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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 04.07.2002
Aktenzeichen: 6 A 3458/99
Rechtsgebiete: SGB XI, BVO


Vorschriften:

SGB XI § 39
BVO § 5 Abs. 4 Satz 4
Ein Beihilfeanspruch kann unmittelbar aus der Fürsorgepflicht des Dienstherrn abzuleiten sein, wenn bei einer Verhinderung der Pflegeperson, ihren Anteil an der "kombinierten" Pflege zu leisten, durch die dann notwendige volle Inanspruchnahme eines gewerbsmäßigen Pflegedienstes Kosten in einer Höhe entstehen können, die in die regelmäßigen Versorgungsbezüge des Pflegebedürftigen nicht einbezogen sind und demzufolge eine weitere Hilfeleistung des Dienstherrn als erforderlich erscheinen lassen (im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 28.4.1977 - II C 2.75 -, BVerwGE 52, 358).

Zur Pflicht des Dienstherrn, sich an einem bundesrechtlich vorausgesetzten "Beihilfestandard" zu orientieren.


Tatbestand:

Die Klägerin beanspruchte als Rechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes, eines beihilfeberechtigten Ruhestandsbeamten des beklagten Landes, höhere beamtenrechtliche Beihilfen zu den Aufwendungen, die dem nach mehreren Schlaganfällen teilweise gelähmten Ehemann für eine "Verhinderungspflege" (§ 39 SGB - XI) in den Jahren 1996 und 1997 entstanden waren. Er war von der Klägerin und von einem ambulanten Pflegedienst zu Hause betreut worden ("kombinierte" Pflege). Er erhielt 30 v.H. der erstattungsfähigen Aufwendungen hierfür von der Pflegeversicherung. Das Landesamt für Besoldung und Versorgung Nordrhein-Westfalen (im Folgenden: Landesamt) gewährte zu den Kosten der häuslichen Pflege Beihilfeleistungen nach einem Beihilfesatz von 70 v.H. der beihilfefähigen Aufwendungen. Während zweier Erholungsurlaube der Klägerin in den Jahren 1996 und 1997 übernahm der Pflegedienst auch ihren Anteil an der Betreuung ihres Ehemannes. Der Pflegedienst stellte dafür zusätzlich jeweils 2.800,-- DM für eine "Ersatzpflegekraft" in Rechnung. Die Pflegeversicherung übernahm 30 v.H. hiervon. Das Landesamt bewilligte dem Ehemann der Klägerin zu den Aufwendungen für die zweimalige Verhinderungspflege Beihilfen von rund 150,- DM und rund 200,- DM unter dem Aspekt von Mehraufwendungen (§ 5 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 BVO). Die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene, auf eine Verpflichtung des beklagten Landes gerichtete Klage der Klägerin hatte vor dem VG Erfolg. Auf die Berufung des beklagten Landes wurde das Urteil des VG geändert. Das beklagte Land wurde unter Abweisung der weitergehenden Klage verpflichtet, über die Gewährung der streitigen Beihilfe für die "Verhinderungspflege" unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Gründe:

Die Fürsorgepflicht des Dienstherrn (§ 85 LBG NRW) wird im Hinblick auf die Krankheitsvorsorge des Beamten durch die Beihilfenverordnung vom 27.3.1975, GV. NRW. S. 332, hier anzuwenden in der Fassung der Dreizehnten Änderungsverordnung vom 31.10.1996, GV. NRW. S. 440, konkretisiert und in den Einzelheiten ausgestaltet.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 21.12.2000 - 2 C 39.99 -, Dokumentarische Berichte Ausgabe B 2001, 104 (106), m.w.N.

Demgemäß besteht grundsätzlich kein Anspruch auf Beihilfen, die in der Beihilfenverordnung nicht vorgesehen sind. Allerdings bildet die Fürsorgepflicht zugleich den Maßstab, an dem die in der Beihilfenverordnung getroffenen Regelungen zu messen sind, wenn deren Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht im Einzelfall in Frage steht. Im Ausnahmefall kann daher die Fürsorgepflicht unmittelbar Grundlage eines Beihilfeanspruchs sein, wenn anderenfalls dem Beamten eine auch unter Berücksichtigung des pauschalierenden und typisierenden Charakters der Beihilfevorschriften nicht mehr zumutbare Belastung abverlangt würde.

