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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 24.06.2004
Aktenzeichen: 7 A 4529/02
Rechtsgebiete: BauO NRW


Vorschriften:

BauO NRW § 6 Abs. 15
BauO NRW § 63 Abs. 1
BauO NRW § 73
Für die Genehmigungspflichtigkeit einer Nutzungsänderung ist ohne Belang, ob die bisherige Nutzung bestandsgeschützt ist.

Ob eine Nutzungsänderung unter Würdigung nachbarlicher Belange gemäß § 6 Abs. 15 BauO NRW (i.d.F. des Gesetzes vom 9.11.1999) gestattet werden kann, ist auf Grundlage einer am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierten Abwägung der Interessen des Bauherrn an der geänderten Nutzung seines Vorhabens mit der Schutzbedürftigkeit der nachbarlichen Belange zu entscheiden.

Die Gestattung geringerer Abstandflächen für die Nutzungsänderung eines bestehenden Gebäudes setzt eine ursprünglich formell oder materiell legale Nutzung voraus, nicht jedoch, dass die Nutzung, die geändert werden soll, Bestandsschutz genießt.

§ 6 Abs. 15 BauO NRW ermöglicht auch die Nutzungsänderung eines grenzständigen Gebäudes.


Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich im vorliegenden Verfahren gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 17.4.2000 zur Nutzungsänderung des im rückwärtigen Bereich seines Grundstücks Parzelle 129 (Meinolfstraße 5 in Paderborn) stehenden Gebäudes. Das Wohnhaus der Klägerin reicht wie auch das Wohnhaus des Beigeladenen zuzüglich eines kleinen Vorbaus bis in eine Grundstückstiefe von rund 13 m. Beide Wohnhäuser sind grenzständig aneinander gebaut, halten zu den anderen Nachbargrenzen jedoch einen Grenzabstand ein. Der sich in südöstlicher Richtung erstreckende rückwärtige Bereich des Grundstücks der Klägerin wird mit Ausnahme der an der nordöstlichen Grundstücksseite angebauten Garage als Garten genutzt. Zum südwestlich angrenzenden Grundstück des Beigeladenen hat die Klägerin einen Holzflechtzaun errichtet und an diesem entlang eine Reihe Thujen gepflanzt, die zusammen mit dem Holzflechtzaun den Blick auf das Nachbargrundstück vom Gartenbereich aus weitgehend hindern. Von der so genannten Essküche im Erdgeschoss ihres Wohnhauses, die über ein grenznahes Fenster belichtet wird, kann der rückwärtige Bereich des Grundstücks des Beigeladenen ebenso eingesehen werden wie von den Fenstern im Obergeschoss und im Dachgeschoss. Dem Vater des Beigeladenen wurde 1947 die Erlaubnis erteilt, im rückwärtigen Grundstücksbereich eine Schreinereiwerkstatt mit 91 qm Grundfläche zu errichten. Die Schreinerei wurde entsprechend der im Einverständnis mit allen drei Grundstücksnachbarn erteilten Baugenehmigung grenzständig an der rückwärtigen Grundstücksgrenze und zugleich auf jeweils 6,50 m Grundstückslänge grenzständig auch zu den Grundstücken der Klägerin und des gegenüberliegenden Nachbargrundstücks errichtet. Die Belichtung des zu etwa zwei Dritteln unterkellerten Gebäudes erfolgte über sechs Fenster in der nordwestlichen Gebäudeaußenwand. Die Erdgeschossdecke lag in etwa auf Höhe der natürlichen Geländeoberfläche. Ein etwa 1 m tiefer Lichtschacht sollte vor die Kelleraußenwand 0,80 m vortreten. Das Satteldach mit einer Neigung von 350 wurde über drei schmale Gauben belichtet. Zur Grenze des Grundstücks der Klägerin sollte das nächstgelegene Fenster 1,20 m Abstand halten.

