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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 15.04.2005
Aktenzeichen: 7 A 19/03
Rechtsgebiete: BauO NRW


Vorschriften:

BauO NRW § 6 Abs. 15
BauO NRW § 61 Abs. 1
Für die Frage, ob eine bauliche Änderung eines Gebäudes im Sinne des § 6 Abs. 15 Satz 1 BauO NRW geringfügig ist, kommt es auf einen Vergleich des Gebäudezustands nach der geplanten bzw. durchgeführten baulichen Änderung mit dem vor der baulichen Änderung genehmigten oder jedenfalls materiell rechtmäßigen Gebäudezustand an.

Zum Maßstab, ab wann eine Änderung des Baukörpers nicht mehr als geringfügig angesehen werden kann.

Umbaumaßnahmen im Innern des Gebäudes sind grundsätzlich geringfügig im Sinne des § 6 Abs. 15 Satz 1 BauO NRW.

Baumaßnahmen an den Gebäudeseiten, die der abstandflächenrechtlich betroffenen Nachbargrenze abgewandt sind, stellen eher geringfügige bauliche Änderungen dar.

Der Nachbargrenze zugewandte bauliche Maßnahmen - außer bei Veränderung von Länge oder Höhe der Wände - sind erst dann mehr als geringfügig, wenn gerade die Gebäudeveränderung zu einer mehr als geringfügigen Beeinträchtigung der Nachbarsituation beiträgt.


Tatbestand:

Der Beklagte verlangt vom Kläger die Beseitigung von ungenehmigten Dachgaupen in einem seit langem als Wohnhaus dienenden Gebäude ("Herrenhaus"), das die erforderliche Abstandfläche zum Grundstück der Beigeladenen nicht einhält. Das OVG gab der Klage gegen die Ordnungsverfügung statt.

Gründe:

Nach § 6 Abs. 15 Satz 1 BauO NRW können bei Nutzungsänderungen sowie bei geringfügigen baulichen Änderungen bestehender Gebäude ohne Veränderung von Länge und Höhe der den Nachbargrenzen zugekehrten Wände unter Würdigung nachbarlicher Belange geringere Tiefen der Abstandflächen gestattet werden, wenn Gründe des Brandschutzes nicht entgegenstehen. Die hier streitigen baulichen Änderungen sind geringfügig.

Für die Frage, ob die Errichtung der Gaupen eine geringfügige bauliche Änderung im Sinne des § 6 Abs. 15 Satz 1 BauO NRW darstellt, kommt es auf einen Vergleich mit dem zuletzt genehmigten oder jedenfalls materiell rechtmäßigen Gebäudezustand von 1983 an. Vor Änderung des Dachs wies die südliche Dachfläche außer einer Ladeluke allenfalls ein Dachflächenfenster auf.

Wo die Grenze der Geringfügigkeit im Sinne des § 6 Abs. 15 Satz 1 BauO NRW liegt, bestimmt sich im jeweiligen Einzelfall nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift.

Die Abstandregelungen sind auf den Ausgleich der schutzwürdigen und schutzbedürftigen Interessen der benachbarten Grundstückseigentümer unter Berücksichtigung der mit den Abstandregelungen verfolgten öffentlichen Interessen gerichtet und bestimmen damit den Inhalt des Grundeigentums im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 16.5.1991 - 4 C 17.90 -, BVerwGE 88, 191 = BRS 52 Nr. 157.

Die mit § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW verfolgte Verpflichtung, vor Außenwänden von Gebäuden Abstandflächen einzuhalten, soll dem Nachbarn im Hinblick auf die Belichtung, Belüftung, Brandsicherheit und den Sozialabstand ein Mindestmaß an Schutz garantieren und zugleich festlegen, was der Nachbar an Bebauung in welchem Abstand hinzunehmen hat. Werden die durch die Bauordnung in der zur Zeit der Errichtung einer baulichen Anlage geltenden Fassung vorgeschriebenen Grenzabstände, die für den Nachbarn die Zumutbarkeitsschwelle markieren, durch eine bauliche Anlage unterschritten, kann der Betroffene grundsätzlich die Beseitigung dieser baulichen Anlage verlangen.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13.6.2001 - 10 B 574/01 -.