Vgl. zum Ganzen die Rechtsprechung des BVerwG zu den Beihilfevorschriften des Bundes (Urteile vom 12.6.1985 - 6 C 24.84 -, BVerwGE 71, 342 (345 ff., 351 ff.), und vom 24.8.1995 - 2 C 7.94 -, ZBR 1996, 46), die nach der Rechtsprechung des Senats auch für die als Rechtsverordnung erlassene Beihilfenverordnung gilt (vgl. OVG NRW, Urteile vom 15.7.1998 - 6 A 2273/98 - und vom 10.9.1998 - 6 A 2449/98 -.

Die in der Beihilfenverordnung enthaltenen Regelungen führen die streitigen Beihilfeleistungen nicht auf. § 5 BVO bestimmt die beihilfefähigen Aufwendungen bei dauernder Pflegebedürftigkeit. Er enthält nichts über Aufwendungen, die durch die Inanspruchnahme einer berufsmäßigen Pflegekraft in den Fällen entstanden sind, in denen die Pflegeperson wegen Erholungsurlaubs an der Pflege verhindert war. Um die in § 5 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1, Abs. 5 BVO geregelten pauschalierten Beihilfen geht es in diesem Zusammenhang nicht. Diese sind für die Zeiten, auf die sich der Rechtsstreit bezieht, gewährt worden. Es geht auch nicht um die Rechtmäßigkeit der mit den angefochtenen Verwaltungsentscheidungen zusätzlich gewährten geringen Beihilfen zu den Aufwendungen für die Ersatzpflegekraft während des zweimaligen Erholungsurlaubs der Klägerin. Der Beklagte hat diese Beihilfen in Anwendung des § 5 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 BVO gewährt. Der Senat stimmt mit dem VG darin überein, dass diese Vorschrift ("... entstehen auf Grund besonderen Pflegebedarfs höhere Aufwendungen, sind die Aufwendungen... beihilfefähig") nicht eingreift. Es geht hier nicht um einen besonderen Pflegebedarf. Der Arbeitsaufwand für die von der Klägerin und dem Pflegedienst geleistete häusliche Betreuung des Ehemannes hatte sich nicht erhöht. Es musste vielmehr der Ausfall der Klägerin als Pflegeperson kompensiert werden. Das ist nicht Gegenstand des § 5 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 BVO, sondern des (durch die Dreizehnte Änderungsverordnung vom 31.10.1996, a.a.O, rückwirkend zum 1.7.1996 eingeführten) § 5 Abs. 4 Satz 4 BVO.

Nach dieser Bestimmung sind in den Fällen des - die häusliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson betreffenden - § 39 SGB XI "neben der Pauschale nach Satz 1... notwendige Aufwendungen, die der Pflegeperson im Zusammenhang mit der Ersatzpflege entstanden sind, bis zur Höhe von 1.500,-- DM im Kalenderjahr beihilfefähig". Das betrifft jedoch die Fälle einer häuslichen Pflege, die ausschließlich durch nicht berufsmäßige Pflegepersonen, also nicht wie im vorliegenden Fall durch "kombinierte" Pflege (vgl. §§ 38, 41 Abs. 3 SGB XI) im Wege der Hinzuziehung gewerbsmäßiger Pflegekräfte, hier des ambulanten Pflegedienstes, erbracht wird.

Vgl. Mohr/Sabolewski, Beihilfenrecht Nordrhein-Westfalen, Loseblattkommentar, Stand: April 2002, B I § 5 Anm. 7.

Dies folgt schon aus der o.a. Verknüpfung mit der "Pauschale nach Satz 1" des § 5 Abs. 4 BVO. Diese - höchstens 1.300,-- DM ausmachende und also gegenüber der Pauschale nach § 5 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 BVO geringere - beihilfefähige Pauschale bezieht sich auf eine "häusliche Pflege durch andere Personen" als die in § 5 Abs. 3 Satz 1 BVO bezeichneten "geeigneten Pflegekräfte." Bei Letzteren handelt es sich um Personen, die "von der Pflegekasse oder bei ambulanten Pflegeeinrichtungen, mit denen die Pflegekasse einen Versorgungsvertrag abgeschlossen hat, angestellt sind" bzw. um "Einzelpersonen, mit denen die Pflegekasse einen Vertrag... abgeschlossen hat" (§ 36 Abs. 1 Sätze 3 und 4 SGB XI). Wegen der Hinzuziehung derartiger Pflegekräfte bei dem Ehemann der Klägerin war gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 BVO seit dem 1.4.1995 eine Pauschale von bis zu 1.800,-- DM monatlich und seit dem 1.5.1997 eine Pauschale von bis zu 2.800,-- DM monatlich zu Grunde gelegt worden. Eine Betreuung, die durch eine berufsmäßige Pflegekraft durchgeführt wird, wird demzufolge von § 5 Abs. 4 Satz 4 BVO nicht erfasst.