Mit Baugenehmigung vom 17.4.2000 genehmigte der Beklagte dem Beigeladenen die "Nutzungsänderung einer Tischlereiwerkstatt (EG) in bewohnbare Räume". Gegenüber der Baugenehmigung aus dem Jahre 1947 sind u.a. folgende bauliche Veränderungen vorgesehen: Der vollständig unterkellerte Erdgeschossbereich, das Souterrain, soll nach den Bauvorlagen einen "Versorgungsraum", ein WC nebst Dusche und eine Küche (mit einem der drei Souterrainfenster) sowie einen Abstellraum aufnehmen. Das Gelände soll vor der Nordwestwand derart abgeböscht werden, dass über drei Fenster das "Souterrain" belichtet und von dort über die vom Erdgeschoss in das Souterrain verlegte Eingangstür das Gebäude betreten werden kann. Die ebenfalls verlegte Kellertreppe dient zugleich als Zugang zum Erdgeschoss. Die Belichtung des Erdgeschosses erfolgt über fünf statt früher sechs Fenster, die versetzt und in der Größe verändert worden sind. Das dem Grundstück der Klägerin nächstgelegene Fenster hat einen Abstand zur Grenze von 1 m. Im Erdgeschoss sind durch Zwischenwände neben einer Dusche nebst WC drei von einem Flur abzweigende Räume (zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer mit zwei Eingangstüren) dargestellt. Das Dach sollte unter Beibehaltung der bisherigen Dachneigung und unter Fortfall der drei Dachgauben neu erstellt werden.

Nach erfolglosem Vorverfahren erhob die Klägerin Klage, die in zweiter Instanz Erfolg hatte.

Gründe:

Die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 17.4.2000 zur Nutzungsänderung einer ehemaligen Tischlereiwerkstatt in bewohnbare Räume und der Widerspruchsbescheid sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in nachbarschützenden Vorschriften des Bauordnungsrechts. Ob die genehmigte Nutzung zum Nachteil der Klägerin auch mit dem von § 34 Abs. 1 BauGB umfassten Gebot der Rücksichtnahme nicht vereinbar ist, bedarf daher keiner Entscheidung.

Das Vorhaben des Beigeladenen ist gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW baugenehmigungspflichtig. Eine Nutzungsänderung ist gemäß § 63 Abs. 1 BauO NRW baugenehmigungspflichtig, soweit in den § 65 bis 67, 79 und 80 BauO NRW - wie hier - nichts anderes bestimmt ist. Eine Nutzungsänderung liegt vor, wenn die der bisher genehmigten Nutzung eigene Variationsbreite verlassen wird und durch die Veränderung bodenrechtliche Belange neu berührt werden können.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 25.3.1988 - 4 C 21.85 -, BRS 48 Nr. 138; OVG NRW, Beschluss vom 11.2.1997 - 10 B 3206/96 -, BRS 59 Nr. 146.

Maßgebend ist, ob sich die neue Nutzung von der bisherigen dergestalt unterscheidet, dass sie andere oder weitergehende Anforderungen bauordnungs- oder bauplanungsrechtlicher Art unterworfen ist oder unterworfen sein kann, d.h. schon dann, wenn die Möglichkeit besteht, dass die Zulässigkeit des geänderten Vorhabens nach den Bauvorschriften anders beurteilt werden kann als das ursprüngliche Vorhaben.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5.6.2001 - 7 A 2024/01 -; Böddinghaus/Hahn/Schulte, BauO NRW, § 63 Rdnr. 64.

Ob die bisherige Nutzung bestandsgeschützt ist, ist hingegen für die Genehmigungspflichtigkeit der Nutzungsänderung ohne Belang.

Das Vorhaben des Beigeladenen kann in bauordnungs- und bauplanungsrechtlicher Hinsicht schon im Hinblick auf die Nutzungsänderung anderen als den bei Genehmigung der Tischlerei geltenden rechtlichen Anforderungen unterliegen. Prüfungserheblich ist insbesondere, ob die Wohnnutzung in dem rückwärtigen Grundstücksbereich mit dem vom Tatbestandsmerkmal des Einfügens im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB (hier in Verbindung mit § 30 Abs. 3 BauGB) umfassten Gebot der Rücksichtnahme vereinbar ist (vgl. §§ 30 Abs. 3, 34 Abs. 1 BauGB) und ob das Vorhaben den sich aus § 6 BauO NRW ergebenden Abstandanforderungen genügt.

Die Nutzungsänderungsgenehmigung ist bereits mit den bauordnungsrechtlichen Abstandregelungen nicht vereinbar.

Gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW sind vor Außenwänden von Gebäuden Flächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten (Abstandflächen). Einer der in § 6 Abs. 1 Sätze 2 und 3 BauO NRW geregelten Fälle, in denen eine Abstandfläche nicht eingehalten werden muss, ist nicht gegeben. Die nähere Umgebung, auf die gemäß §§ 30 Abs. 3, 34 Abs. 1 BauGB abzustellen ist, ist durch die offene Bauweise bestimmt. Es ist öffentlich-rechtlich nicht gesichert, dass auf dem Nachbargrundstück ohne Grenzabstand gebaut wird (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW). Auf dem Nachbargrundstück ist kein Gebäude ohne Grenzabstand vorhanden (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 3 BauO NRW).