Allerdings trifft die Festlegung einer Mindestabstandfläche den Grundeigentümer, der auf seinem Grundstück erstmals ein Gebäude errichten will, anders als jenen, der an einer bereits vorhandenen Gebäudesubstanz lediglich (Nutzungsänderungen oder) bauliche Änderungen vornehmen will. Während dem ersteren regelmäßig die Möglichkeit der freien Disposition verbleibt, kann der letztere vor die Entscheidung gestellt sein, ob er wirtschaftliche Verluste hinnimmt, weil für eine wirtschaftlich sinnvolle Verwertung erforderliche bauliche Änderungen ausgeschlossen sind, oder ob er die grundsätzlich verwertbare Gebäudesubstanz abreißen und unter Berücksichtigung des neuen Abstandflächenrechts durch eine neue ersetzen soll. In jedem Fall einer geringfügigen baulichen Änderung und/oder einer Nutzungsänderung dennoch die Einhaltung der gegenüber der früheren Sach- oder Rechtslage vergrößerten Abstandflächen zu fordern, würde den berechtigten Interessen des Eigentümers an der Nutzung verwertbarer Gebäudesubstanz jedoch nicht gerecht. Aus Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ergibt sich vielmehr die Verpflichtung des Gesetzgebers, eine sozial gerechte Eigentumsordnung zu gewährleisten, die die Nutzung einer vorhandenen und verwertbaren Gebäudesubstanz nicht verhindert, wenn dem berechtigte und mehr als geringfügige Belange des Allgemeinwohls oder eines Nachbarn nicht entgegenstehen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 16.5.1991 - 4 C 17.90 -, a.a.O.

Unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Abstandregelungen hat der Gesetzgeber mit dem in § 6 eingefügten neuen Abs. 15 den verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleich herbeigeführt. Er hat unter Berücksichtigung öffentlicher Belange den Ausgleich der Interessen der benachbarten Grundstückseigentümer für den Fall geregelt, dass vor den Außenwänden eines bestehenden Gebäudes die im Zeitpunkt der geringfügigen baulichen Änderung (oder der Nutzungsänderung) nach Maßgabe des § 6 Abs. 1 Satz 1 geforderten Abstandflächen nicht zur Verfügung stehen. Das Interesse des Grundeigentümers an einer wirtschaftlich sinnvollen Nutzung einer vorhandenen verwertbaren Gebäudesubstanz und das Interesse des Nachbarn an der Beachtung der Abstände, die aus der Sicht der Bauordnung bei der erstmaligen Errichtung der (baulich bzw. in ihrer Nutzung) geänderten Gebäude eingehalten werden müssten, um nicht zumutbare Beeinträchtigungen durch zu dicht an der Nachbargrenze stehende bauliche Anlagen auszuschließen, sind in die Regelung eingegangen.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 24.6.2004 - 7 A 4529/02 -, BauR 2004, 1765.

