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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 22.07.2002
Aktenzeichen: 7 B 508/01
Rechtsgebiete: BauO NRW


Vorschriften:

BauO NRW § 17 Abs. 3
BauO NRW § 87 Abs. 1
1. Mit der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen 1984 wurden die Anforderungen an den zweiten Rettungsweg bei Gebäuden dahingehend verschärft, dass bei fehlender Einsatzmöglichkeit der von der Feuerwehr vorgehaltenen Rettungsgeräte für jede Nutzungseinheit taugliche bauliche Vorkehrungen zu treffen sind (Abkehr von OVG NRW, Beschluss vom 28.12.1994 - 7 B 2890/94 -, BRS 57 Nr. 245).

2. Notleitern mit Rückenschutz gemäß DIN 14094 können taugliche Vorkehrungen zur Sicherstellung des zweiten Rettungswegs sein.

3. Die Bauaufsichtsbehörde kann gemäß § 87 Abs. 1 iVm § 17 Abs. 3 BauO NRW auch bei bestandsgeschützten baulichen Anlagen nachträglich die Anlage von Notleitern als zweiter Rettungsweg fordern.


Tatbestand:

Der Antragsteller wandte sich gegen eine Ordnungsverfügung des Antragsgegners, mit der ihm unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aufgegeben worden war, an seinem Wohnhaus eine Nottreppe als 2. Rettungsweg anzubringen. Das VG gab dem Begehren des Antragstellers auf einstweiligen Rechtsschutz statt. Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Antragsgegners hatte Erfolg.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Der Antragsgegner konnte gestützt auf §§ 3 Abs. 1, 17 Abs. 3 iVm § 87 Abs. 1 BauO NRW gegen den Antragsteller mit dem Ziel der Schaffung eines zweiten Rettungswegs - hier durch Errichtung von Notleitern mit Rückenschutz an der Rückfront des Gebäudes W. 134 - einschreiten.

Nach § 87 Abs. 1 BauO NRW können die Bauaufsichtsbehörden verlangen, dass rechtmäßig bestehende Anlagen, die nicht den Vorschriften der Bauordnung oder den auf ihrer Grundlage erlassenen Vorschriften entsprechen, diesen Vorschriften angepasst werden, wenn dies im Einzelfall wegen der Sicherheit für Leben oder Gesundheit erforderlich ist. Damit erstreckt sich der Anwendungsbereich der Vorschrift auf bestandsgeschützte Anlagen in jenen Fällen, in denen eine Verschärfung der Anforderungen an diese Anlagen im Verhältnis zu dem bei der Errichtung maßgeblichen Bauordnungsrecht eingetreten ist.

Vgl.: OVG NRW, Urteil vom 28.8.2001 - 10 A 3051/99 -, BauR 2002, 763 (764).

Sinn dieser Regelung ist es, dem aus Art. 14 Abs. 1 GG abgeleiteten Bestandsschutz Rechnung zu tragen. Der Eigentümer einer baulichen Anlage soll ein im Einklang mit dem seinerzeit geltenden Recht ausgeführtes Vorhaben auch dann unverändert weiter nutzen können, wenn neue bauordnungsrechtliche Vorschriften diesem Vorhaben, sollte es jetzt errichtet werden, entgegenstünden. Die Bauaufsichtsbehörde soll gestützt auf § 87 Abs. 1 BauO NRW deshalb die Anpassung an die neue Rechtslage nur bei entsprechend gewichtigen öffentlichen Belangen, nämlich nur dann fordern dürfen, wenn dies im Einzelfall wegen der Sicherheit für Leben und Gesundheit erforderlich ist.

Vgl.: OVG NRW, Urteil vom 15.7.2002 - 7 A 3098/01 -.

Die Voraussetzungen des § 87 Abs. 1 BauO NRW für das Einschreiten des Antragsgegners liegen ersichtlich vor.

Hinsichtlich der hier in Rede stehenden Anforderungen an einen zweiten Rettungsweg haben sich, wie der Antragsgegner zu Recht angenommen hat, die Anforderungen der nunmehr geltenden Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen verschärft.