Die Verpflichtung, die im Zeitpunkt der genehmigungsbedürftigen Nutzungsänderung geltenden Abstandanforderungen einzuhalten, gilt grundsätzlich auch für bereits vorhandene bauliche Anlagen, die jedoch nach Maßgabe der Voraussetzungen des § 6 Abs. 15 BauO NRW gegenüber neu errichteten baulichen Anlagen abstandrechtlich privilegiert werden. Gemäß § 6 Abs. 15 Satz 1 BauO NRW können bei Nutzungsänderungen sowie bei geringfügigen baulichen Änderungen bestehender Gebäude ohne Veränderung von Länge und Höhe der den Nachbargrenzen zugekehrten Wände unter Würdigung nachbarlicher Belange geringere Tiefen der Abstandflächen gestattet werden, wenn Gründe des Brandschutzes nicht entgegenstehen. Satz 1 gilt nicht für Gebäude nach Abs. 11 Nr. 1 (Satz 2). Die im vorliegenden Verfahren zur Genehmigung gestellte Nutzungsänderung ist ungeachtet der Frage, ob die von der Nutzungsänderungsgenehmigung umfassten baulichen Änderungen noch geringfügig im Sinne der Vorschrift sind, schon deshalb nicht gemäß § 6 Abs. 15 Satz 1 BauO NRW abstandrechtlich privilegiert, weil die zu würdigenden nachbarlichen Belange - hier der Klägerin - der Gestattung einer geringeren als der sich aus § 6 Abs. 1, 4 und 5 ergebenden Tiefe der Abstandfläche entgegenstehen.

Welches Gewicht den nachbarlichen Belangen bei der Prüfung zukommt, ob eine Nutzungsänderung oder eine geringfügige bauliche Änderung gestattet werden kann, obwohl die sich nach geltendem Recht ergebenden Abstandflächen für das Vorhaben nicht zur Verfügung stehen, ergibt sich aus Sinn und Zweck der Vorschrift. Die Abstandregelungen sind auf den Ausgleich der schutzwürdigen und schutzbedürftigen Interessen der benachbarten Grundstückseigentümer unter Berücksichtigung der mit den Abstandregelungen verfolgten öffentlichen Interessen gerichtet und bestimmen damit den Inhalt des Grundeigentums im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 16.5.1991 - 4 C 17.90 -, BVerwGE 88, 191 = BRS 52 Nr. 157.

Die mit § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW verfolgte Verpflichtung, vor Außenwänden von (nicht gemäß § 6 Abs. 11 BauO NRW abstandrechtlich begünstigten) Gebäuden Abstandflächen einzuhalten, soll dem Nachbarn im Hinblick auf die Belichtung, Belüftung, Brandsicherheit und den Sozialabstand ein Mindestmaß an Schutz garantieren und zugleich festlegen, was der Nachbar an Bebauung in welchem Abstand hinzunehmen hat. Werden die durch die Bauordnung in der zur Zeit der Errichtung einer baulichen Anlage geltenden Fassung vorgeschriebenen Grenzabstände, die für den Nachbarn die Zumutbarkeitsschwelle markieren, durch eine bauliche Anlage unterschritten, kann der Betroffene grundsätzlich die Beseitigung dieser baulichen Anlage verlangen.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13.6.2001 - 10 B 574/01 -.

Allerdings trifft die Festlegung einer Mindestabstandfläche den Grundeigentümer, der sein Grundstück erstmals durch die Errichtung eines Gebäudes nutzen will, anders als jenen, der eine vorhandene Gebäudesubstanz lediglich anderweitig nutzen will. Während dem ersteren regelmäßig die Möglichkeit der freien Disposition verbleibt, kann der letztere vor die Entscheidung gestellt sein, ob er eine bisherige Nutzung nur fortsetzen kann, weil jede andere Nutzung ausgeschlossen ist, oder ob er die an sich verwertbare Gebäudesubstanz abreißen und unter Berücksichtigung des neuen Abstandflächenrechts durch eine neue ersetzen soll. In jedem Fall der Nutzungsänderung (oder der geringfügigen baulichen Änderung) dennoch die Einhaltung der gegenüber der früheren Sach- oder Rechtslage vergrößerten Abstandflächen zu fordern, würde den berechtigten Interessen des Eigentümers an der Nutzung verwertbarer Gebäudesubstanz jedoch nicht gerecht. Aus Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ergibt sich vielmehr die Verpflichtung des Gesetzgebers, eine sozial gerechte Eigentumsordnung zu gewährleisten, die die Nutzung einer vorhandenen und verwertbaren Gebäudesubstanz nicht verhindert, wenn dem berechtigte und mehr als geringfügige Belange des Allgemeinwohls oder eines Nachbarn nicht entgegenstehen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 16.5.1991 - 4 C 17.90 -, a.a.O..

Unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Abstandregelungen hat der Gesetzgeber mit dem durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Landesbauordnung vom 9.11.1999, GV NRW 1999, 622 in § 6 eingefügten neuen Abs. 15 den verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleich herbeigeführt. Er hat unter Berücksichtigung öffentlicher Belange den Ausgleich der Interessen der benachbarten Grundstückseigentümer für den Fall geregelt, dass vor den Außenwänden eines bestehenden Gebäudes die im Zeitpunkt der Nutzungsänderung (oder der geringfügigen baulichen Änderung) nach Maßgabe des § 6 Abs. 1 Satz 1 geforderten Abstandflächen nicht zur Verfügung stehen. Das Interesse des Grundeigentümers an einer wirtschaftlich sinnvollen Nutzung einer vorhandenen verwertbaren Gebäudesubstanz und das Interesse des Nachbarn an der Beachtung der Abstände, die aus der Sicht der Bauordnung bei der erstmaligen Errichtung der (in ihrer Nutzung) geänderten baulichen Anlage eingehalten werden müssten, um nicht zumutbare Beeinträchtigungen durch zu dicht an der Nachbargrenze stehende bauliche Anlagen auszuschließen, sind in die Regelung eingegangen.

Am dargelegten Zweck der Regelung ist ihre Anwendung im jeweiligen Einzelfall auszurichten. Der 10. Senat des OVG NRW hat in einem Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit Beschluss vom 1.2.2000 - 10 B 2092/99 -, BRS 63 Nr. 139 = NWVBl. 2001, 138 die Auffassung vertreten, Bezugspunkt der Würdigung nachbarlicher Belange im Sinne des § 6 Abs. 15 BauO NRW sei der verringerte Abstand gegenüber demjenigen, den das Vorhaben sonst einhalten müsste, und die Zumutbarkeit dieser Verringerung angesichts der veränderten Nutzung. Der 7. Senat hat demgegenüber für die Abwägung nachbarlicher Belange allein darauf abgestellt, ob die geänderte Nutzung im Vergleich zur bisherigen Nutzung nachteiligere Auswirkungen auf zumindest einen der durch die Abstandvorschriften geschützten nachbarlichen Belange hat. Wenn dies der Fall sei, müsse die Baugenehmigung in der Regel versagt werden (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 24.4.2001 - 7 B 1473/00 -, BauR 2001, 1407 = BRS 64 Nr. 128). Nach Rücksprache halten die Bausenate des OVG weder an der einen noch der anderen Rechtsansicht fest.

Maßgebend für die Prüfung, ob geringere Tiefen der Abstandflächen unter Würdigung nachbarlicher Belange gestattet werden können, ist eine letztlich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierte Abwägung der Interessen des Bauherrn an der geänderten Nutzung seines Vorhabens mit der Schutzbedürftigkeit der nachbarlichen Belange. In die Abwägung sind die im Einzelfall betroffenen Belange einzustellen und ist zu berücksichtigen, in welchen Maß die nachbarlichen Belange durch eine neue Nutzung beeinträchtigt werden und wie berechtigt das Interesse des Bauherrn daran ist, die Nutzungsänderung vorzunehmen, obwohl sie zu gewissen tatsächlichen Nachbarbeeinträchtigungen beiträgt. Für die Abwägung von Belang ist namentlich, ob der Nachbar mit einer vergleichbaren Nutzung rechnen oder ob sich umgekehrt der Bauherr darauf einstellen musste, dass der beabsichtigten Nutzungsänderung gewichtige Nachbarinteressen oder andere öffentlich-rechtliche Vorschriften als die des Abstandflächenrechts entgegenstehen. Zusätzliche Faktoren können für die Abwägung nach Maßgabe des ihnen im Einzelfall zukommenden Gewichts von Bedeutung sein. Beispielsweise kann von Belang sein, in welchem Ausmaß die vorhandene Bausubstanz noch verwertbar ist, ob die beabsichtigte Nutzungsänderung einen städtebaulichen Missstand verfestigt oder ob eine Veränderung der Bausubstanz dergestalt möglich und zumutbar ist, dass den Anforderungen des Abstandflächenrechts genügt werden kann.

