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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 27.03.2003
Aktenzeichen: 7 B 2212/02
Rechtsgebiete: BauGB, BauNVO, BauO NRW


Vorschriften:

BauGB § 9 Abs. 1 Nr. 2
BauGB § 31 Abs. 1
BauNVO § 22 Abs. 2
BauNVO § 22 Abs. 3
BauNVO § 23 Abs. 1
BauNVO § 23 Abs. 2
BauNVO § 23 Abs. 3
BauO NRW § 6 Abs. 1 Satz 1
BauO NRW § 6 Abs. 2 Satz 1
Setzt ein Bebauungsplan die geschlossene Bauweise fest, muss die Reichweite dieser Festsetzung nicht auf die durch Baugrenzen oder Baulinien bestimmte überbaubare Grundstücksfläche beschränkt sein. Die geschlossene Bauweise kann auch hinsichtlich solcher Vorhaben vorgeschrieben sein, für die eine im Bebauungsplan bestimmte Ausnahme deshalb erforderlich ist, weil Gebäudeteile eine Baugrenze überschreiten.
Gründe:

Entgegen der Auffassung der Antragsteller ist dem VG darin beizupflichten, dass das genehmigte Bauvorhaben die Antragsteller nicht in subjektiven Rechten verletzt, insbesondere zu deren benachbartem, mit einem Reihenwohnhaus bebauten Grundstück keine Abstandfläche nach § 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 und Abs. 5 Satz 5 BauO NRW von mindestens 3 m Tiefe auf dem Grundstück der Beigeladenen einhalten muss. Vielmehr ist die Einhaltung einer solchen Abstandfläche nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a) BauO NRW nicht erforderlich. Nach dieser Vorschrift ist innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche eine Abstandfläche vor Außenwänden, die - wie hier nach der erteilten Baugenehmigung - auf der Nachbargrenze errichtet werden, nicht erforderlich, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften das Gebäude ohne Grenzabstand gebaut werden muss.

Dem insoweit bestehenden Vorrang des Bauplanungsrechts entsprechend - vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 11.3.1994 - 4 B 53.94 - BRS 56 Nr. 65 zu § 34 BauGB und vom 12.1.1995 - 4 B 197.94 - BRS 57 Nr. 131 zum Geltungsbereich eines Bebauungsplanes - beurteilt sich dies bei Vorliegen eines Bebauungsplanes - wie hier - nach dessen Festsetzungen zur Bauweise im Sinne von § 22 BauNVO.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 2.3.1990 - 7 B 3427/89 - und vom 28.2.1991 - 11 B 2967/90 - NWVBl. 1991, 265, 266.

Der Bebauungsplan Nr. 42/2 setzt u. a. für die hier in Rede stehenden benachbarten Grundstücke der Antragsteller und der Beigeladenen nur die geschlossene Bauweise im Sinne von § 22 Abs. 3 BauNVO fest. Nach Halbsatz 1 dieser Vorschrift werden die Gebäude in der geschlossenen Bauweise ohne seitlichen Grenzabstand errichtet. Nach der angefochtenen Baugenehmigung soll die eine Gebäudeabschlusswand des Wintergartens grenzständig zum Grundstück der Antragsteller errichtet werden.

Der Bebauungsplan Nr. 42/2 trifft zugleich mit einer Baulinie im Sinne von § 23 Abs. 2 Satz 1 BauNVO für die Vorderfront der zulässigen Bebauung und mit einer Baugrenze im Sinne von § 23 Abs. 3 Satz 1 BauNVO für die rückwärtigen Grundstücksbereiche Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche. Das genehmigte Bauvorhaben überschreitet die rückwärtige Baugrenze um 3 m. Gleichwohl hält es sich nach planungsrechtlichen Grundsätzen innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche, für die die geschlossene Bauweise gilt (§ 6 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a) BauO NRW). Das ergibt sich aus Folgendem:

Unter Bauweise ist die Anordnung der Gebäude auf den Baugrundstücken in Bezug auf die seitlichen Grundstücksgrenzen und damit in Bezug auf die Gebäude auf den insoweit benachbarten Grundstücken zu verstehen.

Vgl. Fickert/Fieseler, Baunutzungsverordnung, 10. Auflage, § 22 Rdnr. 1; Förster, Baunutzungsordnung, 2. Auflage, § 22 Anm. 1; Knaup/Stange, Kommentar zur Baunutzungsordnung, § 22 Rdnr. 1.

Damit greift die Festsetzung der geschlossenen Bauweise nach § 22 Abs. 3 BauNVO über die Errichtung der Gebäude ohne seitlichen Grenzabstand - bezogen auf das jeweilige Bauvorhaben - erst dann, wenn die in Rede stehende Fläche mit einem Gebäude überbaut werden darf.