Nach § 6 Abs. 15 Satz 1 BauO NRW ist das Maß der Geringfügigkeit zunächst am Bauvolumen des Baukörpers, der geändert werden soll, orientiert. Bezeichnet diese Vorschrift die Veränderung von Länge und Höhe der den Nachbargrenzen zugekehrten Wände als erheblich, schließt sie damit zugleich andere bauliche Änderungen nicht von vornherein von der Qualifizierung als geringfügig aus. Der Maßstab, ab wann eine Änderung des Baukörpers als beachtlich angesehen werden kann, ergibt sich wegen des mit der Regelung des § 6 Abs. 15 BauO NRW verfolgten Zwecks letztlich daraus, welche Maßnahmen erforderlich sind, um das Gebäude weiterhin sinnvoll nutzen zu können. Sind Umbaumaßnahmen im Innern des Gebäudes erforderlich, spricht ungeachtet ihres Umfangs grundsätzlich nichts dafür, sie als mehr als geringfügig anzusehen, es sei denn, sie würden ein Ausmaß erreichen, dass dem Bauherrn ein die Beachtung der Abstandflächenvorschriften einhaltender Neubau angesonnen werden kann. Denn Innenbaumaßnahmen sind, was die baulichen Änderungen als solche anbelangt, für die durch die Abstandflächenvorschriften geschützten Belange grundsätzlich nicht von Belang. Bauliche Maßnahmen, die die äußere Gestalt eines Baukörpers verändern, werden zumeist den baulichen oder Nutzungsänderungen im Innern zuzuordnen sein. Handelt es sich um solche Maßnahmen, die eine sinnvolle Gebäudenutzung erst ermöglichen, spricht viel dafür, sie dann als geringfügig anzusehen, wenn sie nicht ihrerseits wegen ihres Umfangs die Forderung nahe legen, dem Bauherrn ein Abrücken von der Nachbargrenze abzuverlangen, und wenn sie darüber hinaus die Situation an der Nachbargrenze nicht oder jedenfalls nicht unter abstandrechtlich relevanten Gesichtspunkten verändern. Baumaßnahmen an den Gebäudeseiten, die der abstandflächenrechtlich betroffenen Nachbargrenze abgewandt sind, stellen daher eher geringfügige bauliche Änderungen dar. Aber auch der Nachbargrenze zugewandte bauliche Maßnahmen - die weder Länge noch Höhe der dorthin gerichteten Wände verändern und deshalb der § 6 Abs. 15 BauO NRW immanenten Wertung der Belange von Nachbarn und Bauherrn zugänglich sind - sind erst dann mehr als geringfügig, wenn gerade die Gebäudeveränderung zu einer mehr als geringfügigen Beeinträchtigung der Nachbarsituation beiträgt. Aus diesem Grunde ist etwa die Herstellung architektonischer Gliederungselemente eher geringfügig (vgl. § 6 Abs. 7 BauO NRW). Dasselbe gilt in der Regel für die erstmalige Herstellung von Fensteröffnungen. Auch dürfte eine zu Isolierzwecken hergestellte Bekleidung oder Verblendung von Außenwänden in der Regel unbeachtlich sein (vgl. § 6 Abs. 14 BauO NRW).

Gemessen an diesen Anforderungen sind die vom Kläger durchgeführten baulichen Änderungen im Sinne des § 6 Abs. 15 Satz 1 BauO NRW geringfügig. Soweit sie das Gebäudeinnere betreffen, bleiben sie von vornherein außer Betracht. Die äußeren baulichen Änderungen wirken sich zwar auf das Grundstück der Beigeladenen aus, weil die zehn Dachgaupen zu ihrem Grundstück hin ausgerichtet sind. Sie ändern jedoch die räumliche Ausdehnung des bestehenden Gebäudes im Vergleich zu seinem bereits vor den baulichen Änderungen großen umbauten Volumen nur marginal. Einsichtnahmemöglichkeiten und ästhetische Gesichtspunkte sind für die Bestimmung der räumlichen Ausdehnung eines Gebäudes irrelevant.

Sind bauliche Änderungen als geringfügig einzustufen, ist weiter zu prüfen, ob geringere Tiefen der Abstandflächen unter Würdigung nachbarlicher Belange gestattet werden können. Diesbezüglich hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 24.6.2004 - 7 A 4529/02 -, a.a.O. entschieden, dass für diese Prüfung eine letztlich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierte Abwägung der Interessen des Bauherrn an der baulichen Änderung des bestehenden Gebäudes mit der Schutzbedürftigkeit der nachbarlichen Belange maßgebend ist. Danach sind in die Abwägung die im Einzelfall betroffenen Belange einzustellen. Ferner ist zu berücksichtigen, in welchem Maß die nachbarlichen Belange durch die Änderung beeinträchtigt werden und wie berechtigt das Interesse des Bauherrn daran ist, die Änderung vorzunehmen, obwohl sie zu gewissen tatsächlichen Nachbarbeeinträchtigungen beiträgt. Für die Abwägung von Belang ist namentlich, ob der Nachbar mit einer vergleichbaren baulichen Änderung rechnen oder ob sich umgekehrt der Bauherr darauf einstellen musste, dass der beabsichtigten Änderung gewichtige Nachbarinteressen oder andere öffentlich-rechtliche Vorschriften wie die des Abstandflächenrechts entgegenstehen. Zusätzliche Faktoren können für die Abwägung nach Maßgabe des ihnen im Einzelfall zukommenden Gewichts von Bedeutung sein.

