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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 28.11.2007
Aktenzeichen: 8 A 2325/06
Rechtsgebiete: BauGB, BImSchG, VwGO


Vorschriften:

BauGB § 35
BauGB § 36
BImSchG § 67 Abs. 9 Satz 1
VwGO § 113 Abs. 1 Satz 1
1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung einer auf Aufhebung einer Baugenehmigung gerichteten Anfechtungsklage ist der Zeitpunkt der Genehmigungserteilung. Dies gilt auch für die Anfechtungsklage einer Gemeinde.

2. Mit Eintritt der Einvernehmensfiktion gemäß § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB verliert die Gemeinde die Berechtigung, die bauplanungsrechtliche Unzulässigkeit des genehmigten Vorhabens geltend zu machen. Das gilt jedenfalls für Umstände, die bereits zu diesem Zeitpunkt die Verweigerung des Einvernehmens gerechtfertigt hätten.

3. Wird eine Gemeinde im Baugenehmigungsverfahren nicht gemäß § 36 Abs. 1 BauGB beteiligt, hat sie bereits deshalb einen Anspruch auf Aufhebung der Baugenehmigung.


Tatbestand:

Die Klägerin, eine Gemeinde, wandte sich gegen die Erteilung von drei Baugenehmigungen, mit denen der Beklagte der Beigeladenen die Errichtung von jeweils einer Windkraftanlage auf ihrem Gemeindegebiet genehmigte. Im Rahmen der Baugenehmigungsverfahren ersuchte der Beklagte die Klägerin um ihr Einvernehmen, welches diese weder fristgerecht erteilte noch versagte. Nach Ablauf der Frist zur Erteilung des Einvernehmens verschob die Beigeladene den Standort der Windkraftanlagen 1 und 2. Der Beklagte genehmigte die drei Windkraftanlagen, ohne die Klägerin hinsichtlich der Windkraftanlagen 1 und 2 erneut um ihr Einvernehmen zu ersuchen. Die Klägerin macht geltend, sie habe ihr Einvernehmen nicht zu den genehmigten Windkraftanlagen erteilt, die genehmigten Windkraftanlagen seien bauplanungsrechtlich unzulässig. Die Klage hatte in zweiter Instanz teilweise Erfolg.

Gründe:

I. Die für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Maßnahmen maßgebliche Sach- und Rechtslage beurteilt sich nach dem jeweils heranzuziehenden materiellen Fachrecht. Dies ist bei der Anfechtungsklage im Allgemeinen zwar die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 4.7.2006 - 5 B 90.05 -, juris, Rn. 60.

Dieser Grundsatz findet jedoch für Fälle baurechtlicher Nachbarklagen keine Anwendung. Vielmehr ist hier auf den Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung an den Bauherrn abzustellen. Erhält der Bauherr eine ihm nach dem im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes geltenden Recht zustehende Baugenehmigung, so erlangt er eine Rechtsposition, die von einem Dritten nicht im Rechtsbehelfswege beseitigt werden kann. Eine spätere, dem Bauherrn nachteilige Änderung der Sach- oder Rechtslage erlaubt es nicht, dem Bauherrn rechtens eingeräumte Rechtspositionen zu entziehen.

Gerade das Bodenrecht ist durch Vorschriften gekennzeichnet, die dem Bauherrn eingeräumte Rechtspositionen trotz Änderung der Sach- oder Rechtslage belassen oder zumindest nicht entschädigungslos entziehen. So bestimmt § 14 Abs. 3 BauGB unter anderem, dass Vorhaben, die vor dem Inkrafttreten der Veränderungssperre baurechtlich genehmigt worden sind, von der Veränderungssperre nicht berührt werden. § 42 Abs. 6 BauGB sieht einen über den Vertrauensschaden nach § 49 Abs. 6 Satz 1 VwVfG hinausgehenden Entschädigungsanspruch beispielsweise dann vor, wenn vor Ablauf von sieben Jahren ab Zulässigkeit der Nutzung eine Baugenehmigung erteilt worden ist und der Eigentümer das Vorhaben infolge der Aufhebung oder der Änderung der zulässigen Nutzung des Grundstücks nicht mehr verwirklichen kann.