Das Gebäude W. 134 ist nach Aktenlage vor Inkrafttreten der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 25.6.1962 (GV. NRW. S. 373) - BauO NRW 1962 - genehmigt worden, nämlich mit Bauschein vom 8.7.1960. Seinerzeit war für das Gebiet der Stadt D. die Bauordnung für das Gebiet des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk einschlägig. Sowohl die Bauordnung für das Gebiet des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk als auch die späteren Fassungen der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen bis vor Inkrafttreten der Bauordnung vom 26.6.1984 (GV. NRW. S. 419) - BauO NRW 1984 - sahen zwar insoweit Anforderungen an einen zweiten Rettungsweg vor, als sie Regelungen enthielten, wonach insbesondere mit Blick auf die Möglichkeiten des Einsatzes von Löschgeräten sowie der Rettung von Personen durch die Feuerwehr bestimmte Anforderungen an die Zugänglichkeit der Gebäudevorderseite wie auch des Hintergeländes von Baugrundstücken gestellt wurden. In der Bauordnung für das Gebiet des Siedlungsverbands Ruhrkohlenbezirk waren insoweit insbesondere die Absätze 3 bis 7 des § 6 A (Zugang zu den Grundstücken) einschlägig. Unter Geltung der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen fanden sich vergleichbare Regelungen in § 4 und 6 BauO NRW 1962 wie auch der späteren Fassungen der Bauordnung vor der BauO NRW 1984, die durch den Grundsatz des seinerzeitigen § 18 Abs. 1 BauO ergänzt wurden, dass bei einem Brand wirksame Löscharbeiten und die Rettung von Menschen und Tieren möglich sein müssten. Dabei waren die in der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen selbst geregelten Anforderungen an die Einsatzmöglichkeiten von Rettungsgeräten der Feuerwehr in § 2 der Allgemeinen Verordnung zur Landesbauordnung vom 16.6.1975 (GV. NRW. S. 482) - AVO BauO NRW - präzisiert worden, wobei § 13 Abs. 3 der AVO BauO NRW zusätzliche Mindestmaße für Öffnungen in Fenstern vorsah, die als Rettungswege für Menschen dienen.

Diese Grundsätze wurden erstmals durch die Regelungen des an die Stelle des bisherigen § 18 tretenden § 17 BauO NRW 1984 dahin geändert, dass als zweiter Rettungsweg in den Fällen, in denen kein Sicherheitstreppenraum vorhanden ist, entweder eine zweite notwendige Treppe - also eine bauliche Maßnahme - oder eine mit Rettungsgeräten der Feuerwehr erreichbare Stelle gefordert wurde. Damit wurde die bisherige Regelung "verlassen" und dem Umstand Rechnung getragen, dass es der Feuerwehr in vielen Fällen nicht möglich war, mit den Leitern, die zu ihrer Standardausrüstung gehören, eine ausreichende Rettungsmöglichkeit zu gewährleisten.

Vgl. hierzu die Amtliche Begründung zum Gesetzentwurf der BauO NRW 1984 in LT-Drucks. 9/2721, S. 79.

Aus den Regelungen der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen 1984 lässt sich danach als neuer, die Anforderungen verschärfender Grundsatz ableiten, dass in den Fällen, in denen der Einsatz der von der Feuerwehr vorgehaltenen Rettungsgeräte - tragbare Leitern wie auch der Einsatz von fahrbaren Drehleitern - trotz Einhaltung der gesetzlich vorgegebenen Anforderungen an die Zugänglichkeit der Gebäude auf dem Baugrundstück nicht ausreichend möglich ist, bauliche Vorkehrungen getroffen werden müssen. Zugleich verlangte § 17 BauO NRW erstmals ausdrücklich, dass jede "Nutzungseinheit mit Aufenthaltsräumen" in jedem Geschoss über zwei voneinander unabhängige Rettungswege erreichbar sein müsse.

