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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 19.04.2005
Aktenzeichen: 8 A 273/04.A
Rechtsgebiete: AufenthG, AuslG, VwGO, EMRK
Vorschriften:
AufenthG § 59 | |
AufenthG § 60 | |
AufenthG § 60 Abs. 1 | |
AufenthG § 60 Abs. 1 Satz 1 | |
AufenthG § 60 Abs. 1 Satz 3 | |
AufenthG § 60 Abs. 1 Satz 4 | |
AufenthG § 60 Abs. 2 | |
AufenthG § 60 Abs. 3 | |
AufenthG § 60 Abs. 4 | |
AufenthG § 60 Abs. 5 | |
AufenthG § 60 Abs. 6 | |
AufenthG § 60 Abs. 7 | |
AufenthG § 60 Abs. 7 Satz 1 | |
AufenthG § 60 Abs. 8 | |
AufenthG § 60 Abs. 8 Satz 1 | |
AuslG § 50 | |
AuslG § 51 Abs. 1 | |
AuslG § 51 Abs. 3 Satz 1 | |
AuslG § 51 Abs. 3 Satz 1, 1. Alternative | |
AuslG § 53 | |
AsylVfG § 1 | |
AsylVfG § 26a | |
AsylVfG § 26a Abs. 1 Satz 3 | |
AsylVfG § 27 Abs. 3 Satz 1 | |
AsylVfG § 28 | |
AsylVfG § 28 Abs. 2 | |
AsylVfG § 34 | |
AsylVfG § 38 Abs. 1 | |
AsylVfG § 77 Abs. 1 Satz 1 | |
VwGO § 86 Abs. 1 | |
EMRK Art. 25 § 1 |
2. Eine inländische Fluchtalternative haben auch diejenigen Kurden, die in Ostanatolien im Zuge kollektiver Maßnahmen von asylerheblicher Verfolgung betroffen waren, ohne dabei in einen auf ihre Person bezogenen individualisierten Separatismusverdacht geraten zu sein. Das gilt auch für Binnenvertriebene, denen die Rückkehr in ihre Heimatorte deshalb verwehrt wird, weil sie nicht bereit sind, sog. freiwillige Dorfschützer zu stellen.
3. Individuelle politische Verfolgung findet in der Türkei trotz der umfangreichen Reformen weiterhin statt. Folter wird allerdings seltener als früher und vorwiegend mit anderen, weniger leicht nachweisbaren Methoden praktiziert. Von politischer Verfolgung sind in besonderem Maße Politiker, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und andere Personen bedroht, die sich für die Interessen der kurdischen Bevölkerung einsetzen und deshalb strafrechtlichen Vorwürfen ausgesetzt sind.
4. Kurden droht im Allgemeinen weder bei der Erfüllung ihrer Wehrpflicht noch im Zusammenhang mit einer etwaigen Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung oder Fahnenflucht in der Türkei politische Verfolgung.
5. Exilpolitische Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland begründen ein beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsrisiko für türkische Staatsangehörige im Allgemeinen nur, wenn die Aktivitäten nach türkischem Strafrecht strafbar sein können und wenn sich der Betreffende politisch exponiert hat. Ob der Asylbewerber in so hinreichendem Maße als Ideenträger oder Initiator in Erscheinung getreten ist, dass von einem Verfolgungsinteresse des türkischen Staates auszugehen ist, ist im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu ermitteln. Das gilt auch für Mitglieder des Vorstandes eines eingetragenen exilpolitischen Vereins, der als von einer PKK-Nachfolgeorganisation dominiert oder beeinflusst gilt oder von türkischer Seite als vergleichbar militant staatsfeindlich eingestuft wird.
6. Es ist nicht auszuschließen, dass die türkischen Sicherheitskräfte in Einzelfällen Sippenhaft praktizieren; Sippenhaft droht aber auch nahen Angehörigen (Ehegatten, Eltern, Kindern und Geschwistern) von landesweit gesuchten Aktivisten einer militanten staatsfeindlichen Organisation gegenwärtig nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
7. Aleviten sind in der Türkei keiner an ihre Religionszugehörigkeit anknüpfenden Gruppenverfolgung ausgesetzt.
8. Asylbewerber, denen politische Verfolgung nicht aus sonstigen Gründen droht, müssen auch bei der Abschiebung in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine menschenrechtswidrige Behandlung befürchten.
9. Die wirtschaftliche Lage oder die Situation im Gesundheitswesen der Türkei rechtfertigen im Allgemeinen nicht die Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG.
Tatbestand:
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und gehört dem alevitischen Glauben an. Er stammt aus dem Ort , Kreis , Provinz Kahramanmaras.
Am 18. Oktober 2001 beantragte er seine Anerkennung als Asylberechtigter. Mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 12. Oktober 2001 führte er zur Begründung im Wesentlichen Folgendes aus: Im Jahr 1990 habe sein Bruder sich der PKK-Guerilla angeschlossen. Seitdem stehe seine Familie unter Druck. Aufgrund massiver Repressionen seien sie 1991 nach umgezogen. Von 1993 bis 1997 habe er - der Kläger - in der Schneiderei seines Vaters gearbeitet, in der auch Kleidung für Guerillaangehörige genäht worden sei. Nach dem Tod seines Bruders, der zwischenzeitlich in die Bundesrepublik Deutschland geflohen und im Oktober 1997 verstorben sei, sei er - der Kläger - in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten. Der Leichnam seines Bruders sei Mitte November 1997 nach überführt worden. Die beabsichtigte Beerdigung im Heimatdorf hätten die Behörden untersagt. Als er dagegen protestiert habe, sei er für die Dauer von drei Tagen festgenommen worden. Unterdessen sei sein Bruder gegen den Willen der Familie in beerdigt worden. Nach seinem Wehrdienst, den er in der Zeit von Februar 1998 bis August 1999 abgeleistet habe, habe er Kontakt zur HADEP aufgenommen und sich an Plakatierungs-, Flugblatt- und Spendensammelaktionen beteiligt. Parteimitglied sei er jedoch nicht geworden, weil die HADEP ihn aufgrund seiner familiären Vorbelastung für gefährdet gehalten habe. Ende Oktober 2000 habe er aus Anlass des Todestages seines Bruders eine Kundgebung organisiert. Dabei habe er ein Transparent mit der Aufschrift "Die Gefallenen sind unsterblich" entfaltet. Nach Beendigung der Aktion, bei der auch entsprechende Parolen gerufen worden seien, habe er sich zu einem Freund begeben, bei dem er übernachtet habe. Am nächsten Vormittag habe er telefonisch von seinen Eltern erfahren, dass die Sicherheitskräfte nach ihm gesucht und das Elternhaus durchsucht hätten. Nach Beratung mit politischen Freunden sei er nach Istanbul gegangen, wo er zunächst bei einem Onkel gewohnt habe. Anfang September 2001 habe sein Vater dem Onkel telefonisch mitgeteilt, dass in mehrere HADEP-Aktivisten festgenommen worden seien, die ihm über ihre Väter, die sie in der Polizeihaft besucht hätten, ausrichten ließen, dass sie die Adresse des Klägers in Istanbul verraten hätten. Wenige Tage, nachdem er sich deshalb zu einem Freund des Onkels begeben habe, sei das Haus seines Onkels durchsucht worden, woraufhin er beschlossen habe, ins Ausland zu flüchten.
Bei der Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, nachfolgend: Bundesamt) am 19. Oktober 2001 gab der Kläger an: Er habe die Grundschule besucht. Sein letzter offizieller Wohnort sei gewesen. Gearbeitet habe er nach seiner Militärzeit nicht mehr. Er sei am 20. September "2000" unter Verwendung eines gefälschten Passes auf dem Luftweg in das Bundesgebiet eingereist. Den Namen, unter dem er gereist sei, kenne er nicht. Zu seinen Asylgründen trug er vor: Nach Beendigung seines Militärdienstes am 16. August 1999 habe er Mitglied der HADEP werden wollen. Die HADEP habe ihm aber vorgeschlagen, eher im Untergrund zu arbeiten, etwa Nachrichten, Papiere und Zeitschriften an die Milizen der PKK weiterzugeben. Am 29. Oktober 2000, dem dritten Jahrestag des Todes seines Bruders, der in Deutschland ein Asylverfahren unter seinem Codenamen betrieben habe, hätten sie - insgesamt 10 Personen - ein Plakat mit der Aufschrift "Die Gefallenen sind unsterblich" auf dessen Grab gelegt. Auf Drängen eines Freundes und aus Angst vor Verfolgung habe er die folgende Nacht bei diesem verbracht. Am nächsten Morgen sei sein Elternhaus überfallen und sein Vater nach ihm gefragt, erniedrigt und auch geschlagen worden. Auf Anraten der Stadtvertretung der HADEP habe er die Stadt verlassen und sich nach Istanbul begeben, wo er zunächst bei einem Onkel und später bei anderen Verwandten seines Onkels gewohnt habe. Bis zum 2. September 2001 habe er sich in Istanbul aufgehalten. Auch dort habe er ähnliche Aufgaben wie zuvor ausgeführt. Er habe zwar aus Sicherheitsgründen die HADEP nicht aufgesucht, habe aber Plakate geklebt und Aufkleber angebracht. Am 1. September 2001 habe es Demonstrationen in Istanbul gegeben. Einen Tag später sei das HADEP-Büro der Stadtvertretung überfallen worden; dabei habe man vier Freunde festgenommen. Drei der Festgenommenen seien wegen ihrer Unterstützungsleistungen zu Haftstrafen von je sechs Jahren verurteilt worden, sein Cousin, der zurzeit in inhaftiert sei, zu einer Haftstrafe von 14 Jahren. Von seinem Vater habe er fünf Tage nach dem Überfall auf das HADEP-Büro erfahren, dass ihr Haus überfallen worden sei; der Vater sei auch in Gewahrsam genommen worden. Nachdem es zu der 14-jährigen Inhaftierung seines Cousins gekommen sei, habe sein Onkel ihm zur Flucht geraten. Auf Befragen gab der Kläger an, er habe in Istanbul seinen Aufenthaltsort gewechselt, nachdem er erfahren habe, dass die vier Freunde von der HADEP, die inhaftiert worden seien, misshandelt und geschlagen worden seien und ausgesagt hätten, dass er bei seinem Onkel in Istanbul sei. Befragt nach den Ereignissen nach dem Tod seines Bruders trug er vor, sie hätten versucht, den Leichnam seines Bruders ins Dorf zu bringen. Die Sicherheitskräfte hätten sich ihnen in den Weg gestellt. Als er sich zur Wehr gesetzt habe, sei er für zwei Tage in Gewahrsam genommen worden. Während dieser Zeit sei sein Bruder begraben worden. Er sei auf der Wache in festgehalten worden. Dort habe man ihm angeboten, als Spitzel zu arbeiten. Als er dies abgelehnt habe, hätten sie ihn gefoltert. Sie hätten ihn mit verbundenen Augen an einen Stuhl gebunden, dann den Stuhl umgeworfen und ihn mit kaltem Wasser abgespritzt.