Vgl. auch BVerwG, Urteil vom 16.5.1991 - 4 C 17.90 -, a.a.O. (S. 385f.).

Dem Interesse des Beigeladenen an der genehmigten Nutzungsänderung stehen überwiegende Belange der Klägerin entgegen. Für die Interessenbewertung ist allerdings ohne Belang, ob die Nutzung. die geändert werden soll, noch "Bestandsschutz" genießt. § 6 Abs. 15 stellt darauf ab, dass ein Gebäude "besteht", also tatsächlich vorhanden ist, und nicht darauf, ob die früher einmal genehmigte Nutzung, die allerdings formell oder materiell legal aufgenommen worden sein muss,

vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21.2.2002 - 7 B 1603/01 -; Beschluss vom 24.3.2003 - 10 A 4687/02 -,

weiterhin ausgeübt wird. Ebenso wenig ist von Belang, dass das Gebäude grenzständig errichtet ist. Die Rechtsfolge des § 6 Abs. 15 BauO NRW ist auf eine im Ermessen der Bauaufsichtsbehörde stehende Gestattung "geringerer Tiefen der Abstandflächen" gerichtet, ohne den Gestattungsspielraum auf eine Abstandfläche größer Null zu beschränken.

Zu Gunsten des Beigeladenen ist in die von § 6 Abs. 15 BauO NRW geforderte Abwägung einzustellen, dass die vorhandene Gebäudesubstanz - durch verhältnismäßig geringfügige bauliche Maßnahmen - geeignet ist, eine andere als die genehmigte Tischlereinutzung zu ermöglichen. Die Nachbarn konnten zudem nicht damit rechnen, dass die Gebäudesubstanz nach Aufgabe der Tischlerei keiner Nutzung mehr zugeführt werden würde. Ist eine Gebäudenutzung in nachbarverträglicher Weise möglich und gibt die Gebäudesubstanz eine Nutzungsänderung her, liegt die Annahme durchaus fern, der Bauherr werde nicht um eine wirtschaftlich mögliche Folgenutzung auch dann weiterhin bemüht bleiben, wenn die bisherige Nutzung seit Jahren eingestellt war (was hier einmal zu Gunsten der Klägerin unterstellt werden kann). Zudem ist das Gebäude mit Zustimmung aller angrenzenden Nachbarn und zwar auch mit Zustimmung des Rechtsvorgängers der Klägerin im Grundeigentum, die sich die Klägerin zurechnen lassen muss, errichtet worden. Die Beeinträchtigung abstandflächenrechtlich relevanter Belange durch die in ihrem Ausmaß im Detail streitige Tischlereinutzung ist schließlich jahrzehntelang von den Nachbarn hingenommen worden.

Zum Nachteil des Beigeladenen ist zu berücksichtigen, dass er mit einer Folgenutzung der Tischlerei zu Wohnzwecken schon bei Errichtung des Gebäudes nicht rechnen konnte. Gemäß § 26 Abs. II b der Baupolizeiverordnung war die Nordlage einer Wohnung in allen ihren Teilen verboten. Die Bauordnung für das Land NRW hat an dieser Regelung der Sache nach festgehalten (vgl. § 60 Abs. 3 Satz 2 BauO NRW 1962; nunmehr § 49 Abs. 3 Satz 2 BauO NRW). Die Fenster des hier strittigen Gebäudes weisen nach Nordwesten. Eine Wohnung hat eine reine Nordlage, wenn die Außenwand der Wohnung zwischen Nordost und Nordwest ausgerichtet ist.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7.3.2001 - 7 A 815/01 -.