Bezogen auf die Neuregelungen des § 17 BauO NRW 1984 findet sich in der Rechtsprechung des Senats allerdings die Aussage, "nach summarischer Prüfung" sei das Erfordernis zweier voneinander unabhängiger Rettungswege " in § 17 Abs. 3 BauO NW 1984 lediglich erstmalig eindeutig und ausdrücklich festgeschrieben worden", eine Verschärfung gegenüber den vorhergehenden Regelungen sei darin jedoch nicht enthalten.

So ausdrücklich: OVG NRW, Beschluss vom 13.7.1990 - 7 B 855/90 - (insoweit in BRS 50 Nr. 202 nicht abgedruckt), bestätigt durch OVG NRW, Beschluss vom 28.12.1994 - 7 B 2890/94 -, BRS 57 Nr. 245.

An dieser Wertung hält der Senat nach erneuter Überprüfung jedoch nicht fest. Mit der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen 1984 wurde der bisherige Grundsatz, den zweiten Rettungsweg für gefährdete Personen mit den von der Feuerwehr vorgehaltenen Rettungsgeräten sicherzustellen, vielmehr dahin geändert, dass bei fehlender Einsatzmöglichkeit solcher Rettungsgeräte für jede Nutzungseinheit taugliche bauliche Vorkehrungen zu treffen sind. Auf der Grundlage der §§ 87 Abs. 1 i.V.m. 17 Abs. 3 BauO NRW können daher wegen einer Verschärfung der Rechtslage auch bei bestandsgeschützten baulichen Anlagen nachträglich bauliche Vorkehrungen am Gebäude verlangt werden, wenn der zweite Rettungsweg über die von der Feuerwehr vorgehaltenen Rettungsgeräte nicht für jede Nutzungseinheit möglich ist und die Vorkehrungen zum Schutz vor Gefahren für Leben und Gesundheit geboten sind.

Die letztgenannten Vorausetzungen liegen hier ersichtlich gleichfalls vor.

Die von der strittigen Ordnungsverfügung erfassten, als jeweils selbständige Nutzungseinheit zu wertenden Apartments im 1. bis 4. Obergeschoss des Hauses W. 134 genügen den Anforderungen des § 17 Abs. 3 BauO NRW ersichtlich nicht. Sie verfügen nur über einen ersten Rettungsweg durch das zentrale Treppenhaus, das unstreitig die Voraussetzungen eines Sicherheitstreppenraums nicht erfüllt. Ein zweiter Rettungsweg in Form einer weiteren Treppe oder einer für die Feuerwehr mit Rettungsgeräten erreichbaren Stelle ist nicht vorhanden. (Wird ausgeführt)

Auf Grund dieser Situation ist auch die zum Einschreiten nach § 87 Abs. 1 BauO NRW erforderliche konkrete Gefahr ersichtlich zu bejahen.

Eine solche konkrete Gefahr liegt vor, wenn aus einer tatsächlich vorhandenen Situation hinreichend wahrscheinlich eine Gefährdung der bedrohten Rechtsgüter folgt. Gerade in dem jeweiligen Einzelfall muss in überschaubarer Zukunft mit einem Schadenseintritt zu rechnen sein. Dabei hängen die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit von der Qualität des möglicherweise eintretenden Schadens ab. Bei Gefährdungen von Leben oder Gesundheit als geschützten Rechtsgütern sind an die Feststellung der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts keine übermäßig hohen Anforderungen zu stellen.

Vgl.: BVerwG, Urteil vom 6.6.1970 - IV C 99.67 -, NJW 1970, 1890.

In der hier gegebenen Konstellation ist zu berücksichtigen, dass mit der Entstehung eines Brandes praktisch jederzeit gerechnet werden muss. Der Umstand, dass in vielen Gebäuden jahrzehntelang kein Brand ausgebrochen ist, beweist nicht, dass insoweit keine Gefahr besteht, sondern stellt für die Betroffenen lediglich einen Glücksfall dar, mit dessen Ende jederzeit gerechnet werden kann.

Vgl. auch hierzu: OVG NRW, Urteil vom 28.8.2001 - 10 A 3051/99 -, BauR 2002, 763 (765 f) m.w.N..