Weitere Bestimmungen betreffend die Beihilfefähigkeit von Aufwendungen, die durch eine Verhinderungspflege hervorgerufen werden, sind in der Beihilfenverordnung nicht getroffen worden.

Der streitige Anspruch ist jedoch ausnahmsweise unmittelbar aus der Fürsorgepflicht des Dienstherrn begründet. Von einem beihilfeberechtigten Beamten kann nicht erwartet werden, seine eigene wirtschaftliche Lebensführung und die seiner Familie zwecks Tragung der notwendigen Aufwendungen im Krankheitsfall derart einzuschränken, dass sie nicht mehr alimentationsgerecht ist. Wenn die tatsächlichen Belastungen die vom Dienstherrn durch die Besoldungs- und Versorgungsregelungen festgelegte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Beamten überschreiten, gebietet die Fürsorgepflicht des Dienstherrn eine weiter gehende ergänzende Hilfeleistung durch Beihilfen, sofern dieses Risiko nicht im Rahmen der zumutbaren Eigenaufwendungen des Beamten durch eine Versicherung abgedeckt werden kann.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 12.6.1985 - 6 C 24.84 -, a.a.O., (352, F.).

Letzteres war nicht der Fall. Nach Auskunft der Krankenversicherungsgesellschaft des Ehemannes der Klägerin hatte dieser nicht die Möglichkeit, über die Pflegepflichtversicherung hinaus einen Versicherungsvertrag abzuschließen, der die Kosten einer notwendigen Verhinderungspflege zum Gegenstand hatte, also für den Fall gelten sollte, dass die Klägerin nicht selbst die häusliche Pflege würde erbringen können.

In einer solchen Situation kann die Grenze zu einer nicht mehr alimentationsgerechten und folglich unzumutbaren Belastung des Beamten überschritten bzw. anders ausgedrückt die Fürsorgepflicht in ihrem Wesenskern verletzt sein.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 24.8.1995 - 2 C 7.94 -, ZBR 1996, 46.

Ein solcher Fall ist hier zu bejahen. Es geht um die Kosten der Betreuung eines dauernd Pflegebedürftigen, wobei die Pflege nicht stationär in einer Kranken- oder Pflegeanstalt, sondern (im Allgemeinen weniger kostenaufwendig) zu Hause durch die Ehefrau und einen ambulanten Pflegedienst durchgeführt wurde und der Pflegedienst wegen zeitweiser Verhinderung der Ehefrau für sie einspringen musste. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass bei einer derartigen Sachlage durch die dann notwendige volle Inanspruchnahme des ambulanten Pflegedienstes für die Betreuung des pflegebedürftigen Beamten Kosten in einer Höhe entstehen konnten, die in dessen Versorgungsbezüge nicht einbezogen waren und demzufolge eine weitere Hilfeleistung des Beklagten als erforderlich erscheinen ließen.

Vgl. in diesem Zusammenhang BVerwG, Urteil vom 28.4.1977 - II C 2.75 -, BVerwGE 52, 358, zur vorübergehenden stationären Pflege eines behinderten Kindes während eines Erholungsurlaubs der die häusliche Pflege verrichtenden Eltern.

Im Einzelfall konnten hier (über die beiden Erholungsurlaube der Klägerin hinaus bei einer Erkrankung oder ihrer Verhinderung aus sonstigen Gründen) Kosten in beträchtlicher Höhe erwachsen. Unter diesen Umständen würde ein Nichteintreten der beamtenrechtlichen Beihilfe für die streitigen Aufwendungen darauf hinauslaufen, dass der Beihilfeberechtigte zu Gunsten von Ersparnissen des Dienstherrn in unzumutbarem Umfang und deshalb in nicht gerechtfertigter Weise dafür benachteiligt würde, dass seine Ehefrau sich für eine häusliche Pflege entschieden und diese zum Teil selbst geleistet hat.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 28.4.1977 - II C 2.75 -, a.a.O.