Weiter ist zu berücksichtigen, dass der Bauherr in der Regel bereits vor dem Gebrauchmachen von einer Genehmigung, also noch bevor sein Vorhaben ausgeführt und damit bestandsgeschützt ist, erhebliche Investitionen aufbringen muss, ohne übersehen zu können, ob und wann von einem für ihn möglicherweise nicht einmal erkennbaren Dritten ein Widerspruch zu erwarten ist, der bei einer Rechtsänderung während des vielleicht längere Zeit andauernden Widerspruchsverfahrens Erfolg haben müsste und der seine Investitionen verloren gehen ließe.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 19.9.1969 - 4 C 18.67 -, DVBl. 1970, 62 (63), und vom 14.4.1978 - 4 C 96 und 97.76 -, DVBl. 1978, 614 (615), sowie Beschluss vom 23.4.1998 - 4 B 40.98 -, NVwZ 1998, 1179; Bay. VGH, Urteil vom 30.10.1986 - 2 B 86.01790 -, BayVBl. 1987, 210 (211 f.), und Beschluss vom 13.3.1996 - 1 CS 96.638 -, BayVBl. 1996, 471; Hess. VGH, Beschluss vom 27.9.2004 - 2 TG 1630/04 -, ZNER 2004, 365 (366 f.); Thür. OVG, Urteil vom 17.6.1998 - 1 KO 1040/97 -, NuR 2000, 478.

Das gilt auch dann, wenn die Anfechtung seitens der Gemeinde unter Berufung auf ihre Planungshoheit erfolgt.

Vgl. Bay. VGH, Urteil vom 30.10.1986 - 2 B 86.01790 -, a.a.O., und Beschluss vom 13.3.1996 - 1 CS 96.638 -, a.a.O.; Hess. VGH, Beschluss vom 27.9.2004 - 2 TG 1630/04 -, a.a.O., Thür. OVG, Urteil vom 17.6.1998 - 1 KO 1040/97 -, a.a.O.

Die Berufungsbegründung gibt keinen Anlass, hiervon abzuweichen und für gemeindliche Abwehrklagen auf einen späteren Zeitpunkt abzustellen. Die Frage nach dem für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist nicht von dem Gewicht des Interesses abhängig, das die Gemeinde gegen die Baugenehmigung vorbringt. Dass insbesondere die Berufung auf die gemeindliche Planungshoheit nicht geeignet ist, von dem für baurechtliche Nachbarklagen geltenden Grundsatz abzuweichen, zeigt auch § 14 Abs. 3 BauGB, der dem Interesse des Bauherrn an der Verwirklichung seines Vorhabens gegenüber der Planungshoheit der Gemeinde den Vorrang einräumt, wenn das Vorhaben vor Inkrafttreten der Veränderungssperre baurechtlich genehmigt wurde.

II. Ein Anspruch auf Aufhebung der Baugenehmigung für die Windkraftanlage 3 steht der Klägerin nicht zu. Das Einvernehmen der Klägerin gilt hinsichtlich der Windkraftanlage 3 als erteilt (1.). Mit Eintritt der Einvernehmensfiktion verlor die Klägerin die Berechtigung, Umstände geltend zu machen, die bereits zu diesem Zeitpunkt die Verweigerung des Einvernehmens gerechtfertigt hätten (2.). Nachträglich entstandene, sie zur Verweigerung des Einvernehmens berechtigende Umstände lagen nicht vor (3.).

1. Das Einvernehmen der Klägerin gilt auf Grund der Einvernehmensfiktion gemäß § 36 Abs. 2 Satz 2 - BauGB 1997 - als erteilt. Die in § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB 1997 normierte zweimonatige Einvernehmensfrist begann mit dem Eingang des Ersuchens bei der Klägerin am 15.11.2000 zu laufen.

