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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 21.12.2006
Aktenzeichen: 7 B 2193/06
Rechtsgebiete: VwGO, BauNVO, BImSchG


Vorschriften:

VwGO § 146 Abs. 4
BauNVO § 15 Abs. 1
BImSchG § 50
Im Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gegen die einem Nachbarn erteilte Baugenehmigung sind entscheidungserhebliche Tatsachen durch das Beschwerdegericht auch dann zu berücksichtigen, wenn sie vom Beschwerdeführer erst nach Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung selbst geschaffen worden sind.

Es kann abwägungsgerecht sein, angrenzend an ein faktisches (reines) Wohngebiet durch Bebauungsplan ein Sondergebiet für die Errichtung von Autohäusern festzusetzen.


Tatbestand:

Die Antragsteller sind Eigentümer eines in einem faktischen (reinen) Wohngebiet gelegenen Einfamilienhausgrundstücks. Angrenzend an das Wohngebiet setzt ein Bebauungsplan ein Sondergebiet für die Errichtung von Autohäusern fest. Die Antragsteller wandten sich im Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Autohauses. Das VG gab dem Antrag statt, da die Baugenehmigung hinsichtlich nachbarrelevanter Umstände unbestimmt sei. Im Beschwerdeverfahren erließ der Antragsgegner antragsgemäß einen sogenannten Ergänzungsbescheid.

Unter Änderung des erstinstanzlichen Beschlusses lehnte das OVG den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ab.

Gründe:

Die Baugenehmigung stellt in der Fassung des "Ergänzungsbescheides" den maßgebenden Streitgegenstand dar, obwohl der "Ergänzungsbescheid" vom Antragsgegner erst im Beschwerdeverfahren erteilt worden ist. Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens sind entscheidungserhebliche Tatsachen, auf die sich der Beschwerdeführer innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) beruft, auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erst nach Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung eingetreten sind. Dies ergibt sich aus dem Zweck des Beschwerdeverfahrens. Das Beschwerdeverfahren hat im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes die Aufgabe einer zweiten Tatsacheninstanz und dient daher der Überprüfung der angefochtenen Entscheidung in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht. Das Beschwerdeverfahren ist mithin dahin ausgerichtet, die im Ergebnis richtige Entscheidung über den Streitgegenstand zu finden. Angesichts dessen sind im Beschwerdeverfahren alle vom Beschwerdeführer dargelegten tatsächlichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die für den Erfolg des angestrebten Rechtsmittels entscheidungserheblich sein können. Dazu gehören auch solche Umstände, die das VG nicht berücksichtigen konnte, weil sie erst nach dessen Entscheidung eingetreten sind. Dies gilt auch dann, wenn - wie hier - der Beschwerdeführer die neue Tatsache selbst geschaffen hat, um dem angegriffenen Beschluss des VG den Boden zu entziehen. Auch insoweit entscheidet sich allein nach materiellem Recht, ob die selbst geschaffene Tatsache im anhängigen Verfahren berücksichtigt werden kann.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 26.3.2004 - 21 B 2399/03 -; Schoch u. a., Verwaltungsgerichtsordnung, Stand April 2006, § 146 Rdnr. 13 c; Sodan u. a., Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl., § 146 Rdnr. 81 f.

Das materielle Recht lässt die antragsgemäße "Ergänzung" einer Baugenehmigung zu (wird ausgeführt).

Allerdings ist dann, wenn die mit der Beschwerde fristgerecht vorgetragenen Bedenken gegen die erstinstanzliche Entscheidung wegen der im Beschwerdeverfahren geänderten Sachlage zutreffend sind, der Beschwerde nicht allein aus diesem Grunde zu entsprechen. Vielmehr ist das Beschwerdegericht dann berechtigt und verpflichtet, das Antragsbegehren auch unter Aspekten zu prüfen, die vom VG bei seiner Entscheidung - aus welchen Gründen auch immer - nicht berücksichtigt worden sind bzw. nicht berücksichtigt werden konnten. Der auch von Verfassungs wegen gebotene effektive Rechtsschutz gebietet es dann, wenn die Beschwerde fristgerecht zutreffende Gründe gegen die erstinstanzliche Entscheidung vorgebracht hat, die weitere Prüfung durch das Beschwerdegericht an denselben Maßstäben auszurichten, wie sie auch ohne die Regelung des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO anzuwenden wären.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18.3.2002 - 7 B 315/02 -.

Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Ausstellungsgebäudes mit Werkstattbereich und Parkdeck verletzt in der Fassung, die sie durch den Ergänzungsbescheid erhalten hat, nach der im vorliegenden Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit keine die Antragsteller schützenden Vorschriften des Bauplanungs- oder des Bauordnungsrechts.

Die vom VG zutreffend dargelegten Bedenken (ob die Baugenehmigung hinsichtlich solcher Merkmale des Vorhabens unbestimmt ist, deren genaue Festlegung erforderlich ist, um eine Verletzung nachbarschützender Rechte der Antragsteller auszuschließen) hat der Antragsgegner durch den die Baugenehmigung ergänzenden Bescheid ausgeräumt (wird ausgeführt).

Nach summarischer Prüfung verletzt die Baugenehmigung in der Fassung des Ergänzungsbescheides auch keine vom VG noch nicht berücksichtigten nachbarschützenden Rechte des Bauplanungsrechts. Das Vorhaben der Beigeladenen steht in Übereinstimmung mit den Festsetzungen des Bebauungsplans. Von der Wirksamkeit eines Bebauungsplans ist im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die einem Dritten erteilte Baugenehmigung grundsätzlich auszugehen, es sei denn, der Bebauungsplan wäre offensichtlich unwirksam. Von einer offensichtlichen Unwirksamkeit des Bebauungsplans kann entgegen der Annahme der Antragsteller keine Rede sein.

Mit ihren Ausführungen zum gewerblichen Charakter der im Bebauungsplangebiet zulässigen Autohäuser und zu einer auf Grundlage des Bebauungsplans (angeblich) entstehenden Gemengelage zwischen dem Wohngebiet (dem das Grundstück der Antragsteller zugehört) und den Sondergebieten "Autohäuser" wollen die Antragsteller der Sache nach wohl vortragen, es sei mit der Abwägungsdirektive des § 50 BImSchG nicht vereinbar, neben einem reinen Wohngebiet ein derartiges Sondergebiet festzusetzen. Jedenfalls sei die Festsetzung der beiden Gebietsarten unter Berücksichtigung der konkreten Betroffenheiten abwägungsfehlerhaft. Eine offensichtliche Unwirksamkeit des Bebauungsplans ergibt sich jedoch auch aus diesen Erwägungen nicht, wobei der Senat zugunsten der Antragsteller in diesem Zusammenhang einmal davon ausgeht, dass die durch den Bebauungsplan festgesetzten Sondergebiete "Autohäuser" einem Gewerbegebiet vergleichbar sind.

Dem in § 50 BImSchG verankerten Trennungsgrundsatz ist kein Verbot in dem Sinne zu entnehmen, gewerbliche Nutzung und Wohnnutzung dürften nie nebeneinanderliegend geplant werden. Gemäß § 50 BImSchG sind bei raumbedeutsamen Planungen die für eine bestimmte Nutzung vorgesehenen Flächen einander so zuzuordnen, dass schädliche Umwelteinwirkungen auf die ausschließlich oder überwiegend dem Wohnen dienenden Gebiete soweit wie möglich vermieden werden. Dieser Bestimmung ist jedoch keine Planungsschranke in dem Sinne zu entnehmen, eine Gemeinde dürfe es schon nicht zum Gegenstand ihrer abwägenden Entscheidung machen, ob nicht insbesondere unter Berücksichtigung der jeweiligen konkreten örtlichen Gegebenheiten und der möglichen Immissionsschutzmaßnahmen ein an ein Gewerbegebiet angrenzendes Wohngebiet festgesetzt werden kann. Vielmehr ist § 50 BImSchG eine der Abwägung unterliegende Planungsdirektive, die der Gemeinde vorgibt, bei der Planung eines neu anzulegenden, einer Wohnbebauung benachbarten Gewerbe- oder Industriegebiets die besondere Schutzbedürftigkeit der Wohnbebauung in die Abwägung einzustellen.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 30.11.1992 - 4 NB 41.92 -, Juris.