Durch Bescheid vom 10. Januar 2002 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab. Zugleich stellte es fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen. Ferner forderte es den Kläger zur Ausreise aus dem Bundesgebiet binnen eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. - für den Fall der Klageerhebung - nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens auf und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an.
Am 17. Januar 2002 hat der Kläger Klage erhoben. Entgegen der Einschätzung des Bundesamtes sei sein Vorbringen glaubhaft. Die Jandarma suche weiterhin nach ihm. Die Zeugen und könnten das hinsichtlich einer Aktion im Sommer 2003 bestätigen. Ferner drohe ihm Verfolgung, weil er in der Özgür Politika vom 1. November 2003 eine Gedenkanzeige für seinen verstorbenen Bruder habe veröffentlichen lassen.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 10. Januar 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen,
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG hinsichtlich der Türkei bestehen.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Aufgrund der mündlichen Verhandlung am 15. Dezember 2003, in der der Kläger ergänzend angehört und die Zeugin uneidlich vernommen wurde, hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen; auf die Urteilsgründe wird Bezug genommen.
Auf den Antrag des Klägers hat der Senat die Berufung durch Beschluss vom 29. September 2004 zugelassen.
Der Kläger führt zur Begründung der Berufung ergänzend aus, das Verwaltungsgericht habe die Schilderung seiner Verfolgungsgründe zu Unrecht als unglaubhaft gewertet. Zudem sei die Gedenkanzeige, die ihn - den Kläger - nach Inhalt und Wortwahl als Ideenträger separatistischen Gedankengutes erscheinen lasse, den türkischen Sicherheitskräften mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bekannt geworden; er müsse daher damit rechnen, als Unterstützer der PKK angesehen und unter Misshandlungen verhört zu werden. Auch im August 2004 hätten die Sicherheitskräfte nochmals seinen Vater aufgesucht und nach ihm gefragt. Dies könnten die Zeugen und bestätigen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 15. Dezember 2003 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) vom 10. Januar 2002 zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen sowie festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen,
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt vor, der Kläger sei aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Bescheides sowie des erstinstanzlichen Urteils nicht vorverfolgt ausgereist. Die Gedenkanzeige stelle lediglich eine niedrig profilierte exilpolitische Betätigung dar und begründe kein Verfolgungsinteresse des türkischen Staates.
In der mündlichen Verhandlung vom 19. April 2005 ist der Kläger erneut zu seinem Verfolgungsschicksal angehört worden. Ferner hat der Senat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung des Zeugen . Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die von der Beklagten überreichten Asylverfahrensakten des Klägers und seines Bruders sowie die vom Kreis beigezogene Ausländerakte des Klägers Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte zur Sache verhandeln und entscheiden, obwohl ein Vertreter der Beklagten nicht erschienen war, da diese mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter (Art. 16a Abs. 1 GG, dazu A.) noch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG (dazu B.). Er kann auch die hilfsweise begehrte Feststellung, dass sonstige Abschiebungsverbote im Sinne des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen, nicht verlangen (dazu C.). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist auch nicht hinsichtlich der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung aufzuheben (dazu D.).
A. Art. 16a Abs. 1 GG
Der Kläger hat - ungeachtet der Frage, ob er, wie behauptet, auf dem Luftweg eingereist ist (dazu I.) - keinen Anspruch darauf, gemäß Art. 16a Abs. 1 GG (zu dessen Voraussetzungen siehe II.) als Asylberechtigter anerkannt zu werden. Er ist unverfolgt ausgereist (dazu III.) und muss zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten, bei einer Rückkehr in die Türkei politisch verfolgt zu werden (dazu IV.). Weder droht ihm politische Verfolgung allein wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit (dazu IV.1.a.) oder der Zugehörigkeit zur Glaubensrichtung der Aleviten (dazu IV.1.b.) noch muss er Verfolgung in Anknüpfung an individuelle Umstände befürchten (dazu IV.2.). Dies gilt im Hinblick auf eine etwa noch bevorstehende Heranziehung des Klägers zum Wehrdienst (dazu IV.2.a.), im Hinblick auf seine Religionszugehörigkeit (dazu IV.2.b.) und im Hinblick auf sein eigenes Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland (dazu IV.2.c.). Auch unter dem Aspekt der Sippenhaft (dazu IV.2.d.) oder aus anderen Gründen, die bei einer Einreise in die Türkei eine asylerhebliche Gefährdung bewirken könnten (dazu IV.2.e.), droht dem Kläger keine politische Verfolgung.
I. Drittstaatenregelung
Eine Anerkennung als Asylberechtigter kann nach Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a AsylVfG - vorbehaltlich der hier ersichtlich nicht einschlägigen Fälle des § 26a Abs. 1 Satz 3 AsylVfG - nicht beanspruchen, wer aus einem sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland einreist. Dabei ist der Nachweis, aus welchem sicheren Drittstaat der Asylbewerber einreist, nicht erforderlich; infolgedessen entfällt der Anspruch auf Asyl auch dann, wenn der Ausländer in einem verschlossenen und verplombten Lkw über (irgend)einen sicheren Drittstaat nach Deutschland einreist. Diese Regelung begrenzt den Kreis der Asylberechtigten von vornherein auf diejenigen politisch Verfolgten, die bei der Einreise des Schutzes gerade in Deutschland bedürfen, weil sie noch an keinem anderen Ort vor Verfolgung sicher waren. Soll der Ausländer allerdings in seinen Herkunftsstaat, der nicht sicherer Drittstaat ist, abgeschoben werden, ist zu prüfen, ob insoweit ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 AufenthG besteht.
Vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938, 2315/93 -, BVerfGE 94, 49 (95 ff. und 99 ff.) zur Verfassungsgemäßheit der Drittstaatenregelung; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 7. November 1995 - 9 C 73.95 -, BVerwGE 100, 23 (31); Urteil vom 2. September 1997 - 9 C 5.97 -, BVerwGE 105, 194 ff.
Behauptet der Asylbewerber, auf dem Luftweg eingereist zu sein, alle schriftlichen Unterlagen aber weggegeben zu haben, so führen weder die damit möglicherweise verbundene Verletzung der asylverfahrensrechtlichen Mitwirkungspflichten noch der fehlende urkundliche Nachweis der Luftwegeinreise zum Verlust des Asylrechts. Denn es ist trotz der im Asylverfahren bestehenden Mitwirkungsobliegenheiten des Asylbewerbers (§ 15 und § 25 AsylVfG) Sache des Gerichts, den maßgeblichen Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Im Asylrechtsstreit besteht allerdings generell kein Anlass zu weiterer Sachaufklärung, wenn der Asylbewerber unter Verletzung der ihn treffenden Mitwirkungspflichten seine guten Gründe für eine ihm drohende politische Verfolgung nicht unter Angabe genauer Einzelheiten schlüssig schildert.
BVerwG, Beschluss vom 19. März 1991 - 9 B 56.91 -, NVwZ-RR 1991, 587; Urteil vom 10. Mai 1994 - 9 C 434.93 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 170; zu § 27 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. Februar 1999 - 9 B 1123.98 -, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 297.
So kann bei der behaupteten Luftwegeinreise ein Anlass zu weiterer Aufklärung beispielsweise dann zu verneinen sein, wenn der Asylbewerber keine nachprüfbaren Angaben zu seiner Einreise gemacht hat und es damit an einem Ansatzpunkt für weitere Ermittlungen fehlt; auch kann der Vortrag zu den Reisemodalitäten ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit eines Verfolgungsschicksals sein. Bei einer Nichterweislichkeit der behaupteten Einreise auf dem Luftweg ("non liquet") trägt der Asylbewerber die materielle Beweislast für seine Behauptung, ohne Berührung eines sicheren Drittstaates nach Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a AsylVfG auf dem Luft- oder Seeweg nach Deutschland eingereist zu sein.