Dies gilt selbst dann, wenn dem Ersuchen nicht alle für die planungsrechtliche Beurteilung maßgeblichen Unterlagen, insbesondere die Schall- und Schattenwurfprognosen, beigefügt waren. Zwar ist dies grundsätzlich Voraussetzung für den Fristbeginn. Die Klägerin hat sich jedoch nicht innerhalb der Frist von zwei Monaten auf das Fehlen von Unterlagen berufen. Lässt die Gemeinde die zweimonatige Einvernehmensfrist verstreichen, ohne - was ihr obläge - mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegenüber dem Bauherrn oder der Baugenehmigungsbehörde auf das Nachreichen bestimmter Bauvorlagen hinzuwirken, gilt ihr Einvernehmen nach Ablauf von zwei Monaten unabhängig von der Vollständigkeit der dem Ersuchen beigefügten Unterlagen als erteilt.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 16.9.2004 - 4 C 7.03 -, BVerwGE 122, 13 (18); Söfker, in: Ernst/Zinkahn/ Bielenberg, BauGB, Kommentar, Bd. 2, Stand: 1.5.2007, § 36 Rn. 38.

Ausgehend von dem Zugang des Ersuchens ist die Frist für die Erteilung des Einvernehmens hinsichtlich der Windkraftanlage 3 am 15.1.2001 (Montag) abgelaufen.

Innerhalb der Einvernehmensfrist hat die Klägerin ihr Einvernehmen nicht verweigert. Ihr Schreiben vom 9.1.2001 ist nicht als Verweigerung des Einvernehmens zu verstehen. Die Klägerin hat in diesem Schreiben deutlich gemacht, dass hinsichtlich des Einvernehmens noch keine Entscheidung getroffen worden sei, und vor diesem Hintergrund lediglich um Fristverlängerung gebeten. Dem aber konnte nicht entsprochen werden, weil die Einvernehmensfrist mit Blick auf ihren Zweck nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten steht und somit auch nicht verlängerbar ist.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 12.12.1996 - 4 C 24.95 -, DÖV 1997, 550 (551).

Es bedurfte nicht deshalb eines erneuten Ersuchens um das gemeindliche Einvernehmen, weil - wie die Klägerin meint - mit der Baugenehmigung vom 18.10.2001 im Hinblick auf die beigefügten Nebenbestimmungen eine andere Windkraftanlage genehmigt worden ist als jene, für die das Einvernehmen als erteilt galt.

Das Einvernehmen im Sinne des § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB 1997 erfasst das Vorhaben, wie es der Klägerin unterbreitet wurde.

Vgl. BayVGH, Urteil vom 18.4.1989 - 20 B 88.585 -, BayVBl. 1989, 689 (691); Söfker, a.a.O., § 36 Rn. 34.

Ist das der Gemeinde unterbreitete Vorhaben in seiner konkreten Ausgestaltung nicht eindeutig, etwa weil dem Ersuchen nicht alle für die planungsrechtliche Beurteilung erforderlichen Unterlagen beigefügt sind, so bezieht sich das Einvernehmen der Gemeinde auf die gesamte bauplanungsrechtliche Spannbreite des Vorhabens, die sich aus der fehlenden Vorlage der Unterlagen ergibt. Dies folgt aus der Eigenverantwortlichkeit der Gemeinde als betroffener Gebietskörperschaft und Trägerin der Planungshoheit. Diese berechtigt die Gemeinde, zum Zweck der bauplanungsrechtlichen Beurteilung eine weitere Konkretisierung des Vorhabens zu verlangen, indem sie die aus ihrer Sicht für ihre planungsrechtliche Beurteilung erforderlichen Unterlagen, die das Vorhaben näher bestimmen, anfordert und ihre Entscheidung über das Einvernehmen bis zum Eingang dieser Unterlagen zurückstellt.

Vgl. zum Einvernehmen bei Vorlage unvollständiger Unterlagen: BVerwG, Urteil vom 16.9.2004 - 4 C 7.03 -, a.a.O., 19.