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass in vielen Fällen eine weitere Pflegeperson aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis nicht zur Verfügung steht. Derjenige, der die häusliche Pflege ganz oder teilweise übernommen hat, ist dann bei seiner Verhinderung auf die Hinzuziehung berufsmäßiger Pflegekräfte - mit den entsprechenden Kosten - angewiesen.

Schon auf Grund dieser Erwägungen muss der Klägerin im Grundsatz ein diese Kosten erfassender Beihilfeanspruch zuerkannt werden.

In dem hier vorliegenden Sonderfall der Verhinderungspflege wird diese Beurteilung durch eine weitere Überlegung erhärtet: Die Fürsorgepflicht des Dienstherrn gebietet nach der Rechtsprechung des BVerwG, dass er sich bei der Regelung der Beihilfegewährung für seine Beamten an der vom Bundesgesetzgeber bei der Bemessung der amtsangemessenen Besoldung einschließlich des Anteils für eine angemessene Krankheitsvorsorge vorausgesetzten Hilfeleistung ("Beihilfestandard") in Bund und Ländern orientiert.

Vgl. BVerwG, Entscheidung vom 25.6.1987 - 2 N 1.86 -, BVerwGE 77, 345; kritisch dazu: Schnellenbach, VerwArch, Band 92, 2001, Seiten 22 ff.

Mit diesem Gebot ist nicht in Einklang zu bringen, dass das nordrhein-westfälische Beihilfenrecht in den Fällen einer Verhinderungspflege Beihilfen zu den Aufwendungen für eine berufsmäßige Pflegekraft nicht vorsieht. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung hat in einer Stellungnahme vom 21.5.1997 ausgeführt:

"Es bestand im Gesetzgebungsverfahren für die Pflegeversicherung von Anfang an ein Konsens darüber, dass bei den beihilfeberechtigten Beamten an die Stelle der bei Arbeitnehmern vorgesehenen hälftigen Beitragszahlung die Beihilfe mit ihren Pflegeleistungen treten soll. In der Summe sollen Versicherungsleistungen und Beihilfeleistungen im Regelfall dem entsprechen, was die nicht Beihilfeberechtigten als Versicherungsleistung erhalten. Dies gilt für das gesamte Leistungsspektrum, also einschließlich der Leistungen bei Verhinderungspflege. Den Beihilfeberechtigten sollte im Vergleich zu den Versicherten ohne Beihilfeanspruch kein Nachteil entstehen."

Hiernach verbleibt in Nordrhein-Westfalen beihilferechtlich bei der Verhinderungspflege eine - nicht versicherbare - Lücke, die dem Verhältnis zwischen der vom Bundesbesoldungsgesetzgeber geregelten Alimentation und der gebotenen ergänzenden Hilfeleistung des Dienstherrn nicht entspricht.

Vgl. auch in diesem Zusammenhang BVerwG, Entscheidung vom 25.6.1987 - 2 N 1.86 -, a.a.O.

Daran vermögen die vom Beklagten hervorgehobenen Erleichterungen der nordrhein-westfälischen Regelung - keine Voraussetzung, dass die Pflegeperson den Pflegebedürftigen vor der erstmaligen Verhinderung mindestens 12 Monate in seiner häuslichen Umgebung gepflegt hat, keine zeitliche Beschränkung auf die Kosten einer notwendigen Ersatzpflege für längstens vier Wochen im Kalenderjahr - nichts zu ändern. Diese Erleichterungen kompensieren weder von ihrem Gegenstand her noch nach ihrem Umfang die einem Beihilfeberechtigten in der Situation des verstorbenen Ehemannes der Klägerin zugemuteten Nachteile. Wie das VG mit Recht ausgeführt hat, haben der Bund und die meisten anderen Bundesländer eine dem § 39 SGB XI entsprechende Regelung für die Verhinderungspflege in ihr Beihilferecht aufgenommen (wird ausgeführt). Eben daran fehlt es in Nordrhein-Westfalen.

Der Beklagte kann die mit der Klage verfolgten Beihilfeansprüche nach alledem nicht ablehnen, weil sie nach den Regelungen der Beihilfenverordnung nicht vorgesehen sind. Jedoch ist der Senat an der beantragten Verpflichtung des Beklagten zur Gewährung der streitigen Beihilfen gehindert. Der Beklagte ist lediglich zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten, weil die Sache wegen Zweifeln an der Angemessenheit der Rechnungen des Pflegedienstes nicht spruchreif ist (wird ausgeführt).

Ende der Entscheidung

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