Ferner spricht die bauplanungsrechtliche Situation gegen die Fortsetzung einer Hauptnutzung im rückwärtigen Grundstücksbereich. (wird ausgeführt)

Erheblich ist aus Sicht des Senats letztlich Folgendes: Die Klägerin hat nicht damit rechnen müssen, dass die Nutzungsänderung der Tischlerei sich in nach außen bemerkbarer Weise auf solche Bereiche des Gebäudes erstreckt, die bei der erstmaligen Errichtung eines Gebäudes aus abstandrechtlichen Gründen von einer Überbauung freizuhalten wäre, obwohl es dem Beigeladenen durch verhältnismäßig geringfügige Änderungen seines Konzeptes möglich (gewesen) ist, diesen Bereich von einer nach außen bemerkbaren Nutzungsänderung auszunehmen. In einem Abstand von etwa 1 m zum Grundstück der Klägerin sieht die Baugenehmigung ein Fenster vor, dass der Belichtung eines Schlafzimmers dienen soll. Ohne weiteres ist es dem Beigeladenen auch möglich (gewesen), den doppelt so großen Wohnraum, der nach den von der Baugenehmigung umfassten Bauvorlagen in dem der Grenze zum Grundstück der Klägerin abgewandten Gebäudebereich eingerichtet werden soll, in den nordöstlichen Gebäudebereich zu verlegen und über ein Fenster außerhalb des abstandrelevanten Bereichs zu belichten. Dass dem Beigeladenen eine solche Anordnung möglich (gewesen) ist, ergibt sich bereits daraus, dass er selbst alle Fensteröffnungen des Gebäudes verändert, die Fensterzahl von sechs auf fünf reduziert und den Hauseingang in das Souterrain verlegt hat.

Die Gewichtung nachbarlicher Belange fällt zum Nachteil des Beigeladenen aus, obwohl die über das Fenster im grenznahen Bereich möglichen Einwirkungen auf das Grundstück der Klägerin verhältnismäßig geringfügig sind. Der Beigeladene weist zwar zu Recht darauf hin, dass zugunsten der Klägerin nur solche Beeinträchtigungen in die Interessenbewertung, ob eine Nutzungsänderung nach § 6 Abs. 15 BauO NRW genehmigt werden kann, einzustellen sind, deren Schutz mit den bauordnungsrechtlichen Abstandbestimmungen bezweckt ist. Nichts anderes ist hier der Fall, denn es geht hier um das von den Abstandbestimmungen geschützte Interesse an der Wahrung eines gewissen Sozialabstandes. Dieses Interesse wird berührt durch die Einwirkungen, die sich aus einer sichtbaren Wohnnutzung hinter dem über ein Fenster belichteten Schlafzimmer, die von dort ausgehenden Lichtimmissionen und auch aus den Einsichtnahmemöglichkeiten von einem Grundstücksbereich her ergeben, von dem aus mit derartigen Einwirkungen bislang nicht gerechnet werden musste. Das die Einsichtnahmemöglichkeiten derzeit im Hinblick auf die an der Grenze errichtete Thujahecke beschränkt sind, mindert das schutzwürdige Interesse der Klägerin, schließt es jedoch nicht aus. Der relativ geringfügigen Beeinträchtigung der Klägerin entspricht auf der anderen Seite, dass es der Beigeladene durch ebenso verhältnismäßig geringfügige Maßnahmen in der Hand hat, die Beeinträchtigungen der Klägerin auszuschließen.

Erweist sich hier, dass dem Vorhaben des Beigeladenen entgegenstehende Belange der Klägerin im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsabwägung überwiegen, ist eine Ermessensentscheidung des Beklagten, dennoch geringere Tiefen der Abstandflächen zu gestatten, ausgeschlossen. Ob er dem Vorhaben andere, rechtlich geschützte Interessen der Klägerin nicht berührende öffentliche Belange entgegenhalten könnte, ist schon deshalb nicht zu prüfen.

Ferner bedarf keiner Entscheidung, ob die vom Beigeladenen durchgeführten baulichen Änderungen noch als geringfügig im Sinne von § 6 Abs. 15 BauO NRW anzusehen sind und ob sich die Klägerin gegenüber mehr als geringfügigen baulichen Änderungen auch dann auf eine Verletzung bauordnungsrechtlicher Abstandbestimmungen berufen könnte, wenn sie durch die baulichen Änderungen nicht in nachbarlichen Belangen berührt wird.

Für das Vorhaben des Beigeladenen kann keine Abweichung gemäß § 73 BauO NRW erteilt werden. § 6 BauO NRW erfasst in seinen Absätzen 13 bis 16 die Fallgruppen, die eine Abweichung rechtfertigen können, und stellt daher ein geschlossenen Regelungssystem dar, das einen Rückgriff auf § 73 BauO NRW ausschließt.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 6.2.2003 - 10 A 3666/99 -; Beschluss vom 23.12.2003 - 7 B 223/04 -.



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