An diesen Maßstäben gemessen gilt das Einvernehmen der Klägerin hinsichtlich der Windkraftanlage 3 unabhängig davon als erteilt, ob diese mit voller Leistung oder nur leistungsreduziert betrieben wird. Denn die Windkraftanlage 3 ist - wie im Übrigen auch die Windkraftanlagen 1 und 2 - der Klägerin als Bauvorhaben ohne eine Schallimmissions- und Schattenwurfprognose unterbreitet worden. Ohne diese - von ihr nicht nachgeforderten - Unterlagen durfte die Klägerin nicht davon ausgehen, dass die Windkraftanlage 3 einschränkungslos betrieben würde. Es entspricht der gängigen Praxis im Baugenehmigungsverfahren, erst nach Erstellung des Schall- und Schattenwurfgutachtens das Vorhaben insoweit zu konkretisieren.

2. Mit Eintritt der Einvernehmensfiktion verlor die Klägerin die Berechtigung, die bauplanungsrechtliche Unzulässigkeit der Windkraftanlage 3 geltend zu machen. Das gilt jedenfalls für Umstände, die bereits zu diesem Zeitpunkt die Verweigerung des Einvernehmens gerechtfertigt hätten.

Nach der Zielsetzung des Gesetzgebers soll die Gemeinde als sachnahe und fachkundige Behörde gerade in solchen Ortsteilen, in denen sie noch nicht geplant hat, im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren an der Beurteilung der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen von Vorhaben mitentscheidend beteiligt werden.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 19.11.1965 - 4 C 184.65 -, BVerwGE 22, 342 (345), vom 7.2.1986 - 4 C 43.83 -, NVwZ 1986, 556, vom 10.8.1988 - 4 C 20.84 -, NuR 1989, 344, und vom 12.12.1991 - 4 C 31.89 -, BRS 52 Nr. 136 (S. 327).

Die Gemeinde ist dabei zur eigenverantwortlichen Beurteilung der für die Erteilung der Genehmigung maßgeblichen, bauplanungsrechtlichen Voraussetzungen berufen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 16.9.2004 - 4 C 7.03 -, a.a.O., 19.

An die in ihrem - sei es ausdrücklichen, sei es fiktiven - Einvernehmen zum Ausdruck gekommene positive bauplanungsrechtliche Beurteilung ist die Gemeinde grundsätzlich gebunden.

Kommt sie erst nach Ablauf der Frist von zwei Monaten zu der Erkenntnis, dass das Vorhaben bereits zum Zeitpunkt ihrer planungsrechtlichen Beurteilung gegen die §§ 31, 33 bis 35 BauGB verstieß, ist es ihr zwar unbenommen, solange noch keine Entscheidung über die Genehmigung ergangen ist, der Genehmigungsbehörde ihre bauplanungsrechtlichen Bedenken vorzubringen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 12.12.1996 - 4 C 24.95 -, a.a.O.

Die Genehmigungsbehörde trifft nach Eintritt der Einvernehmensfiktion aber nur noch eine objektiv-rechtliche Pflicht zur Beachtung dieser Einwände. Die zum Schutz der gemeindlichen Planungshoheit erforderliche wehrfähige Rechtsposition ist schon in der Prüfungsbefugnis der Gemeinde verwirklicht.

Der Gesetzgeber hat der Gemeinde in § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB eine Art Mitentscheidungsbefugnis im Baugenehmigungsverfahren für die Fälle eingeräumt, in denen sie nicht selbst Baugenehmigungsbehörde ist. Nach dem gesetzgeberischen Willen soll sich bei unterschiedlichen Auffassungen über die planungsrechtliche Genehmigungsfähigkeit eines Vorhabens die negative Stellungnahme der Gemeinde gegenüber der positiven Auffassung der Baugenehmigungsbehörde im Verwaltungsverfahren grundsätzlich durchsetzen. Macht die Gemeinde von ihrem Recht in § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB Gebrauch und verweigert ihr Einvernehmen, kommt dem Bauherrn im Verpflichtungsprozess auf Erteilung der ihm vorenthaltenen Baugenehmigung die Klägerrolle zu. Diese prozessuale Konstellation erlaubt der Gemeinde zudem, sich nicht nur auf die Sach- und Rechtslage zu berufen, die bei Erteilung der Baugenehmigung bestand, sondern Veränderungen geltend zu machen, die bis zu dem für Verpflichtungsklagen maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt eingetreten sind.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 7.2.1986 - 4 C 43.83 -, NVwZ 1986, 556 (557); Söfker, a.a.O., § 36 Rn. 47.

