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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 18.03.2002
Aktenzeichen: 7 B 315/02
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 146
VwGO § 146 Abs. 4 Satz 1 n.F.
VwGO § 146 Abs. 4 Satz 6 n.F.
1. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO i.d.F. des Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess vom 20.12.2001 (BGBl. I S. 3987) erschwert in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (§§ 80, 80a und 123 VwGO) für den Beschwerdeführer den Zugang zu einer Beschwerdeentscheidung insoweit, als er die erstinstanzliche Entscheidung innerhalb der Monatsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO n.F. mit zutreffenden Gründen in Frage stellen muss, und das OVG bei der Prüfung, ob die erstinstanzliche Entscheidung des VGs Bedenken unterliegt, auf die Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte beschränkt ist; insoweit enthält die Neuregelung der Sache nach Elemente, wie sie im bisherigen Zulassungsrecht enthalten waren.

2. Hat die Beschwerde die erstinstanzliche Entscheidung fristgerecht mit zutreffenden Erwägungen in Frage gestellt, verbleibt es im Übrigen für das Beschwerdegericht bei den Prüfungselementen, wie sie auch bei einer uneingeschränkten Beschwerdemöglichkeit anzuwenden wären.

3. Landwirtschaftsbezogenen Wohngebäuden, die einem praktizierenden landwirtschaftlichen Betrieb zugeordnet sind, sind im unbeplanten Innenbereich höhere Immissionen - hier durch Tierhaltung auf einer unmittelbar benachbarten Hofstelle - zuzumuten als einer uneingeschränkten Wohnnutzung.


Tatbestand:

Der Antragsteller wandte sich gegen einen Beschluss des VG, mit dem sein Begehren auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen eine seinem Nachbarn erteilte Baugenehmigung zurückgewiesen worden war. Die Beschwerde hatte keinen Erfolg.

Gründe:

Die angefochtene Entscheidung des VG begegnet nicht den von der Beschwerde innerhalb der Monatsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO - hier maßgeblich in der Fassung des Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess (RmBereinVpg) vom 20.12.2001 (BGBl. I S. 3987); VwGO n.F. - vorgetragenen Bedenken, auf deren Prüfung der Senat gemäß Satz 6 der genannten Vorschrift beschränkt ist.

Nach § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO n.F. ist die Beschwerde gegen Beschlüsse des VG in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (§§ 80, 80a und 123 VwGO) innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Diese Begründung muss nach Satz 3 der genannten Vorschrift einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen. Satz 6 der angeführten Vorschrift schreibt schließlich ergänzend vor, dass das OVG nur die dargelegten Gründe prüft.

Diese Regelungen sind erst im Vermittlungsverfahren in den Entwurf des RmBereinVpg eingefügt worden. Sie stellen einen Kompromiss dar zwischen dem Regierungsentwurf (BT-Drs. 14/6393) einerseits, der in Art. 1 Nr. 14 eine Streichung der bisherigen Absätze 4 bis 6 des § 146 VwGO und damit unter Abschaffung der für die Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes sowie die Verfahren der Prozesskostenhilfe eingeführten Zulassungsbeschwerde die Wiederherstellung einer uneingeschränkten Beschwerdemöglichkeit vorsah, und dem Gesetzentwurf des Bundesrats (BT-Drs. 14/6856) andererseits, der in Art. 1 Nr. 11 eine Modifizierung der Zulassungsbeschwerde nach den bisherigen Absätzen 4 bis 6 des § 146 VwGO vorsah. Unter Berücksichtigung dieser Entstehungsgeschichte ist die vom Gesetzgeber letztlich beschlossene Kompromisslösung nach Ihrem Sinn und Zweck dahin zu verstehen, dass sie den Beschwerdeführer dazu veranlassen soll, alle aus seiner Sicht gegen die erstinstanzliche Entscheidung sprechenden Gesichtspunkte fristgerecht vorzutragen, und insoweit den Prüfungsumfang des Beschwerdegerichts einschränkt. Dieses soll bei seiner zunächst vorzunehmenden Prüfung, ob die erstinstanzliche Entscheidung des VGs Bedenken unterliegt, auf die Berücksichtigung der Gesichtspunkte beschränkt sein, die mit der Beschwerde fristgerecht vorgetragen wurden.