BVerwG, Urteil vom 29. Juni 1999 - 9 C 36.98 -, BVerwGE 109, 174.
Im vorliegenden Falle kann offen bleiben, ob ein Asylanspruch schon wegen der Drittstaatenregelung ausgeschlossen ist, weil der Kläger jedenfalls nicht von politischer Verfolgung bedroht ist.
II. Voraussetzungen des Anspruchs nach Art. 16a GG
Nach Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Eine Verfolgung ist dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen.
BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 961, 1000/86 -, BVerfGE 80, 315 (333 ff.).
Die Rechtsverletzung, aus der der Asylbewerber seine Asylberechtigung herleitet, muss ihm gezielt, d.h. gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale zugefügt worden sein. Hieran fehlt es regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsstaat zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen.
BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 961, 1000/86 -, BVerfGE 80, 315 (335) m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 (204 f.).
Die in diesem Sinne gezielt zugefügte Rechtsverletzung muss von einer Intensität sein, die sich nicht nur als Beeinträchtigung, sondern als ausgrenzende Verfolgung darstellt, so dass der davon Betroffene gezwungen war, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen.
Das Grundrecht auf Asyl dient dem Schutz vor staatlicher politischer Verfolgung. Verfolgungsmaßnahmen Dritter können deshalb nur dann einen Asylanspruch begründen, wenn sie dem Staat zurechenbar sind. Eine asylrechtlich relevante Verantwortlichkeit des Staates für Verfolgungsmaßnahmen Dritter ist anzunehmen, wenn die Verfolgungsmaßnahmen auf Anregung des Staates zurückgehen oder doch dessen Unterstützung oder einvernehmliche Duldung genießen.
BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 -, BVerfGE 54, 341 (358); Beschluss vom 1. Juli 1987 - 2 BvR 478, 962/86 -, BVerfGE 76, 143 (169); BVerwG, Urteil vom 22. April 1986 - 9 C 318.85 u.a. -, BVerwGE 74, 160 (162 f.); Urteil vom 15. Mai 1990 - 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139 (143); Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 367 (371).
Auch staatliche Maßnahmen, die der Rechtsordnung des Herkunftsstaates widersprechen, sind dem Staat zurechenbar, sofern es sich nicht nur um vereinzelte Exzesstaten von Amtswaltern handelt. Es bedarf allerdings verlässlicher Erkenntnisse, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten; anderenfalls bleibt das Handeln seiner Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar.
BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 2003 - 2 BvR 134/01 -, DVBl 2003, 1260, im Anschluss an BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 961, 1000/86 -, BVerfGE 80, 315 (352).
Die Asylberechtigung nach Art. 16a Abs. 1 GG setzt voraus, dass dem Betroffenen in eigener Person politische Verfolgung droht. Diese Gefahr eigener politischer Verfolgung des Asylbewerbers kann sich auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung).
BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85 u.a. -, BVerfGE 83, 216 (231); BVerwG, Urteil vom 8. Februar 1989 - 9 C 33.87 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 105; Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 (202 f.).
Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist zunächst, dass die festgestellten asylrechtsrelevanten Maßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an das die verfolgte Gruppe kennzeichnende asylerhebliche Merkmal treffen. Denkbar ist sowohl eine unmittelbare Anknüpfung an das die Verfolgung begründende Gruppenmerkmal - etwa die Volkszugehörigkeit - als auch eine Verfolgung, der dieses Merkmal mittelbar zu Grunde liegt. Dies kann etwa der Fall sein, wenn sich die Verfolgung zwar eigentlich gegen eine tatsächlich oder vermeintlich separatistische Überzeugung richtet, der Staat aber einer ethnisch definierten Bevölkerungsgruppe pauschal eine Nähe zu separatistischen Aktivitäten oder gar generell deren Unterstützung unterstellt. Ein solcher pauschaler Verdacht kann eine "Separatismus-Verfolgung" je nach den Umständen des Falles als "ethnische" Gruppenverfolgung erscheinen lassen.
BVerfG, Beschluss vom 9. Dezember 1993 - 2 BvR 1638/93 -, InfAuslR 1994, 105 (108); BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 (205); Urteil vom 30. April 1996 - 9 C 170.95 -, BVerwGE 101, 123 (125).
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt darüber hinaus eine bestimmte Verfolgungsdichte oder jedenfalls sichere Anhaltspunkte für das Vorliegen eines staatlichen Verfolgungsprogramms voraus.
BVerwG, Urteil vom 15. Mai 1990 - 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139 (142 f.); Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 (204 ff.); Urteil vom 30. April 1996 - 9 C 170.95 -, BVerwGE 101, 123 (125).
Für die Feststellung der erforderlichen Verfolgungsdichte ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung, die von Dritten ausgeht, und einer unmittelbar staatlichen Gruppenverfolgung sind hinsichtlich der erforderlichen "Verfolgungsdichte" im Grundsatz gleich.
BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 (203 f.); Urteil vom 19. April 1994 - 9 C 462.93 -, Buchholz 402.25 AsylVfG § 1 Nr. 169; BVerfG, Beschluss vom 11. Mai 1993 - 2 BvR 2245/92 -, InfAuslR 1993, 304 (306).
Für die Beurteilung, ob die Verfolgungsdichte die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt, müssen Intensität und Anzahl aller Verfolgungshandlungen auch zur Größe der Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Allein die Feststellung "zahlreicher" oder "häufiger" Eingriffe reicht nicht aus. Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten möglicherweise bereits als bedrohlich erweist, kann bei einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen, weil sie in Bezug auf die Zahl der Gruppenmitglieder nicht ins Gewicht fällt und sich deshalb nicht als Bedrohung der Gruppe darstellt.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 (206).
Wegen der prinzipiellen Überlegenheit staatlicher Machtmittel und ihres effektiven Einsatzes zur Durchsetzung der jeweiligen Politikziele kann allerdings eine unmittelbar staatliche Gruppenverfolgung schon dann anzunehmen sein, wenn zwar Referenz- oder Vergleichsfälle durchgeführter Verfolgungsmaßnahmen zum Nachweis einer jedem Gruppenmitglied drohenden Wiederholungsgefahr nicht im erforderlichen Umfang oder überhaupt noch nicht festgestellt werden können, aber hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm vorliegen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 (204).
Aus dem der Asylgewährung zu Grunde liegenden Zufluchtgedanken folgt, dass ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nur dann besteht, wenn der Asylsuchende in seinem Heimatstaat landesweit von politischer Verfolgung bedroht ist. An dieser Voraussetzung fehlt es, wenn der Betroffene zwar in Teilgebieten seines Heimatstaates mit politischer Verfolgung in Form individueller oder gruppengerichteter Verfolgung rechnen muss, wenn er aber in anderen Regionen vor derartiger Verfolgung hinreichend sicher sein kann (inländische Fluchtalternative). Anlass zu näherer Prüfung dieser Frage besteht immer dann, wenn der Heimatstaat des Asylbewerbers als ein so genannter "mehrgesichtiger Staat" nur in Teilen seines Staatsgebiets zu dem Mittel der politischen Verfolgung greift, etwa weil er nur dort seine Integrität bedroht sieht.
BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 961, 1000/86 -, BVerfGE 80, 315 (342); Beschluss vom 22. Dezember 1994 - 2 BvR 168/94 -, NVwZ 1995, 1096 f.; BVerwG, Urteil vom 10. Mai 1995 - 9 C 434.93 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 170.
Der Schutzbereich des Asylgrundrechts wird durch den so genannten "Terrorismusvorbehalt" begrenzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts genießt ein asylsuchender Flüchtling den Schutz des Asylrechts nicht, wenn er von deutschem Boden aus die Umsetzung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln betreibt. Dies gilt selbst dann, wenn ihm in seinem Heimatland eine übermäßig harte oder aus anderen Gründen menschenrechtswidrige Strafe oder etwa mit Folter verbundene Behandlung droht. Ob ein Asylbewerber von diesem Terrorismusvorbehalt betroffen ist, beurteilt sich insbesondere danach, inwieweit sein Handeln in der Bundesrepublik Deutschland geprägt ist durch die Betätigung in oder für Organisationen, die die Durchführung oder Unterstützung terroristischer Aktivitäten zum Ziel haben. Wird die Unterstützung terroristischer Aktivitäten erst in Deutschland aufgenommen, ist eine besonders sorgfältige Prüfung erforderlich, inwieweit das Handeln des Asylbewerbers im vorstehenden Sinne insgesamt terroristisch geprägt ist. Maßgebend ist, ob das Verhalten des Asylbewerbers bei einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Umstände des einzelnen Falles sich als aktive Unterstützung terroristischer Aktivitäten darstellt.
BVerfG, Beschluss vom 26. Oktober 2000 - 2 BvR 1280/99 -, DVBl 2001, 66; Beschluss vom 20. Dezember 1989 - 2 BvR 958/86 -, BVerfGE 81, 142 (145, 152 f.) unter Bezugnahme auf den Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 961, 1000/86 -, BVerfGE 80, 315 (339 ff.); Beschluss vom 8. Oktober 1990 - 2 BvR 508/86 -, InfAuslR 1991, 18 (19 f.); Beschluss vom 25. April 1991 - 2 BvR 1437/90 -, InfAuslR 1991, 257 (260); BVerwG, Urteil vom 10. Januar 1995 - 9 C 276.94 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 175; Urteile vom 30. März 1999 - 9 C 31.98 -, BVerwGE 109, 1, - 9 C 23.98 -, BVerwGE 109, 12, und - 9 C 22.98 -, BVerwGE 109, 25.