Erteilt die Gemeinde hingegen ihr Einvernehmen oder lässt sie die in § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB normierte Frist von zwei Monaten verstreichen, sodass ihr Einvernehmen als erteilt gilt, entspricht es ihrer Stellung im Baugenehmigungsverfahren, insbesondere ihrer Verantwortung zur eigenständigen Prüfung der planungsrechtlichen Voraussetzungen des Vorhabens, sie ähnlich zu behandeln, als habe sie die Baugenehmigung im Zeitpunkt des Eintritts der Einvernehmensfiktion selbst erteilt. So wie die Gemeinde keinen Anspruch auf gerichtliche Aufhebung einer von ihr selbst erteilten Baugenehmigung hat, steht ihr auch im Falle der Mitwirkung nach § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB kein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf Aufhebung einer von ihr gleichsam selbst miterteilten Baugenehmigung zu.

Vgl. im Ergebnis ebenso: Bay. VGH, Urteil vom 26.1.2006 - 26 B 02.2957 -, juris, Rn. 21; Nds. OVG, Urteil vom 18.3.1999 - 1 L 6696/96 -, NVwZ 1999, 1003 (1004); SächsOVG, Beschluss vom 6.11.2002 - 1 B 201/01 -, SächsVBl. 2003, 64; Jäde, in: Jäde/ Dirnberger/Weiß, BauGB, BauNVO, Kommentar, 3. Aufl., 2002, § 36 Rn. 55; einen Aufhebungsanspruch der Gemeinde unter Hinweis auf die Einvernehmensfiktion verneinend: BVerwG, Urteil vom 16.9.2004 - 4 C 7.03 -, a.a.O., 16.

Aus den vorgenannten Überlegungen dürfte jedoch auch folgen, dass die Gemeinde trotz der Regelung des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB einen Anspruch auf Aufhebung einer von der Baugenehmigungsbehörde erteilten Baugenehmigung hat, wenn die bauplanungsrechtliche Unzulässigkeit des Vorhabens auf Umständen beruht, die zur Zeit ihrer bauplanungsrechtlichen Prüfung noch nicht existierten. Denn insoweit war die Gemeinde außer Stande, von ihrer Mitwirkungsbefugnis im Baugenehmigungsverfahren Gebrauch zu machen und ihr Einvernehmen rechtmäßig zu versagen.

3. Nachträgliche, die bauplanungsrechtliche Unzulässigkeit der Windkraftanlage 3 begründende Umstände, die zur Zeit ihrer bauplanungsrechtlichen Prüfung noch nicht existierten, lagen hier nicht vor. (Wird ausgeführt)

III. Die der Beigeladenen vom Beklagten erteilten Baugenehmigungen vom 18.10.2001 für die Windkraftanlage 1 und 2 unterliegen hingegen der Aufhebung, weil der Beklagte das in § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB 2001 normierte, formelle Beteiligungsrecht der Klägerin in diesen Verfahren verletzt hat (1.). Bereits dies rechtfertigt die Aufhebung der Baugenehmigungen für die Windkraftanlagen 1 und 2 (2.).

1. Der Beklagte hat das gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB 2001 der Klägerin zustehende formelle Beteiligungsrecht verletzt, weil er ohne das erforderliche Einvernehmen der Klägerin die Baugenehmigungen für die Windkraftanlagen 1 und 2 erteilt hat. Die als erteilt geltenden Einvernehmen der Klägerin erfassten nicht die mit den angefochtenen Bescheiden genehmigten Windkraftanlagen 1 und 2; erneute Einvernehmen waren weder entbehrlich noch lagen sie vor.