Verlangt ist von der Gemeinde allerdings, dass sie durch die Art und Weise der planerischen Festsetzungen den künftigen Konflikt auflösen und damit vermeiden muss. Dazu können beispielsweise auch planerische Festsetzungen gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 24 BauGB gehören. Nach dieser Vorschrift sind bestimmte bauplanerische Festsetzungen zulässig, mit denen schädlichen Umwelteinwirkungen begegnet werden kann.

Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 30.11.1992 - 4 NB 41.92 - und vom 7.7.2004 - 4 BN 16.04 -, BRS 67 Nr. 33 = ZfBR 2005, 71.

Dementsprechend hat der Rat der Stadt gestützt auf schalltechnische Berechnungen detaillierte Festsetzungen zum Schutz gegen schädliche Umwelteinwirkungen in den Bebauungsplan aufgenommen, und zwar unter Berücksichtigung eines angrenzenden reinen Wohngebiets. Zudem hat der Rat der Antragsgegnerin nicht ein reines Gewerbegebiet festgesetzt, sondern Sondergebiete, die einer spezifischen Nutzung zugeordnet sind, für deren Anordnung entlang einer stark befahrenen Bundesstraße ein durchaus plausibles städtebauliches Interesse besteht. Schließlich ist der Planbereich auf Grundlage der vormaligen Fassung des Flächennutzungsplans planerisch dahingehend vorbelastet gewesen, dass mit der Entwicklung von Verwaltungs- und Büronutzung zu rechnen war, denn der Flächennutzungsplan hat jedenfalls noch Ende 2004 für den Bereich des Bebauungsplans ein Sondergebiet mit der Zweckbestimmung Büro und Verwaltung dargestellt. Demgemäß konnten die Bewohner des angrenzenden Wohngebiets nicht damit rechnen, dass der überplante Bereich auf Dauer baulich ungenutzt bleibt. Vielmehr war mit einer Nutzung zu rechnen, die zumindest mit einigem Verkehrsaufkommen verbunden sein konnte (Verwaltungs- und Büronutzung).

Die Anordnung des Bebauungsplangebiets südlich des (faktischen) reinen Wohngebiets und nördlich der B ist auch nicht aus anderen Gründen offensichtlich abwägungsfehlerhaft. Die Antragsteller führen insoweit an, ihnen stünde ein Gebietsgewährleistungsanspruch zu, der in der Abwägung nicht berücksichtigt worden sei, aber hätte berücksichtigt werden müssen. Der Gebietsgewährleistungsanspruch gewährt einen gegebenenfalls abwägungserheblichen Schutz gegenüber der Zulassung gebietsfremder Nutzungen jedoch nur innerhalb des (faktischen) Baugebiets, dem ein Baugrundstück angehört, nicht jedoch gegenüber einer solchen baulichen Entwicklung, die sich - wie hier - außerhalb des eigenen Gebiets vollzieht. Schon gar nicht führt der Bebauungsplan dazu, dass aus der Siedlung nunmehr ein Mischgebiet würde; der Bebauungsplan lässt den baurechtlichen Gebietscharakter der Siedlung unberührt und bestimmt lediglich die zulässigen baulichen Nutzungen im Planbereich.

Ein bauplanungsrechtliches Abwehrrecht der Antragsteller kann sich bei dieser Sachlage, der die Wirksamkeit des Bebauungsplans zugrunde liegt, allenfalls dann ergeben, wenn das Vorhaben der Beigeladenen den Antragstellern gegenüber mit dem von § 15 Abs. 1 BauNVO umfassten Gebot der Rücksichtnahme nicht vereinbar wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall. Vorauszuschicken ist, dass auf das von § 15 Abs. 1 BauNVO umfasste Gebot der Rücksichtnahme nicht abzustellen ist, soweit der durch das Vorhaben betroffene Belang in der die Bebauungsplanfestsetzungen tragenden Abwägung aufgegangen ist. Nur wenn die Festsetzungen eines Bebauungsplans als Ausdruck planerischer Zurückhaltung weniger konkret sind, bleibt für die im Bebauungsplangebiet zulässigen Vorhaben ein durch den Bebauungsplan nicht abgewogener Gestaltungsspielraum und damit auch Raum für die Anwendung des § 15 Abs. 1 BauNVO.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 5.8.1983 - 4 C 96.79 -, BRS 40 Nr. 4 und vom 6.10.1989 - 4 C 14.87 -, BRS 49 Nr. 188.