Kommt es zu einem solchen, jederzeit möglichen Brand, ist auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit einer Gefährdung von Leben und Gesundheit der Personen zu rechnen, die sich in den hier in Rede stehenden Apartments aufhalten. (Wird ausgeführt)

Die Inanspruchnahme des Antragstellers konnte nach alledem schon auf § 87 Abs. 1 i.V.m. § 17 Abs. 3 BauO NRW gestützt werden, sodass keiner weiteren Erörterung bedarf, inwieweit ggf. auch auf der Grundlage des § 61 BauO NRW (i.V.m. § 14 OBG NRW) eingeschritten werden kann, um Gefahren bei bestandsgeschützten Gebäuden zu begegnen.

Vgl. hierzu nunmehr: OVG NRW, Urteil vom 15.7.2002 - 7 A 3098/01 -.

Das Einschreiten des Antragsgegners unterliegt auch im Übrigen ersichtlich keinen durchgreifenden Bedenken.

Mit der Forderung, "Notleitern mit Rückenschutz" anzubringen, ist die Ordnungsverfügung hinreichend bestimmt. Da es für Notleitern, die insbesondere der Rettung von Personen im Brandfall dienen sollen, einschlägige technische Vorschriften - hier die DIN 14094 - gibt, ist selbstverständlich davon auszugehen, dass die vom Antragsgegner geforderte Notleiter diesen Anforderungen genügen soll; ggf. kann eine Klarstellung der Ordnungsverfügung auch im noch anhängigen Widerspruchsverfahren erfolgen. Bei der geforderten Notleiter handelt es sich hiernach nicht nur um eine einfache Leiter, die mit Rückenschutzbügeln und -streben versehen ist. Bestandteil von Notleitern gemäß DIN 14094 sind auch Podeste mit Absturzsicherungen, die in den Bereichen, etwa vor Fenstern bzw. Balkonen, anzubringen sind, in denen das Gebäude verlassen werden kann, und an der Außenseite des Gebäudes zu der Leiter selbst führen.

Eine solche Notleiter ist in der hier vorliegenden Fallkonstellation auch nicht etwa ein von vornherein untaugliches Mittel, als zweiter Rettungsweg zu dienen. Der baulich anzulegende zweite Rettungsweg soll hier als Ersatz für den nicht möglichen Einsatz der von der Feuerwehr regelmäßig vorgehaltenen Rettungsgeräte wie transportablen Leitern bzw. Drehleitern eine Erreichbarkeit der gefährdeten Gebäudebereiche in den Fällen sicherstellen, in denen der erste Rettungsweg - hier über das Treppenhaus - im Brandfall nicht nutzbar ist. Dabei kommt es auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalls an, ob eine Notleiter der vorbezeichneten Art nach der DIN 14094 noch ausreicht oder etwa eine zur Selbstrettung leichter benutzbare Spindeltreppe als Außentreppe zu fordern ist. Letzteres ist insbesondere dann zu erwägen, wenn nach den bestehenden baulichen Gegebenheiten im Falle der Unpassierbarkeit des gebäudeinternen Zugangs von der Vorderseite die gefährdeten Personen, die sich in allein rückwärtig gelegenen Nutzungseinheiten befinden, auf eine Selbstrettung ohne jegliche fachkundige Mithilfe angewiesen sind.

Zu einer solchen Fallkonstellation vgl.: OVG NRW, Urteil vom 28.8.2001 - 10 A 3051/99 -, BauR 2002, 763 (767).

Hier geht es jedoch um eine Rettung aus rückwärtigen Nutzungseinheiten, die zu einem offenen, frei zugänglichen Bereich hin ausgerichtet sind, sodass den gefährdeten Personen über die Notleiter ggf. fachkundige Hilfe bei der Rettung zuteil werden kann, wie sie im Übrigen etwa auch beim Einsatz von Rettungsgeräten der Feuerwehr (beweglichen Leitern bzw. Drehleitern) erfolgen würde.

Für sonstige durchgreifende Bedenken gegen die Tauglichkeit der geforderten Notleiter liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte vor.

Ende der Entscheidung

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