Die Konkretisierung dieser verfassungsimmanenten Schranke des Asylrechts findet Ausdruck in § 60 Abs. 8 AufenthG. Nach Satz 1 dieser Vorschrift bietet § 60 Abs. 1 AufenthG keinen Schutz vor Abschiebung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Unberührt hiervon bleibt allerdings ein etwaiger Anspruch auf anderweitigen ausländerrechtlichen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, etwa vor drohenden Eingriffen in die Menschenwürde durch Folter oder Todesstrafe.
Ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter besteht nur dann, wenn der Asylsuchende geltend machen kann, dass er im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG - bei einer Rückkehr in sein Heimatland von politischer Verfolgung bedroht wäre, wenn ihm also zu diesem Zeitpunkt die Rückkehr in die Heimat nicht zugemutet werden kann. Für die danach anzustellende Prognose gelten unterschiedliche Maßstäbe je nach dem, ob der Asylsuchende seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist. Im erstgenannten Fall ist Asyl schon dann zu gewähren, wenn der Asylsuchende bei einer Rückkehr vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher sein kann (sog. herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab). Hat der Asylsuchende sein Heimatland jedoch unverfolgt verlassen, so kann sein Asylanerkennungsbegehren nach Art. 16a Abs. 1 GG nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341 (360); Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (344 ff.); BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 1.94 -, NVwZ 1995, 391.
III. Prognosemaßstab/Vorfluchtgründe
Bei Anwendung dieser Grundsätze ist im vorliegenden Fall der gewöhnliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu Grunde zu legen. Denn der Kläger ist im Jahr 2001 nicht als politisch Verfolgter aus der Türkei ausgereist. Er war vor seiner Ausreise aus der Türkei weder in Gefahr, Opfer einer Gruppenverfolgung zu werden, noch war er von individueller politischer Verfolgung betroffen oder bedroht.
1. Keine Gruppenverfolgung bei Ausreise
Der Kläger war im Zeitpunkt seiner Ausreise keiner Verfolgung wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit oder alevitischen Religionszugehörigkeit ausgesetzt.
Dass der Kläger dem kurdischen Volk angehört, unterliegt keinen durchgreifenden Zweifeln. Die Zuordnung eines türkischen Asylbewerbers zu dieser Volksgruppe ist jedenfalls dann nicht weiter überprüfungsbedürftig, wenn dieser aus einer traditionell von Kurden bewohnten Provinz stammt oder die kurdische Sprache beherrscht, da eine Kenntnis des Kurdischen bei Türken nur in seltenen Fällen vorhanden ist. Beherrscht ein Asylbewerber die kurdische Sprache nicht oder nur mangelhaft, rechtfertigt dies jedoch noch nicht die Vermutung, dass er der ethnischen Gruppe der Kurden nicht angehöre. Denn infolge der ausschließlichen Verwendung der türkischen Sprache im gesamten Bildungswesen hat das Türkische etwa bei kurdischen Familien, deren Bildungsniveau über dem Durchschnitt liegt, das Kurdische als Umgangssprache in vielen Fällen abgelöst.
Rumpf, Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 82 f.; Strohmeier/Yalcin-Heckmann, Die Kurden - Geschichte, Politik, Kultur, München, 2000, S. 28 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 3. Juni 1997 - 25 A 3631/95.A -, S. 16 ff.
Eine Verfolgung wegen kurdischer Volks- oder alevitischer Religionszugehörigkeit fand jedoch zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers aus der Türkei im September 2001 nicht statt. Der Senat geht in ständiger, in das Verfahren eingeführter Rechtsprechung davon aus, dass eine Gruppenverfolgung der Kurden und der Aleviten in der Südost-Türkei jedenfalls seit 1996 nicht festzustellen ist.
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 28. Oktober 1998 - 25 A 1284/96.A -, vom 25. Januar 2000 - 8 A 1292/96.A - und vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -.
2. Keine Individualverfolgung bei Ausreise
Der Kläger war im Zeitpunkt seiner Ausreise auch keiner individuellen politischen Verfolgung ausgesetzt. Der Sachvortrag zu seinem individuellen Verfolgungsschicksal ist nicht glaubhaft.
Es ist Sache des Asylbewerbers, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Hierzu gehört, dass der Asylbewerber zu den als selbst erlebt dargestellten Ereignissen eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer solchen Aussage des Asylbewerbers, eines Zeugen oder sonstigen Prozessbeteiligten ist Aufgabe des Gerichts, die zum Wesen der richterlichen Rechtsfindung, vor allem der freien Beweiswürdigung, gehört. Auch in schwierigen Fällen ist der Tatrichter daher berechtigt und verpflichtet, den Beweiswert einer Aussage selbst zu würdigen. Dabei muss er insbesondere die Persönlichkeitsstruktur, den Wissensstand und die Herkunft des Asylbewerbers berücksichtigen; auf sachverständige Hilfe ist er im Allgemeinen nicht angewiesen.
BVerwG, Beschlüsse vom 21. Juli 1989 - 9 B 239.89 -, InfAuslR 1989, 349, vom 26. Oktober 1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38 (39) und vom 3. August 1990 - 9 B 45.90 -, InfAuslR 1990, 344.
Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht haben somit in eigener Verantwortung festzustellen, ob die Darlegungen eines Asylbewerbers und etwa gehörter Zeugen glaubhaft sind. Ob sich die Gerichte dabei der Hilfe eines Sachverständigen (etwa: für Aussagepsychologie) bedienen wollen, haben sie nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. In aller Regel werden sie sich die zur Glaubhaftigkeitsbeurteilung notwendige Sachkunde selbst zutrauen und auf die Hinzuziehung eines Fachpsychologen verzichten können. Etwas anderes gilt nur dann, wenn im Verfahren besondere Umstände in der Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen hervortreten, die in erheblicher Weise von den Normalfällen abweichen und die es deshalb geboten erscheinen lassen, sachverständige Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es ist dabei grundsätzlich Sache des Asylbewerbers, derartige besondere Umstände aufzuzeigen, soweit ihm dies möglich ist. Wenn Anzeichen dafür erkennbar oder substantiiert vorgetragen sind, dass ein Asylbewerber auf Grund erlittener Misshandlungen traumatisiert sein könnte mit der möglichen Folge, über das Erlebte nur noch selektiv, widersprüchlich oder gar nicht berichten zu können, muss das Gericht allerdings mit besonderer Sorgfalt prüfen, ob es die zur Beurteilung des Sachvortrags erforderliche Sachkunde selbst besitzt oder sachverständiger Hilfe bedarf.
BVerwG, Beschluss vom 29. August 1984 - 9 B 11247.82 -, InfAuslR 1985, 54 (56); Beschluss vom 12. Mai 1999 - 9 B 264.99 -; Beschluss vom 7. Juli 1999 - 9 B 401.99 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 30. März 2001 - 8 A 5585/99.A -, 23. November 2004 - 8 A 2299/04.A - und vom 24. Januar 2005 - 8 A 159/05.A -. Vgl. auch Europäische Kommission für Menschenrechte, Bericht vom 23. April 1998 (Beschwerde 32448/96), InfAuslR 1999, 49 (Erwägungsgründe 96 ff.).
Unter Berücksichtigung der vorstehend dargelegten Maßstäbe hält der Senat den Vortrag des Klägers zu seinem persönlichen Vorfluchtschicksal für unglaubhaft. Es ist ihm in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat weder gelungen, die Ungereimtheiten aufzulösen, die das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil aufgezeigt hat, noch hat er es vermocht, dem Senat durch einen detailreichen, anschaulichen Vortrag die Überzeugung zu vermitteln, dass seine Bekundungen auf tatsächlichen, eigenen Erlebnissen beruhen. Der Vortrag des Klägers zu seinen angeblichen Ausreisegründen ist vielmehr oberflächlich und detailarm und steht zudem in wesentlichen Punkten in Widerspruch zu den Angaben, die dieser im Verwaltungsverfahren und im erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahren gemacht hat; darüber hinaus hat er in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat trotz ausdrücklicher Nachfragen Umstände unerwähnt gelassen, die nach seinen früheren Angaben maßgeblich für den Ausreiseentschluss gewesen sein sollen. Da andere Erklärungen für derart gravierende Abweichungen nicht ansatzweise erkennbar sind, drängt sich der Schluss auf, dass das Vorbringen in den wesentlichen Teilen nicht der Wahrheit entspricht.
Dabei kann dahinstehen, ob der verstorbene Bruder des Klägers sich tatsächlich der PKK-Guerilla angeschlossen hat. Ebenfalls kann offen bleiben, ob es im Zusammenhang damit in den 90er Jahren zu Übergriffen der Sicherheitskräfte gekommen ist, die schließlich dazu führten, dass die Familie des Klägers ihr Heimatdorf verließ und ihren Wohnsitz nach verlegte. Die vom Kläger nicht näher bezeichneten Vorfälle standen - soweit sie ihrer Art und Intensität nach überhaupt asylerheblich waren - jedenfalls nicht in einem objektiv erkennbaren ursächlichen Zusammenhang mit der seinen Angaben zufolge erst im Jahr 2001 erfolgten Ausreise. Dagegen spricht maßgeblich der verstrichene Zeitraum von mehreren Jahren, in dem der Kläger ausweislich der von ihm vorgelegten Entlassungsbescheinigung von Februar 1998 bis August 1999 Wehrdienst geleistet und auch sonst keinen ausreichenden Anlass gesehen hat, sein Heimatland zu verlassen. Seinem Vorbringen sind ferner keine Hinweise darauf zu entnehmen, dass die angebliche, ohnehin schon lange Zeit zurückliegende Unterstützung der PKK durch Anfertigung von Kleidungsstücken aufgefallen wäre.