Hiervon zu trennen ist die weiter gehende Frage, ob das Beschwerdegericht dann, wenn es die gegen die erstinstanzliche Entscheidung fristgerecht vorgetragenen Bedenken für zutreffend hält, durch § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO n.F. gehindert ist, in eine an den für die hier in Rede stehenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes einschlägigen Maßstäben ausgerichtete Prüfung des dem VG unterbreiteten und im Beschwerdeverfahren weiterverfolgten Antragsbegehrens einzutreten. Diese Frage ist zu verneinen. Kommt das Beschwerdegericht auf Grund des Beschwerdevorbringens zu dem Ergebnis, dass die erstinstanzliche Entscheidung des VGs mit der von diesem seiner Entscheidung zu Grunde gelegten Begründung nicht bestätigt werden kann, hat es damit nicht etwa sein Bewenden mit der Folge, dass der Beschwerde ohne weiteres stattzugeben wäre. Vielmehr ist das Beschwerdegericht dann berechtigt und verpflichtet, das Antragsbegehren auch unter Aspekten zu prüfen, die vom VG bei seiner Entscheidung - aus welchen Gründen auch immer - nicht berücksichtigt worden sind. Der auch von Verfassungs wegen gebotene effektive Rechtsschutz gebietet es dann, wenn die Beschwerde fristgerecht zutreffende Gründe gegen die erstinstanzliche Entscheidung vorgebracht hat, die weitere Prüfung durch das Beschwerdegericht an denselben Maßstäben auszurichten, wie sie auch ohne die Regelung des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO n.F. anzuwenden wären.

Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO n.F. für den Beschwerdeführer den Zugang zu einer Beschwerdeentscheidung zwar insoweit erschwert, als er die erstinstanzliche Entscheidung fristgerecht mit zutreffenden Gründen in Frage stellen muss. Insoweit enthält die Neuregelung der Sache nach Elemente, wie sie im bisherigen Zulassungsrecht enthalten waren. Im Übrigen verbleibt es für das Beschwerdegericht jedoch bei den Prüfungselementen, wie sie auch bei einer uneingeschränkten Beschwerdemöglichkeit anzuwenden wären.

Aus dem hiernach vom Senat zu berücksichtigenden fristgerechten Beschwerdevorbringen ergeben sich keine Bedenken gegen die Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses des VG.

Entscheidungserheblich ist hier die Frage, ob das dem Beigeladenen genehmigte Wohnbauvorhaben sich gegenüber dem Antragsteller, der auf dem unmittelbar benachbarten Grundstück einen landwirtschaftlichen Betrieb mit Tierhaltung führt, als rücksichtslos erweist. Dabei hat das VG zu Lasten des Beigeladenen berücksichtigt, dass dieser für sein Wohnhaus, das einem landwirtschaftlichen Betrieb zugeordnet und entsprechend öffentlich-rechtlich durch Baulast gebunden ist, nur einen geringeren Schutz gegenüber Immissionen - gemeint sind dabei landwirtschaftstypische Immissionen vornehmlich durch Gerüche der Tierhaltung - beanspruchen kann als sonstige, nicht landwirtschaftsgebundene Wohnungen. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt maßgeblich von den Gegebenheiten des vom Antragsteller ausdrücklich angesprochenen Verfahrens 7 B 1533/00, das der Senat mit Beschluss vom 3.11.2000 entschieden hat. Gegen den die Entscheidung tragenden Ansatz des VG, einem landwirtschaftsbezogenen Wohngebäude im unbeplanten Innenbereich eine erhöhte Zumutbarkeitsschwelle zuzuordnen, wendet sich die Beschwerde zu Unrecht.