Der Begriff der überbaubaren Grundstücksfläche ist allein bauplanungsrechtlich zu verstehen. § 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB ermächtigt dazu, durch bauplanerische Festsetzungen aus städtebaulichen Gründen die überbaubaren und die nicht überbaubaren Grundstücksflächen zu bestimmen. Derartige Festsetzungen legen fest, welche Flächen des Grundstücks durch bauliche Anlagen nicht überbaut werden dürfen. Verordnungsrechtlich wiederholt § 23 Abs. 1 Satz 1 BauNVO die Möglichkeit dieser Festsetzung und bestimmt zugleich die planerischen Instrumente, mit denen das Ziel der Festsetzung gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB erreicht werden kann. Danach können die überbaubaren Grundstücksflächen durch Baulinien, Baugrenzen oder Bebauungstiefen bestimmt werden. Aus der in § 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB enthaltenen Gegenüberstellung von überbaubaren und nicht überbaubaren Grundstücksflächen ergibt sich des Weiteren, dass außerhalb der festgesetzten Baulinien, Baugrenzen oder Bebauungstiefen liegende Grundstücksflächen - vorbehaltlich der in § 23 Abs. 2 Sätze 2 und 3, Abs. 3 Sätze 2 und 3 und Abs. 5 BauNVO normierten Sachverhalte - nicht bebaubar sind.

Vgl. zum Vorstehenden: BVerwG, Urteil vom 7.6.2001 - 4 C 1.01 - BauR 2001, 1698, 1699 f. = BRS 64 Nr. 79.

Das wirft die Frage nach dem bauplanungsrechtlichen Verhältnis von geschlossener Bauweise und überbaubarer Grundstücksfläche auf.

Die Frage nach der flächenmäßigen Reichweite der Festsetzung der geschlossenen Bauweise wird in der Kommentarliteratur unterschiedlich beantwortet. Zum Teil wird die Auffassung vertreten, die im Bebauungsplan getroffene Festsetzung über die geschlossene Bauweise beziehe sich stets und nur auf die jeweils überbaubaren Grundstücksflächen, weshalb bestehende hintere Baugrenzen die Reichweite der Festsetzung nach hinten einschränkten - vgl. OVG Berlin, Beschluss vom 28.1.1981 - 2 S 194.80 - BRS 38 Nr. 119; Bielenberg in Ernst/Zinkahn/Bielenberg, Baugesetzbuch, Stand: 1.8.2002, § 22 BauNVO Rdnr. 31; Brügelmann, Baugesetzbuch, Stand 9.2002, § 22 BauNVO Rdnrn. 20, 23, 25; Fickert/Fieseler, a.a.O., § 22 Rdnr. 9 - mit der Folge, dass für die dahinter liegende Grundstücksfläche die offene Bauweise wieder auflebe - so Fickert/Fieseler, a.a.O., § 22 Rdnr. 9 - bzw. die bauordnungsrechtlichen Abstandflächenvorschriften "pur" Geltung beanspruchten; so Brügelmann, a.a.O., § 22 BauNVO Rdnr. 84.

Gegen das Wiederaufleben der offenen Bauweise spricht, dass es sich dabei nicht um eine bauplanungsrechtlich subsidiär Geltung beanspruchende Regelbauweise handelt - so König in König/Roeser/Stock, Baunutzungsverordnung, § 22 Rdnr. 19 - und im Fall ausschließlich festgesetzter geschlossener Bauweise der Bebauungsplan - wie hier - für eine andere Bauweise keinen Raum lässt.

Zum Teil wird die Auffassung vertreten, der Geltungsbereich der festgesetzten geschlossenen Bauweise sei nicht von sich aus auf die überbaubare Grundstücksfläche beschränkt; sie erfasse vielmehr grundsätzlich das gesamte Baugrundstück - so König in König a.a.O. - wobei allerdings den Festsetzungen im Sinne von § 23 BauNVO eine eingrenzende Wirkung in Gestalt der Nichtüberbaubarkeit im Übrigen zukomme; vgl. König in König/Roeser/Stock, a.a.O., § 23 Rdnr. 10.

Schließlich wird vertreten, die Frage der flächenmäßigen Reichweite der Festsetzung der geschlossenen Bauweise lasse sich nicht generalisierend beantworten; der Plangeber habe es in der Hand, die auf das jeweilige einzelne Grundstück bezogene flächenmäßige Geltung der Bauweisenfestsetzung näher zu bestimmen. Im Zweifel beziehe sich die Bauweisenfestsetzung auf die volle Grundstückstiefe.

So Knaup/Stange, a.a.O., § 22 Rdnrn. 14, 16, 35 und § 23 Rdnrn. 18 f., 32.

Die dem vorstehend wiedergegebenen Meinungsstreit zu Grunde liegende abstrakte Frage nach der Reichweite der Festsetzung der geschlossenen Bebauung bedarf im vorliegenden Fall keiner abschließenden Beantwortung.