Die Einvernehmen der Klägerin gelten zwar auf Grund der Einvernehmensfiktion als erteilt. (Wird ausgeführt)

Die Einvernehmen erfassten jedoch nicht die mit den angefochtenen Bescheiden genehmigten Windkraftanlagen 1 und 2, weil die als erteilt geltenden Einvernehmen der Klägerin sich auf die von dem Rechtsvorgänger der Beigeladenen beantragten Windkraftanlagen bezogen, die an anderen, bereits bei Ersuchen der Klägerin um ihr Einvernehmen durch die Angabe im Lageplan konkretisierten Standorten errichtet werden sollten. (Wird ausgeführt)

Ein erneutes Einvernehmen war nicht deshalb entbehrlich, weil die Standortabweichung unerheblich wäre. Wegen der Situationsbezogenheit der für die Zulassung von Bauvorhaben entscheidenden Umstände lässt sich die Erheblichkeitsschwelle nicht mit abstrakten, für alle Fälle einheitlichen Kriterien bestimmen. Vielmehr kommt es darauf an, ob durch die Veränderung bauplanungsrechtliche Belange, die bei der Frage der Einvernehmenserteilung zu berücksichtigen waren, neuerlich berührt oder erstmals so erheblich betroffen werden, dass sich die Zulässigkeitsfrage neu stellt.

Vgl. Bay. VGH, Urteil vom 18.4.1989 - 20 B 88.585 -, a.a.O.; Söfker, a.a.O., § 36 Rn. 34; allerdings nicht konkret auf das Einvernehmen bezogen: OVG NRW, Beschluss vom 4.5.2004 - 10 A 1476/04 -, BauR 2004, 1771 (1772); Bay. VGH, Urteil vom 24.3.2003 - 14 B 99.2635 -, juris, Rn. 17.

Hiervon ist im vorliegenden Fall auszugehen. Für eine erhebliche Abweichung spricht dabei nicht nur die Größe der Verschiebung, die bei der Windkraftanlage 1 in Nord-Süd-Richtung ca. 34 m und bei der Windkraftanlage 2 in Ost-West-Richtung ca. 68 m beträgt, sondern auch der Umstand, dass die Windkraftanlagen 1 und 2 in westliche bzw. südliche Richtung weiter vom Eignungsbereich weg verschoben wurden.

Das danach erforderliche erneute Einvernehmen der Klägerin zu den geänderten Bauvorhaben lag nicht vor. Es kann entgegen der Annahme der Beigeladenen nicht darin gesehen werden, dass sie die im Zusammenhang mit dem Flächennutzungsplanverfahren mitgeteilten neuen Standorte widerspruchslos hingenommen hat. Selbst wenn sie die Verschiebung der Standorte widerspruchslos hingenommen haben sollte, steht dies einem ausdrücklich erteilten Einvernehmen nicht gleich. Mit Blick auf die weit reichenden Folgen des gemeindlichen Einvernehmens, insbesondere den Verlust subjektiver Abwehrrechte im Falle des Eintritts der Einvernehmensfiktion, ist ein ausdrückliches und damit eindeutiges Einvernehmen unentbehrlich.

Zudem bedarf es wegen der erheblichen Tragweite eines als erteilt geltenden Einvernehmens eines ausdrücklichen Ersuchens, das so eindeutig formuliert sein muss, dass die Gemeinde erkennen kann, dass damit die Frist des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB erneut ausgelöst wird.

Vgl. Dürr, in: Brügelmann, BauGB, Kommentar, Bd. 2, Stand: 6/2007, § 36 Rn. 43; Söfker, a.a.O., § 36 Rn. 38.