So kann im Rahmen der Prüfung, ob unter Würdigung nachbarlicher Belange geringere Tiefen der Abstandflächen gestattet werden können, von Belang sein, in welchem Ausmaß die vorhandene Bausubstanz noch verwertbar ist, ob die beabsichtigte Nutzungsänderung einen städtebaulichen Missstand verfestigt oder ob eine Veränderung der Bausubstanz dergestalt möglich und zumutbar ist, dass den Anforderungen des Abstandflächenrechts genügt werden kann.

Vgl. zu diesen Aspekten: BVerwG, Urteil vom 16.5.1991 - 4 C 17.90 -, a.a.O.; OVG NRW, Urteil vom 24.6.2004 - 7 A 4529/02 -, a.a.O.

Die Würdigung der nachbarlichen Belange ergibt hier, dass das Interesse des Klägers, die Bausubstanz und Nutzung des "Herrenhauses" zu ändern, die Nachbarinteressen der Beigeladenen überwiegt. Zu Gunsten des Klägers ist in die Abwägung einzustellen, dass die vorhandene Gebäudesubstanz im öffentlichen Interesse Beschränkungen unterworfen ist, weil das "Herrenhaus" in die Denkmalliste eingetragen ist. Die wirtschaftliche Verwertbarkeit des Gebäudes ist besonders zu berücksichtigen, weil durch die Denkmalschutzvorschriften die Variationsbreite möglicher baulicher Änderungen von vornherein eingeschränkt wird und erhebliche Kapitalmehraufwendungen erforderlich werden. Die Änderungen sind mit der zuständigen Denkmalbehörde abgesprochen worden. Der Dachgeschossausbau zu Wohnzwecken ist eine sinnvolle wirtschaftliche Verwertung des "Herrenhauses", die ohne bauliche Änderungen für Belichtungszwecke nicht möglich wäre. Zu Lasten der Beigeladenen fällt ins Gewicht, dass damit nicht nur das Interesse des Klägers, sondern auch öffentliche Interessen betroffen sind. Denn ohne eine angemessene wirtschaftliche Verwertbarkeit der unter Denkmalschutz stehenden Gebäude würden die diesbezüglichen Ziele des Denkmalschutzes gefährdet.

Das Interesse der Beigeladenen, die Beeinträchtigungen ihrer nachbarlichen Belange zu verhindern, muss auch deshalb zurückstehen, weil die unmittelbare Nachbarschaft zu dem denkmalgeschützten "Herrenhaus" eine situationsgebundene Vorbelastung ist. Die Beigeladene hat ihr Wohnhaus auf einem Grundstück errichtet, das ehemals Teil eines Klosterhofs war. Darüber hinaus war objektiv mit der Möglichkeit zu rechnen, dass der ersichtlich große Raum unter dem steilen Dach des "Herrenhauses" ausgebaut werden würde. Da sich im Erd- und Obergeschoss bereits Wohnungen befunden hatten, war objektiv auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass der Dachraum zu Wohnzwecken umgebaut werden würde. Dasselbe gilt aufgrund der nach Süden weisenden Dachfläche auch für die Errichtung von Dachgaupen zum Grundstück der Beigeladenen hin. Die durch Gaupen im Vergleich zu Dachflächenfenstern erhöhte Möglichkeit, das Grundstück der Beigeladenen einsehen zu können, fällt im Rahmen der Abwägung nachbarlicher Belange schon deshalb nicht zu ihren Gunsten ins Gewicht, weil bei einem unter Denkmalschutz stehenden Gebäude zumindest auch, wenn nicht sogar eher, mit dem Einbau von Dachgaupen statt moderner Dachflächenfenster zu rechnen war.

Ende der Entscheidung

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