Trifft der Bebauungsplan Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche mittels Baulinien und Baugrenzen, kann auf der Grundlage dieser Festsetzungen nach § 23 Abs. 2 Satz 2 BauNVO Baulinien betreffend und nach Abs. 3 Satz 2 der Vorschrift Baugrenzen betreffend nach Ermessen eine Abweichung in Gestalt eines geringfügigen Überschreitens zugelassen werden. Die Festsetzung über die geschlossene Bauweise erstreckt sich dann auf die im Einzelfall zusätzlich geringfügig überbaubare Fläche mit der Folge, dass auch insofern nach planungsrechtlichen Grundsätzen ohne - seitlichen - Grenzabstand innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche im Sinne von § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a) BauO NRW gebaut werden muss; denn diese Abweichungsmöglichkeiten haben definitorischen Charakter. Sie gehören wesensmäßig zu den Begriffen Baulinie und Baugrenze und damit auch der überbaubaren Grundstücksfläche und gelten kraft Gesetzes durch Vermittlung einer entsprechenden Festsetzung.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 27.2.1992 - 4 C 43.87 - BRS 54 Nr. 60; vgl. auch OVG Berlin, Beschluss vom 28.1.1981 - 2 S 194.80 - BRS 38 Nr. 119; OVG Rh.-P., Urteil vom 3.12.1998 - 1 A 11826/98 - Juris; Bielenberg, a.a.O., § 23 BauNVO Rdnr. 46; Fickert/Fieseler, a.a.O., § 23 Rdnr. 13.

Hier trifft der Bebauungsplan in der Fassung seiner 1. Ergänzung zusätzlich zu den zeichnerischen Festsetzungen der Baulinien und Baugrenzen unter Nr. 1.1 Buchstabe a) die textliche Festsetzung, dass in den Bereichen der zweigeschossigen Reihenhausbebauung Baugrenzen an den Rückfronten der Gebäude im Bereich des Erdgeschosses um max. 3 m überschritten werden dürfen, wobei nach Nr. 4 der textlichen Festsetzungen eine Nutzung des Bereichs oberhalb der nach Nr. 1.1 zulässigen Erweiterungsmaßnahmen (z. B. Dachterrassen) ausgeschlossen wird.

Dem VG ist darin beizupflichten, dass es sich bei diesen textlichen Festsetzungen um echte Ausnahmeregelungen im Sinne von § 23 Abs. 3 Satz 3 BauNVO handelt. Diese gesetzliche Ermächtigung zur Regelung "weiterer" Ausnahmen im Bebauungsplan bezieht sich nicht nur auf Abweichungen, die mehr als geringfügig sind, sondern erlaubt es der Gemeinde, sowohl geringfügige als auch - wie hier - mehr als geringfügige Abweichungen zuzulassen.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 2.12.2002 - 7a D 177/00.NE - zur insoweit vergleichbaren Vorschrift in § 23 Abs. 2 Satz 3 BauNVO.

Auch wenn es sich bei den textlichen Festsetzungen unter Nrn. 1, 3 und 4 des Bebauungsplanes Nr. 42/2 in der Fassung seiner 1. Ergänzung um Ausnahmen im Sinne von §§ 23 Abs. 3 Satz 3 BauNVO, 31 Abs. 1 BauGB handelt, führt die nach Ermessen im Einzelfall gewährte Ausnahme bzw. das Vorliegen der Voraussetzungen für eine solche Ermessensentscheidung dazu, dass sich die überbaubare Grundstücksfläche auf die Fläche der ausnahmsweise gewährten bzw. zu gewährenden Baugrenzenüberschreitung erweitert mit der Folge, dass auch insoweit die geschlossene Bauweise eingreift und innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche nach planungsrechtlichen Grundsätzen das Gebäude ohne Grenzabstand gebaut werden muss (§ 6 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a) BauO NRW); denn der Grundsatz, dass außerhalb der festgesetzten Baulinien, Baugrenzen oder Bebauungstiefen liegende Grundstücksflächen nicht bebaubar sind, steht nicht nur unter dem Vorbehalt der Abweichungsmöglichkeiten nach § 23 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 Satz 1 BauNVO, sondern auch unter dem Vorbehalt der in Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 3 und Abs. 4 Satz 1 der Vorschrift normierten Sachverhalte.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 7.6.2001 - 4 C 1.01 - a.a.O..

Demnach braucht das genehmigte Bauvorhaben nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a) BauO NRW keine Abstandfläche zu wahren, weil die Voraussetzungen für die nach Ermessen zu erteilende Ausnahme von der Einhaltung der rückwärtigen Baugrenze gegeben sind.

Soweit im Rahmen der Erteilung einer Ausnahme nach §§ 31 Abs. 1 BauGB, 23 Abs. 3 Satz 3 BauNVO nachbarliche Belange nach den Maßstäben des Rücksichtnahmegebotes im Sinne des § 15 BauNVO zu beachten sind, ist dem hier Genüge getan. Das Bauvorhaben ruft entgegen dem Beschwerdevorbringen auf dem Grundstück der Antragsteller keine im Hinblick auf das Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme vor dem Hintergrund baugebietstypischer Schutzbedürftigkeit unzumutbaren Störungen in Form von beeinträchtigter Belichtung und Besonnung hervor (wird ausgeführt).

Ende der Entscheidung

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