Diesen Maßstäben wird eine Information, wie sie der Beklagte geschildert und wie sie vom Beigeladenen hilfsweise unter Beweis gestellt wurde, nicht gerecht. Eine beiläufige in einem anderen Verfahrenszusammenhang der Klägerin zugänglich gewordene oder mitgeteilte Information über die Standortveränderungen der Windkraftanlagen 1 und 2 reicht als Ersuchen, das die Frist des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB 1997/2001 auslöst, nicht aus.

2. Bereits wegen der Verletzung des formellen Beteiligungsrechts unterliegen die Baugenehmigungen für die Windkraftanlagen 1 und 2 der Aufhebung. Denn nur bei ihrer Beteiligung kann die Gemeinde ein auf ihrem Gemeindegebiet geplantes Vorhaben durch Verweigerung ihres Einvernehmens abwehren, indem sie sich auf die bauplanungsrechtliche Unzulässigkeit des Vorhabens beruft. Die Beteiligung im Baugenehmigungsverfahren kann ihr, sollte das Vorhaben nicht bereits auf Grund der vorgefundenen tatsächlichen und rechtlichen Situation bauplanungsrechtlich unzulässig sein, Anlass geben, von ihrer noch offenen Planungshoheit Gebrauch zu machen und Voraussetzungen zu schaffen, die der Zulässigkeit des auf ihrem Gemeindegebiet geplanten Bauvorhabens entgegenstehen.

Vgl. zum Aufhebungsanspruch der Gemeinde bei Verletzung des formellen Beteiligungsrechts: BVerwG, Urteile vom 19.11.1965 - 4 C 184.65 -, BVerwGE 22, 342 (346 ff.), vom 14.2.1969 - 4 C 215.65 -, BVerwGE 31, 263 (266), vom 7.2.1986 - 4 C 43.83 -, NVwZ 1986, 556, vom 10.8.1988 - 4 C 20.84 -, NuR 1989, 344 f., vom 12.12.1991 - 4 C 31.89 -, BRS 52 Nr. 136 (S. 327 ff.), und vom 5.3.1999 - 4 B 62.98 -, BauR 1999, 1281 (1282).

Entgegen der Ansicht des Beklagten und der Beigeladenen hängt der Erfolg des gemeindlichen Aufhebungsbegehrens nicht davon ab, ob das Vorhaben tatsächlich bauplanungsrechtlich unzulässig ist oder ob ein noch offenes Planungsrecht von der Gemeinde ausgeübt worden wäre und dem Vorhaben hätte entgegen gehalten werden können. Andernfalls würde die bereits unter II. 2. beschriebene, der Gemeinde vom Gesetzgeber mit Blick auf das Recht der kommunalen Selbstverwaltung eingeräumte Rechtsposition entwertet, weil es der Baubehörde durch Nichtbeachtung der Verfahrensrechte ermöglicht würde, die Gemeinde in die vom Gesetzgeber nicht gewollte Klägerrolle zu drängen, aus der heraus sie ihre Rechtsposition (nicht zuletzt unter Berücksichtigung eines anderen Beurteilungszeitpunkts) verteidigen müsste.

Soweit die Rechtsprechung im Zusammenhang mit § 36 BauGB die Verletzung der Planungshoheit in die rechtliche Prüfung einbezogen hat, handelte es sich um von der hier vorliegenden Fallkonstellation abweichende Fallgestaltungen. Entweder wurde das gemeindliche Einvernehmen ersetzt oder es bedurfte nicht eines Einvernehmens der Gemeinde, weil die Gemeinde selbst Baubehörde war oder der Fall sonst wie außerhalb des Anwendungsbereichs des § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB lag.

Vgl. zur ersten Variante: Hess. VGH, Beschluss vom 15.11.2006 - 3 UZ 634/06 -, juris; OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 29.11.2005 - 2 S 115.05 -, ZUR 2006, 210; zur zweiten bzw. dritten Variante: BVerwG, Urteile vom 14.4.2000 - 4 C 5.99 -, NVwZ 2000, 1048 ff., und vom 19.8.2004 - 4 C 16.03 -, BVerwGE 121, 339 ff.

Ende der Entscheidung

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