztlichen Gebührenrecht" entfalten für das verwaltungsgerichtliche Verfahren keine Bindungswirkung. Der Erlassgeber hat insoweit keinen eigenen Ermessens- oder Beurteilungsspielraum.
Abgesehen davon bestätigen diese Hinweise die hier vertretene Auffassung. Nach Nr. 2.1 Satz 3 der Hinweise sind Neurolysen, die "im Zusammenhang mit anderen operativen Eingriffen anfallen", Bestandteil der Hauptleistung und daneben nicht gesondert berechnungsfähig. Der Erlassgeber verweist insoweit beispielhaft auf die operativen Eingriffe nach Nr. 2565 und 2566 GOÄ. Das sind Eingriffe, die - wie der Kläger unter Bezugnahme auf die o.a. Stellungnahme der Zahnärztekammer Westfalen-Lippe vom 29.8.2006 nachvollziehbar ausgeführt hat - zwingend eine Neurolyse erforderlich machen. Auch punktmäßig sind diese Eingriffe deutlich höher bewertet als eine Neurolyse.
Ende der Entscheidung
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