Die Schilderung der Vorfälle, durch die der Kläger in das Blickfeld der Sicherheitskräfte und damit zugleich in die Gefahr politischer Verfolgung geraten sein will, nimmt der Senat ihm nicht ab. Die Behauptung, im Jahr 1997 für drei Tage festgenommen worden zu sein, weil er dagegen protestiert habe, dass die Behörden die Bestattung des Bruders im Heimatdorf verwehrt hätten, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nicht wiederholt. Auf ausdrückliche Nachfrage wusste er lediglich zu berichten, dass er an der Beerdigung seines Bruders nicht teilgenommen habe; an die Gründe, die einer Teilnahme entgegenstanden, konnte er sich indes nicht erinnern. Das ist nicht nachvollziehbar. Wäre er tatsächlich, wie ursprünglich behauptet, festgenommen, mithin durch die Sicherheitskräfte von der Beerdigung ferngehalten worden, wäre anzunehmen, dass er sich daran noch erinnern würde.
Unglaubhaft ist auch die Schilderung des Ereignisses, durch das der Kläger sich veranlasst gesehen haben will unterzutauchen. Die zu der angeblichen Gedenkfeier auf dem Friedhof in gemachten Angaben variieren in einem Maße, das sich selbst bei wohlwollender Betrachtung nicht mit etwaigen Erinnerungslücken erklären lässt. So soll die Gedenkfeier nach den früheren Angaben aus Anlass des dritten Todestages des Bruders am 29. Oktober 2000, also etwa ein Jahr nach Beendigung des Wehrdienstes und zugleich ein Jahr vor der Ausreise des Klägers stattgefunden haben. In der zweitinstanzlichen mündlichen Verhandlung ordnete er das betreffende Ereignis ohne nachvollziehbaren Grund dem 29. Oktober 1999 zu. Nicht miteinander zu vereinbaren sind die Angaben zu dem Kreis der Personen, die sich an der Aktion beteiligt haben sollen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger angegeben, es seien keine Fremden, sondern nur Verwandte dabei gewesen, nämlich seine Cousins , und sowie ein weiterer Verwandter namens . Nunmehr sollen es 10 bis 15 Personen, darunter nur zwei Verwandte namens und , gewesen sein; alle anderen Personen seien Bekannte und politische Freunde gewesen.
Die Ereignisse, die sich im Anschluss an diese Gedenkveranstaltung zugetragen haben sollen, hat der Kläger ebenfalls widersprüchlich dargestellt. Anders als im Verwaltungsverfahren und in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht berichtete er dem Senat weder von einer Hausdurchsuchung, die nach der Gedenkfeier in seinem Elternhaus stattgefunden hat, noch von einem Überfall auf die HADEP-Zentrale in im Jahr 2001, bei der vier Personen festgenommen sein sollen, die sodann den Sicherheitskräften den Aufenthaltsort des zwischenzeitlich nach Istanbul geflüchteten Klägers verraten haben sollen. Die erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat aufgestellte Behauptung des Klägers, er sei schon vor der Gedenkfeier auf dem Friedhof in gesucht worden und deshalb vorübergehend zu einem Freund gezogen, ist schon deshalb nicht plausibel, weil der Kläger keine Gründe für die angebliche Suche nach ihm benannt hat. Zudem lässt sich die nunmehrige Darstellung nicht mit seiner eigenen Erklärung in Einklang bringen, er habe bis zu jenem Tag in seinem Elternhaus gelebt. Dort hätten die Sicherheitskräfte ihn, wäre er tatsächlich gesucht worden, jederzeit antreffen können. Einen konkreten Anlass dafür, dass er im Jahr 2001, also nach den zuletzt gemachten Angaben immerhin etwa zwei Jahre nach der angeblichen Gedenkfeier, meinte, nicht länger in Istanbul bleiben zu können, wusste der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat, anders als in den früheren Verfahrensabschnitten, nicht zu nennen. Die Behauptung, die Wohnung seines Onkels, bei dem er in Istanbul gewohnt habe, sei überfallen worden, wiederholte er nicht.
Schließlich vermag auch das Vorbringen des Klägers zu seinen angeblichen Festnahmen nicht zu überzeugen. Im Gegensatz zu seiner Angabe zu Beginn seiner Befragung durch den Senat, er sei am 29. Oktober 1999, dem Jahrestag des Todes seines Bruders, festgenommen worden, berichtete er im Folgenden zwar von der Gedenkfeier, die er veranstaltet haben will; zu einer Festnahme ist es bei oder nach dieser Aktion nach seiner Schilderung aber gerade nicht gekommen. Die Behauptung, er sei außerdem einige Tage nach der Beerdigung seines Bruders festgenommen worden, steht - wie bereits erwähnt - in Widerspruch zu seinen früheren Angaben, er sei schon vor der Beerdigung festgenommen worden.
Das Ergebnis der Zeugenvernehmung rechtfertigt keine dem Kläger günstigere Bewertung seines Vorbringens. Der Zeuge konnte lediglich als Zeuge vom "Hörensagen" von einem Gespräch mit dem Vater des Klägers berichten, in dem jener erwähnte, die Sicherheitskräfte hätten nach dem Kläger gefragt. Hinweise darauf, wann und aus welchem Anlass dies geschehen sein soll, ergeben sich aus der Aussage des Zeugen nicht.
IV. Verfolgungsprognose
Der unverfolgt ausgereiste Kläger muss nicht befürchten, bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politisch verfolgt zu werden; weder droht ihm Verfolgung in Anknüpfung an seine kurdische Volkszugehörigkeit oder Religionszugehörigkeit (dazu IV.1.) noch auf Grund individueller Umstände (dazu IV.2.).
1. Keine Gruppenverfolgung bei Rückkehr
Dem Kläger droht bei Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung in Anknüpfung an seine kurdische Volkszugehörigkeit (dazu a.) oder an seine alevitische Religionszugehörigkeit (dazu b.).
a. Keine Anknüpfung an die kurdische Volkszugehörigkeit
Der Senat hält an seiner gefestigten Rechtsprechung, dass Kurden in der Türkei keiner Gruppenverfolgung unterliegen, vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 28. Oktober 1998 - 25 A 1284/96.A -, vom 25. Januar 2000 - 8 A 1292/96.A - und vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -; ebenso: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2001 - A 12 S 169/99 -; OVG Bremen, Urteil vom 30. Mai 2001 - 2 A 346/99.A -; OVG Niedersachsen, Urteil vom 11. Oktober 2000 - 2 L 4591/94 -; OVG Sachsen, Urteil vom 9. Oktober 2003 - A 3 B 4054/98 -; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 29. April 1999 - A 1 S 155/97 -, S. 7; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 4. März 2002 - 4 L 356/94 -; OVG Thüringen, Urteil vom 25. November 1999 - 3 KO 165/96 (2) -; Hessischer VGH, Urteil vom 5. August 2002 - 12 UE 2982/00.A -, ESVGH 53, 60 (nur LS) (seit Anfang 2002 keine Gruppenverfolgung mehr); im Ergebnis (eine inländische Fluchtalternative in der Westtürkei bejahend) auch OVG Berlin, Urteile vom 14. Oktober 2003 - 6 B 7.03 -, und vom 20. November 2003 - 6 B 11.03 -; OVG Hamburg, Urteil vom 26. Januar 2005 - 4 Bf 36/96.A -; offengelassen: Bayerischer VGH, Beschluss vom 31. Juli 1997 - 11 BA 96.33483 -; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. November 2001 - 3 L 9/95 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26. Januar 2001 - 10 A 11907/00 - (keine landesweite Gruppenverfolgung, Vorliegen einer örtlichen Gruppenverfolgung offen gelassen); OVG Saarland, Beschluss vom 27. Oktober 2000 - 9 Q 56/00 -, auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen weiter fest.
Allerdings wurden in der Vergangenheit und werden nach wie vor Kurden in der Türkei häufig Opfer von Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Intensität, die trotz der umfassenden Reformbemühungen, insbesondere der "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter weiterhin dem türkischen Staat zurechenbar sind, vgl. zur Verantwortlichkeit des türkischen Staates für Misshandlungen von Islamisten: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 26. Mai 2004 - 8 A 3852/03.A -, S. 22 ff., weshalb auch gegenwärtig verfolgt ausgereiste Kurden vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher sind.
Ebenso: OVG Sachsen, Urteil vom 9. Oktober 2003 - A 3 B 4054/98 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12. März 2004 - 10 A 11952/03 -; im Ergebnis auch OVG Thüringen, Urteil vom 18. Dezember 2003 - 3 KO 275/01 -.
Diese Einschätzung wird durch die Ausführungen im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Mai 2004 nicht in Frage gestellt. Zwar heißt es dort auf S. 36 f., aufgrund der Reformen könne davon ausgegangen werden, dass zurückkehrende Asylbewerber in der Türkei nicht gefoltert werden, und zwar auch dann nicht, wenn sie zuvor bereits gefoltert oder misshandelt worden seien. Da das Auswärtige Amt aber andererseits auch angibt, dass Folter in der Türkei nach wie vor ein Problem darstellt, liegt dieser Prognose ersichtlich nicht der Maßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit zugrunde.