Jedoch ergibt sich auch hieraus zugunsten der Antragsteller nichts. Gegenstand der den Bebauungsplan tragenden Abwägung war insbesondere auch die immissionsverträgliche Nutzung der geplanten Autohäuser gerade in Bezug auf die Bewohner des nördlich angrenzenden reinen Wohngebiets. Der Abwägung kann nicht entgegengehalten werden, die erforderlichen "Abstandflächen" seien nicht beachtet worden. Die Antragsteller wollen mit ihrem dahingehenden Vortrag offenbar nicht auf die bauordnungsrechtlichen Abstandflächen abheben, die zweifelsfrei eingehalten sind, sondern auf den sog. Abstandserlass, Runderlass des Ministeriums für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft vom 2.4.1998 - V B 5 - 8804.25.1 -, MBl 1998, 744, der sich mit Abständen zwischen Industrie- bzw. Gewerbegebieten und Wohngebieten im Rahmen der Bauleitplanung befasst. Der Abstandserlass schließt jedoch nicht aus, lässt es vielmehr zu, im Wege der Einzelfallbetrachtung namentlich unter Verwertung entsprechender Gutachten für den Einzelfall von anderen Abstandsanforderungen auszugehen (vgl. Nr. 2.4.2.1 b des Abstanderlasses). Hierauf hat der Rat der Stadt in seiner Stellungnahme zu den in das Bebauungsplanverfahren eingebrachten Anregungen bereits zutreffend hingewiesen.

Keine abschließende Abwägung hat der Rat allerdings zur Frage vorgenommen, ob Lichtimmissionen der Vorhaben "Autohäuser" zu Beeinträchtigungen der Antragsteller oder anderer Nachbarn im Norden des Plangebiets führen könnten, die nicht hinzunehmen sind. Er hat in seiner Stellungnahme zu den in das Verfahren eingebrachten Anregungen vielmehr darauf abgestellt, die genannten Aspekte zur Raumaufhellung als auch zur befürchteten Blendwirkung könnten bei Aufstellung des Bebauungsplans noch nicht exakt bestimmt werden und würden im Zuge des Baugenehmigungsverfahrens geprüft. Dass die von den Antragstellern angesprochenen Lichtimmissionen jedoch ein Ausmaß erreichen würden, das als unzumutbar im Sinne des von § 15 Abs. 1 BauNVO umfassten Gebots der Rücksichtnahme anzunehmen sein könnte, ist unwahrscheinlich. Hinsichtlich der Bewertung kommen nach den einschlägigen fachlichen Orientierungshilfen (Lichtimmissionen, Messung, Beurteilung und Verminderung, Gemeinsamer Runderlass des Ministeriums für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, des Ministeriums für Wirtschaft und Mittelstand, Energie und Verkehr und des Ministeriums für Städtebau und Wohnen vom 13.9.2000, MBl. 2000, 1283) namentlich die Aspekte der Aufhellung insbesondere von Wohnräumen und Außenwohnbereichen sowie der Blendung in Betracht.

Vgl. zur Anwendbarkeit der Richtlinie für die Zumutbarkeitsbewertung: OVG NRW, Beschluss vom 26.8.2005 - 7 B 217/05 -.

Die danach für die wesentlichen Aspekte des Betriebs des Autohofes im Baugenehmigungsverfahren erforderliche Bewertung der Lichtimmissionen ist jedoch vom Antragsgegner vorgenommen worden (wird ausgeführt).

Ende der Entscheidung

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