In einem Bereich, der - wie hier - durch das unmittelbare Nebeneinander landwirtschaftlicher Betriebe (mit)geprägt ist, unterliegt die Nachbarschaft landwirtschaftsbezogener Nutzungen anderen Zumutbarkeitsmaßstäben als die unmittelbare Nachbarschaft von landwirtschaftlicher Nutzung einerseits und uneingeschränkter ("normaler") Wohnnutzung andererseits. Dem "normalen" Wohnnutzer ist es im Interesse des eigenen Schutzes zuzumuten, mit seinem Wohnbauvorhaben aus der unmittelbaren Nachbarschaft zu den potenziell störenden landwirtschaftlichen Betriebsanlagen ggf. abzurücken, insbesondere sich nicht im unmittelbaren Nahbereich der für einen landwirtschaftlichen Betrieb mit Tierhaltung typischen "Platzgerüche" anzusiedeln - vgl. hierzu etwa die Ausführungen auf S. 10/11 des Senatsbeschlusses vom 3.11.2000 - 7 B 1533/00 -, wobei es im Hinblick auf den Schutz der benachbarten Landwirtschaft vor eventuellen zusätzlichen Betriebseinschränkungen aus dem Gesichtspunkt der Rücksichtnahme sogar geboten sein kann, auf das (Wohn)Bauvorhaben zu verzichten. Demgegenüber stellt sich die Situation für den Inhaber eines benachbarten landwirtschaftlichen Betriebs anders dar. Dieser kann bei der näheren Ausgestaltung betriebsbezogener Nutzungen auf eine angemessene Berücksichtigung der eigenen betrieblichen Belange nicht verzichten. Demgemäß ist für ihn der Spielraum insbesondere hinsichtlich der Standortwahl betriebsbezogener Gebäude - hierzu gehören auch betriebsbezogene Wohngebäude - regelmäßig enger und beispielsweise auch an Zweckmäßigkeitserwägungen einer sachgerechten Betriebsführung auszurichten. Liegt - wie hier - die eigene Hofstelle in unmittelbarer Nachbarschaft einer anderen Hofstelle, so ist er nicht gehalten, im Interesse der Rücksichtnahme auf den benachbarten Betrieb das eigene betriebsbezogene Gebäude entgegen solchen Zweckmäßigkeitserwägungen - hierzu gehört auch eine räumliche Nähe zwischen den eigenen landwirtschaftlichen Betriebsgebäuden und einem betriebsbezogenen Wohnhaus - von den potenziell störenden Anlagen des benachbarten landwirtschaftlichen Betriebs in gleichem Ausmaß abzurücken oder - wenn dies nicht möglich ist - auf sein (Wohn)Bauvorhaben zu verzichten, wie dies einem "normalen" Wohnnutzer zuzumuten ist. Zwangsläufige Folge dieser geringeren Rücksichtnahmepflicht bei der Standortwahl ist, dass die betriebsbezogene Wohnnutzung unter Rücksichtnahmeaspekten auch eine geminderte Schutzwürdigkeit hat, ihr mithin in stärkerem Ausmaß landwirtschaftstypische Immissionen des benachbarten Betriebs zuzumuten sind, als dies bei "normaler" Wohnnutzung der Fall wäre.

Dafür, dass die hier maßgebliche erhöhte Zumutbarkeitsschwelle überschritten ist, gibt das fristgerechte Beschwerdevorbringen nichts her. Für eine eventuelle Gesundheitsgefährdung ist nichts dargetan. Allein der Umstand, dass möglicherweise in mehr als 50 % der Jahresstunden Gerüche wahrnehmbar sein mögen, vermag eine Unzumutbarkeit jedenfalls für landwirtschaftsbezogenes Wohnen noch nicht ohne weiteres zu begründen. Eine solche Wohnnutzung hat es typischerweise hinzunehmen, dass sie sich auch im näheren Umfeld der landwirtschaftsüblichen "Platzgerüche" befindet. Dies gilt erst recht, wenn es sich hierbei - jedenfalls primär - um Gerüche aus Rinderhaltung handelt, die regelmäßig als weniger belastend empfunden werden.

Vgl. hierzu S. 10 des Senatsbeschlusses vom 3.11.2000 - 7 B 1533/00.

Entgegen der mit der Beschwerdeschrift wiederholten, bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorgetragenen Auffassung des Antragstellers ist auch nicht nach der konkreten Art der Betriebsführung zu differenzieren. Für eine solche Differenzierung besteht kein Anlass. Der Umstand, dass im Betrieb auf dem Grundstück des Beigeladenen keine Tiere - mehr - gehalten werden, sondern Landwirtschaft nur in Form von Ackerbau betrieben wird, ist für den Umfang der Schutzwürdigkeit betriebsbezogener Wohnnutzungen auf dem Betriebsgrundstück ohne Belang. Entscheidend für die zu Lasten des Vorhabens des Beigeladenen erhöhte Zumutbarkeitsschwelle ist vielmehr allein die Zuordnung dieses Vorhabens zu einem weiterhin praktizierenden landwirtschaftlichen Betrieb.

Ende der Entscheidung

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