Die Annahme einer Gruppenverfolgung ist jedoch nicht gerechtfertigt, weil die Maßnahmen zum einen nicht an die ethnische Zugehörigkeit der Opfer anknüpfen (dazu a., Abschnitte aa. bis ee.) und zum anderen - hiervon unabhängig - die Verfolgungsschläge nicht so zahlreich sind, dass jeder bisher nicht betroffene Kurde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit konkret befürchten muss, in absehbarer Zeit selbst ebenfalls betroffen zu sein (dazu a., Abschnitt ff.).
aa. Verfolgungsgebiet, aktuelle Lage
Eine Gruppenverfolgung muss nicht notwendig auf das gesamte Gebiet eines Staates bezogen sein. Wo ein "mehrgesichtiger Staat" nur in Teilen seines Staatsgebiets die Verfolgung einer durch gemeinsame asylrelevante Merkmale gekennzeichneten Gruppe praktiziert oder duldet (regionale Gruppenverfolgung), besteht nur in der betroffenen Region für jedes Gruppenmitglied die aktuelle Gefahr politischer Verfolgung.
BVerwG, Urteil vom 9. September 1997 - 9 C 43.96 -, BVerwGE 105, 204 (207 ff.).
Für die Kurden in der Türkei ist von vornherein lediglich eine regional begrenzte Gruppenverfolgung in bestimmten Provinzen im Südosten in Betracht zu ziehen, da es an aussagekräftigen Anhaltspunkten dafür fehlt, dass auch im Westen der Türkei eine an die kurdische Volkszugehörigkeit anknüpfende politische Verfolgung in der erforderlichen Dichte feststellbar sein könnte.
Als Gebiet einer denkbaren regionalen Gruppenverfolgung sieht der Senat in ständiger Rechtsprechung diejenigen 22 türkischen Provinzen an, die zum traditionellen Siedlungsgebiet der Kurden in der Türkei zählen und von kurdischen Intellektuellen und Journalisten als "kurdische Provinzen" bezeichnet werden: (Adiyaman, Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Elazig, Diyarbakir, Erzincan, Erzurum, Gaziantep, Hakkari, Igdir, Kahramanmaras, Kars, Malatya, Mardin, Mus, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van). Das aus diesen 22 Provinzen bestehende Gebiet soll im Folgenden als Ostanatolien bezeichnet werden. Für die Abgrenzung dieses Gebiets ist die Geltung des Notstandsrechts, das seit 1987 in zahlreichen Provinzen während unterschiedlicher Zeiträume galt, zuletzt bis 2002 in Diyarbakir, Sirnak, Hakkari und Tunceli, zweitrangig. Denn zum einen waren auch die an Notstandsprovinzen angrenzenden Provinzen der Aufsicht durch den Notstandsgouverneur unterstellt, zum anderen waren kollektive Verfolgungsmaßnahmen wie Dorfräumungen nicht stets auf die dem Notstandsrecht unterstehenden Provinzen beschränkt; nach dem Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission zur Erforschung der Dorfräumungen in Ost- und Südostanatolien, der der türkischen Nationalversammlung am 14. Januar 1998 vorgelegt wurde, haben solche Dorfräumungen in insgesamt 20 Provinzen Ostanatoliens stattgefunden.
Kaya, Gutachten vom 4. November 1994 an OVG Hamburg, S. 7 f.; Gutachten vom 14. Oktober 1997 an OVG Mecklenburg-Vorpommern; Gutachten vom 10. März 2001 an VG Sigmaringen; ähnlich Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997 an OVG Mecklenburg-Vorpommern, S. 1; Parlamentarische Untersuchungskommission, Kommissionsbericht vom 14. Januar 1998, Abschnitt 3.1. (S. 20); vgl. auch amnesty international, Gutachten vom 21. August 1997 an VG Berlin, S. 2; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 2. April 1997 an VG Berlin, S. 2; Lageberichte vom 20. März 2002, S. 17, und vom 19. Mai 2004, S. 22; Rumpf, Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 12 f.
Auch die Rekrutierung von Dorfschützern, die dem Ziel diente, einen Keil zwischen die Bevölkerung und die Guerilla zu treiben und darüber hinaus als Loyalitätstest eingesetzt wurde, beschränkte sich nicht auf die Notstandsprovinzen, sondern wurde auch in angrenzenden Gebieten praktiziert.
Vgl. Kaya, Gutachten vom 21. Juni 2003 an VG Stuttgart.
Diese Beschränkung des Untersuchungsgebiets auf Ostanatolien rechtfertigt sich aus der unterschiedlichen Bedrohungslage, in der sich die kurdische Bevölkerung einerseits dort und andererseits in den übrigen Teilen der Türkei befindet. Es handelt sich hierbei um diejenigen Provinzen, in denen in unterschiedlichem Maße die militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PKK (Partiya Karkeren Kurdistan = Partei der Arbeiter Kurdistans) bzw. ihren Nachfolgeorganisationen und den türkischen Sicherheitskräften stattfanden bzw. nach Beendigung des Waffenstillstandes im Juni 2004 wieder stattfinden und in denen die Behörden nach wie vor dazu neigen, das Verhalten der kurdischen Bevölkerung in pauschaler Weise als separatistisch einzustufen. Im Wesentlichen auf dieses Gebiet erstreckten sich unter der Geltung des erst am 30. November 2002 endgültig außer Kraft getretenenen Notstandsrechts die Zwangsräumungen von Dörfern und Weilern mit den damit einhergehenden quantitativ und qualitativ bedeutsamen Eingriffen in die Freiheit und die körperliche Unversehrtheit sowie in die wirtschaftliche Existenz der Dorfbewohner.
Über Jahre hinweg stand in Ostanatolien die seit 1984 mit militärischen Mitteln geführte Auseinandersetzung mit der PKK im Mittelpunkt, die bis 1999 etwa 30.000 Menschenleben forderte und zur Flucht bzw. Vertreibung von ungezählten Menschen führte; nach Schätzungen betrug die Zahl der Binnenvertriebenen zwischen 350.000 und 3 Millionen.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 52; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Mai 2004, S. 20.
Dem rücksichtslosen Vorgehen der PKK, deren Opfer vor allem Dorfschützer und deren Familien sowie Sicherheitsbeamte, Staatsanwälte, Richter und Lehrer sowie allgemein Angehörige staatlicher Einrichtungen waren, entsprach eine vergleichbare Rücksichtslosigkeit der staatlichen Kräfte, die bei einer überaus niedrigen Eingriffsschwelle und bereits bei geringfügigen Verdachtsmomenten mit großer Härte und flächendeckend gegen als separatistisch eingestufte Personen und Gruppen und ihre Sympathisanten vorgingen. Die Verhaftung und rechtskräftige Verurteilung von PKK-Chef Abdullah Öcalan im Jahre 1999 führte vorübergehend zu einer weiteren Zunahme der Spannungen, insbesondere zu verschärften Repressionen gegen Mitglieder und Sympathisanten der HADEP bei den Parlaments- und Kommunalwahlen am 18. April 1999. Danach beruhigte sich die Lage indes wieder.
Zur Situation nach der Verhaftung und Verurteilung von Öcalan Senatsurteil vom 25. Januar 2000 - 8 A 1292/96.A -, Rz 47 ff., 112 ff. m.w.N.; Auswärtiges Amt, ad hoc-Bericht vom 25. Februar 1999; Lageberichte vom 7. September 1999, vom 24. Juli 2001, S. 6, 16 f., 22, und vom 20. März 2002, S. 10 f. und 15 ff.; Aydin, Verhandlungsniederschrift des VG Aachen vom 8. Dezember 1999, S. 7.
Die PKK hielt an dem am 1. September 1998 einseitig verkündeten Waffenstillstand fest und beschloss auf ihrem 7. Außerordentlichen Parteikongress im Januar 2000 eine "Strategie des demokratischen Wandels". Auf dem 8. Parteikongress vom 4. bis 10. April 2002 wurde sodann beschlossen, alle Aktivitäten im Namen der PKK einzustellen; als "legitimer und einziger Nachfolger der PKK" wurde eine Organisation mit der Bezeichnung KADEK ("Kongrya Azadi u Demokrasiya Kurdistan = Freiheit und Demokratie Kongress Kurdistan) gegründet, die nach der Wahl Abdullah Öcalans zum Vorsitzenden und unter der (vorläufigen) Leitung des Bruders von Abdullah Öcalan die "Einheit des kurdischen Volkes mit den Nachbarvölkern auf freiwilliger Basis" erreichen soll (Zitate entstammen der Abschlusserklärung vom 15. April 2002). Der KADEK löste sich bereits auf seinem zweiten außerordentlichen Kongress am 26. Oktober 2003 wieder auf; kurz darauf wurde die Gründung des Kurdischen Volkskongresses (KONGRA-GEL; türkisch: KHK) bekanntgegeben, der die Waffenruhe zunächst weiter einhielt. Nach Schätzungen der türkischen Sicherheitskräfte ist die Zahl der aktiven Kämpfer auf 4000 bis 5500 zurückgegangen, von denen sich nur noch etwa 10% auf türkischem Boden aufhalten sollen.
Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Mai 2004, S. 20.
Bei der Parlamentswahl vom 3. November 2002, bei der die prokurdische DEHAP statt der zwischenzeitlich am 13. März 2003 verbotenen HADEP angetreten und trotz beachtlicher Erfolge im Südosten mit einem Stimmenanteil von 6,2 % landesweit an der 10%-Klausel gescheitert war, errang die AKP (Gerechtigkeits- und Aufbaupartei) die absolute Mehrheit der Parlamentssitze; inzwischen verfügt sie infolge von Parteiübertritten sogar über eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit. Die jetzige Regierung unter Recep Tayyip Erdogan setzte den schon von der vorherigen Regierung unter Premierminister Ecevit eingeleiteten Reformkurs mit einer Vielzahl von Verfassungs- und Gesetzesänderungen fort, die dem erklärten Ziel dienen, die Voraussetzungen für eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union gerade auch in Bezug auf die Wahrung der Menschenrechte zu erfüllen. In diesem Zusammenhang steht auch die von der türkischen Regierung seit 2002 verfolgte Politik der "Null-Toleranz" gegen Folter.
Zur aktuellen Lage, insbesondere den verschiedenen Reformpaketen vgl. Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 16 ff. und passim; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 7 f.; Graf (Schweizerische Flüchtlingshilfe), Türkei - Zur aktuellen Situation -, Juni 2003, S. 15 ff.
Durch zahlreiche strafprozessuale Gesetzesänderungen, wie etwa die Abschaffung der sog. "incommunicado-Haft", die Verankerung des Rechts eines Verhafteten auf sofortigen Zugang zu einem Rechtsanwalt und die Pflicht, verhaftete Personen nach dem polizeilichen Verhör in Abwesenheit der Sicherheitskräfte ärztlich untersuchen zu lassen, soll der nach wie vor weit verbreiteten Praxis der Sicherheitsbehörden begegnet werden, festgenommene Personen durch Misshandlung und Folter zu Aussagen bzw. Geständnissen zu bewegen. Einer Forderung der Europäischen Kommission entsprechend hat die Türkei die Todesstrafe abgeschafft und die Wiederaufnahme von Verfahren nach Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geregelt; die Anwendbarkeit der letztgenannten Regelung wurde allerdings durch Übergangsvorschriften in zeitlicher Hinsicht so gestaltet, dass sich insbesondere Abdullah Öcalan, dessen Verurteilung vom 29. Juni 1999 nach den Feststellungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, EGMR, Urteil vom 12. März 2003 - Nr. 46221/99 -, EuGRZ 2003, 472 ff., auf einem in mehrfacher Hinsicht menschenrechtswidrigen Verfahren beruhte, darauf nicht berufen kann.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 42.
Unter den zahlreichen Gesetzesreformen ist in diesem Zusammenhang auch die Abschaffung bzw. Ersetzung der Staatssicherheitsgerichte durch neu eingerichtete regionale Gerichte für schwere Straftaten zu nennen, für die nunmehr die allgemeinen strafprozessualen Vorschriften im Wesentlichen ohne Einschränkungen gelten.
Vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Auskunft vom 26. November 2004 an VG Frankfurt/Oder.
Die Reformpakete betrafen ferner solche Strafvorschriften, die der Abwehr separatistischen Gedankenguts und separatistischer Handlungen sowie der Unterstützung der PKK dienen. So wurde der von Menschenrechtsaktivisten häufig kritisierte Art. 8 ATG im Juni 2003 abgeschafft; andere Straftatbestände wurden durch die Reformpakete der Jahre 2002 und 2003 konkretisiert, generalklauselartige Bestimmungen aufgehoben, Strafmaße reduziert.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 37; amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; zur Kritik an der als unzureichend angesehenen Liberalisierung des Meinungsstrafrechts vgl. Frankfurter Rundschau vom 1. April 2005.
In verschiedenen Lebensbereichen ist der Einfluss des Militärs zurückgedrängt worden. Die militärischen Vertreter in zivilen Gremien wie dem Hohen Bildungsrat und dem Hohen Rundfunk- und Fernsehrat wurden ihrer Ämter enthoben. Dem bislang sehr einflussreichen Nationalen Sicherheitsrat (NSR) gehören nun mehrheitlich Zivilisten an; im August 2004 wurde erstmals ein Zivilist zum Generalsekretär berufen. Zudem hat der NSR aufgrund des Gesetzes vom 10. Dezember 2003 keine exekutiven Aufgaben mehr, sondern ausschließlich beratende Funktion.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 16, 19, 23.
Auch wenn das Militär seinen Einfluss dadurch nicht ganz verloren hat, ist vor dem Hintergrund dieser Maßnahmen nicht davon auszugehen, dass nicht Parlament und Regierung, sondern führende Militärs als sogenannter "Staat im Staat" die maßgeblichen Entscheidungen treffen und das Vorgehen der Sicherheitskräfte eigenständig lenken.
Weit reichende Änderungen haben die Vorschriften über den Gebrauch der kurdischen Sprache erfahren. Während Kurdisch bislang lediglich als Umgangssprache toleriert wurde, dürfen nunmehr aufgrund einer Änderung des Gesetzes über den Hohen Radio- und Fernsehrat RTÜK durch das Reformpaket vom 3. August 2002, die erst nach langen Beratungen durch Erlass der entsprechenden Durchführungsbestimmungen am 25. Januar 2004 umgesetzt wurde, in Rundfunk und Fernsehen kurdische Sendungen ausgestrahlt werden. Erlaubt sind allerdings lediglich Nachrichten, Musik- und Kulturprogramme. Sprachunterricht in kurdischer Sprache ist mittlerweile ebenfalls erlaubt und findet seit 2004 in einigen größeren Städten statt, wenn auch beschränkt auf Personen, die bereits die Pflichtschulzeit von 8 Jahren absolviert haben. Vereine und Parteien sind nur noch bei offizieller Korrespondenz mit staatlichen Institutionen verpflichtet, die türkische Sprache zu verwenden; zuvor hatte dies auch für vereinsinterne Aktivitäten gegolten. Die Vergabe kurdischer Vornamen ist nicht mehr schlechthin verboten; die Buchstaben w, x und q, die im türkischen Alphabet nicht vorkommen, müssen transkribiert werden.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 40 f., 50 f.; Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 16 und 19 f., und Auskunft vom 24. November 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Nicht den von der Regierung erhofften Erfolg brachte das sog. Wiedereingliederungsgesetz vom 29. Juli 2003 (Gesetz Nr. 4959).
Zu dessen Wortlaut vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. August 2003.
Danach wurde Mitgliedern terroristischer Organisationen, die sich in dem Zeitraum vom 6. August 2003 bis zum 7. Februar 2004 stellten, Straffreiheit gewährt, sofern sie nicht an bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligt waren. Das gleiche galt für Personen, die derartige Organisationen unterstützt haben, sofern die Unterstützung nicht in der Überlassung von Waffen und Munition bestanden hat. Für Personen, die an bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligt waren oder der Organisation Waffen oder Munition überlassen hatten, sieht das Gesetz - sofern es sich nicht um Führungskader handelt - eine Strafminderung vor; diese Strafminderung gilt - im Gegensatz zur Straffreiheit - ohne zeitliche Befristung. Die Ursache für eine weit reichende gesellschaftliche Ablehnung des Wiedereingliederungsgesetzes mag darin gesehen werden, dass Mitglieder - nicht auch bloße Unterstützer - bewaffneter Organisationen von dem Gesetz nur dann profitieren konnten, wenn sie verwertbare Aussagen über die Organisation, ihre Strukturen und andere Mitglieder machten.
Vgl. amnesty international, Gutachten vom 30. Januar 2004 an VG Köln und Gutachten vom 23. November 2004 an VG Frankfurt/Main; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 12. August 2003, S. 21, und vom 19. Mai 2004, S. 21; zu früheren Amnestien: Sözüer, Amnestien in der Türkei, ZAR 2002, 100.
Immerhin ist nach den vorliegenden Erkenntnissen davon auszugehen, dass die Amnestieregelungen in der Praxis zugunsten derjenigen Personen, die sich auf sie berufen haben, umgesetzt wurden. Nach offiziellen Angaben, deren Richtigkeit von Menschenrechtsorganisationen nicht in Frage gestellt wird, nahmen 3107 Personen, darunter 2419 Inhaftierte, die Amnestie in Anspruch; 688, darunter 201 PKK-Mitglieder, stellten sich. Von den Inhaftierten wurden 1008, darunter 465 PKK-Mitglieder und -Unterstützer, freigelassen; von denen, die sich gestellt hatten, 584. Nach Angaben des IHD Diyarbakir gibt es auch keine Erkenntnisse über Folterung von Personen, die das Amnestiegesetz in Anspruch nehmen wollten.
Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen. Vgl. auch Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24. November 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; die dort genannte Zahl von 3017 (statt 3107) Personen, die sich auf das Wiedereingliederungsgesetz berufen haben, beruht ersichtlich auf einem Schreibversehen.
Praktisch umgesetzt wurden auch die Strafrechtsreformen, die bis Januar 2005 bereits zur Entlassung tausender Häftlinge geführt haben, darunter auch 1.147 Gefangener, die wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Bande verurteilt worden waren.
IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 240-241, 24. Januar bis 22. Februar 2005; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24. November 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der inzwischen acht Reformpakete der AKP-Regierung und ihres von allen Beobachtern - trotz weiterhin festzustellender Vollzugsdefizite - als ernsthaft bewerteten Bemühens, die Menschenrechtslage deutlich zu verbessern, ist in den vergangenen drei Jahren auch im Südosten der Türkei, der viele Jahre unter den bewaffneten Auseinandersetzungen gelitten hatte, eine Atmosphäre der Hoffnung aufgekommen. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, dass seit Januar 2003 über 124.000 binnenvertriebene und aus sonstigen Gründen abgewanderte Kurden trotz bislang vielfach ungelöster Eigentums- und Entschädigungsfragen und trotz der Konflikte, die aus der nicht annähernd gelösten Dorfschützerproblematik resultieren, in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt sind.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 52.
Ein wesentlicher Faktor wird dabei der Umstand gewesen sein, dass es in den Jahren 2002 und 2003 nicht mehr zu Zwangsräumungen gekommen ist und der von der PKK ausgerufene Waffenstillstand, von vereinzelten Gefechten abgesehen, hielt.
Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Diese Entwicklung hat indessen im Sommer 2004 einen herben Rückschlag erfahren. Nach internen Auseinandersetzungen innerhalb der PKK-Nachfolgeorganisation KONGRA-GEL rief deren Vorsitzender Zübeyir Aydar, der sich gegenüber dem gemäßigten Kurs des Öcalan-Bruders Osman durchgesetzt hatte, zum 1. Juni 2004 das Ende des seit 1999 währenden Waffenstillstandes aus. Appelle führender DEHAP-Politiker, insbesondere der kurz zuvor nach erfolgreichem Wiederaufnahmeverfahren freigelassenen ehemaligen Parlamentsabgeordneten Leyla Zana, blieben ebenso erfolglos wie eine Friedensdemonstration Tausender Menschen in Diyarbakir.
Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung und Frankfurter Rundschau, jeweils vom 14. Juni 2004; IMK- Menschenrechtsin-formationsdienst Nr. 224-225, 16. Juni bis 10. Juli 2004. Nach neuesten Berichten soll die PKK inzwischen wieder ihren alten Namen angenommen haben, vgl. Frankfurter Rundschau vom 16. April 2005.
Die Kampfhandlungen zwischen der Frontorganisation des KONGRA-GEL, der HPG ("Verteidigungskräfte des Volkes"), und den türkischen Sicherheitskräften erreichen zwar nicht die Intensität, mit der sie in der Zeit vor 1999 geführt wurden. Gleichwohl kehrten die türkischen Sicherheitskräfte mit dem Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen zu den aus den Zeiten des Notstands bekannten Vorgehensweisen zurück, die sich in erster Linie gegen die bewaffneten Kämpfer richten, darüber hinaus aber auch die Zivilbevölkerung mit teilweise asylerheblichen Maßnahmen überziehen. So kommt es nicht nur wieder zu gravierenden Einschränkungen der Bewegungsfreiheit durch Reise- und Weideverbote, vor allem in den Provinzen Agri, Igdir, Kars, Sirnak und Hakkari, sondern auch zu mehrtägigen Belagerungen, Blockaden von Lebensmittellieferungen, Abbrennen von Wäldern und Räumungen ganzer Dörfer, in deren Nähe sich zuvor gewaltsame Auseinandersetzungen ereignet haben. Hiervon waren bislang insbesondere Dörfer im Kreis Beytüssebap/Provinz Sirnak sowie im Kreis Gürpinar/Provinz Van betroffen.
Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Eine durchgreifende Entspannung, die die Gefahr asylerheblicher Übergriffe der Sicherheitskräfte weitgehend ausschließen würde, ist gegenwärtig und auch für die absehbare Zukunft nicht festzustellen. Die Menschenrechtspraxis, insbesondere das Vorgehen von Polizei und Jandarma in Ostanatolien und in den Großstädten der Westtürkei, hat sich allerdings in den vergangenen Jahren verändert. So wird berichtet, dass die strafprozessualen Vorschriften, die der Verhinderung von Folter insbesondere in der Polizeihaft dienen, in aller Regel beachtet werden. Zugleich mehren sich aber die Berichte über Misshandlungen und Übergriffe außerhalb von Polizeiwachen, etwa in Fahrzeugen oder außerhalb der Ortschaften, sowie darüber, dass die Sicherheitskräfte gezielt solche Foltermethoden anwenden, die - anders als etwa das bislang weit verbreitete Aufhängen an den Armen und die Verabreichung von Elektroschocks - keine körperlichen Spuren hinterlassen.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 36; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 36.
Auch die von türkischen Menschenrechtsorganisationen für die Jahre 2003 und 2004 genannten Zahlen belegen, dass sich die Lage in der Türkei trotz der immer engagierter geführten Diskussion um Demokratie und Menschenrechte und trotz erheblicher Verbesserungen der rechtlichen Grundlagen für einen effektiven Schutz der Menschenrechte noch nicht grundlegend verbessert hat.
Nachdem die türkischen Menschenrechtsvereinigungen im Jahr 2003 eine - möglicherweise auch bedingt durch eine gestiegene Anzeigebereitschaft - gegenüber 2002 leicht erhöhte Zahl von Folterfällen erfasst hatten, registrierten sie im Jahr 2004 einen leichten Rückgang. Zugleich stieg jedoch die Anzahl derjenigen, die sich über Folter außerhalb der förmlichen Haft beklagten, erheblich an.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 35; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 35 f.; Die Welt vom 18. März 2005.
Allein die Organisation Mazlum Der berichtet bezogen auf das Jahr 2004 von 35 Toten durch extra-legale Hinrichtungen und Folter, 275 Fällen von Folter und Misshandlung, vier Todesfällen in Polizeihaft und der Entvölkerung von 11 Dörfern.
Vgl. IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 240-241, 24. Januar bis 22. Februar 2005.
Zudem legt die Härte, mit der die türkischen Sicherheitskräfte auf das Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen reagiert haben, die Einschätzung nahe, dass der gegenwärtige Reformprozess keineswegs unumkehrbar ist. Er wird allem Anschein nach von großen Teilen des Staatsapparats und einflussreichen gesellschaftlichen Kräften abgelehnt oder zumindest nicht unterstützt. Den in den gesetzlichen Reformen zum Ausdruck gebrachten Mentalitätswandel haben sie noch nicht vollzogen.
Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 8, 10.
Die Asylerheblichkeit der Aktionen der Sicherheitskräfte kann nicht mit der Begründung verneint werden, es handle sich um Exzesstaten. Folter ist in der vorstehend beschriebenen geänderten Form noch derart weit verbreitet, dass von einer üblichen Praxis gesprochen werden muss, auch wenn dies erklärtermaßen den gesetzlichen und politischen Vorgaben widerspricht. Dass die vielfach noch anzutreffende menschenrechtswidrige Praxis der Sicherheitskräfte dem türkischen Staat zuzurechnen ist, folgt zudem daraus, dass der Staat als solcher - unabhängig von den Absichten und Zielen der gegenwärtigen Regierung - die Verantwortung für das Entstehen dieser Praxis trägt und noch keine ausreichenden Maßnahmen getroffen hat, den Missständen ein Ende zu setzen. Der türkische Staat hat in der Vergangenheit sogar die Instrumente, mit welchen die Folterungen begangen werden, aus seinem Haushalt finanziert und Einrichtungen unterhalten, die mit speziellen, der Misshandlung von Menschen dienenden Geräten ausgestattet waren. Der Menschenrechtsausschuss der türkischen Nationalversammlung hat bei einer Inspektionsreise in Vernehmungsräumen von Gefängnissen und Polizeistationen zahlreiche Folterinstrumente entdeckt. Demgegenüber sind die Bemühungen, die Ausbildung von Angehörigen der Sicherheitskräfte zu verbessern, die Rechtsgrundlagen für eine Durchsetzung des nach türkischem Verfassungsrecht und Internationalem Recht für die Türkei verbindlichen Folterverbots zu verbessern und vor allem die Folterer auch strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, nicht konsequent und umfassend genug, wenngleich nicht zu verkennen ist, dass gerade in jüngster Zeit vermehrt Strafverfahren gegen Folterer eingeleitet werden und auch zu Verurteilungen führen.
Kaya, Gutachten vom 17. April 2004 an VG Frankfurt/Oder; Rumpf, Gutachten vom 24. Juli 1998 an VG Berlin, S. 23; zu Art und Ausmaß der Folterpraxis: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20. März 2002, S. 37; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Länderbericht Türkei 2001, Abschnitt 7; Rat der Europäischen Union, Bericht der Delegation des Vereinigten Königreichs vom 30. August 2001, S. 49 ff.; Oberdiek, Gutachten vom 17. Februar 1997 an VG Hamburg, S. 73 ff.; zum mangelhaften Vorgehen gegen Folterer auch FR vom 25. Februar 2002; amnesty international, Gutachten vom 15. April 1998 an VG Hamburg, S. 3, 12; NZZ vom 4. Mai 2002 (Verurteilung eines Folteropfers bei gleichzeitiger Einstellung des Verfahrens gegen die Folterer wegen Verjährung).
Mit Blick auf die Vorkommnisse im Südosten seit dem Sommer 2004 wäre auch die Annahme nicht realitätsgerecht, Großeinsätze, die über mehrere Tage und Wochen andauern und an denen Hunderte von Einsätzkräften beteiligt sind, könnten ohne Duldung und Billigung der maßgeblichen staatlichen Stellen durchgeführt werden. Konkrete Anhaltspunkte für die Annahme, dass diese Großeinsätze allein von der Militär- und Polizeiführung als sogenannter "Staat im Staat" zu verantworten wäre, fehlen; im Übrigen sind auch deren Handlungen dem türkischen Staat ohne weiteres zurechenbar.
Die Menschenrechtsverletzungen durch türkische Sicherheitskräfte lassen sich nicht mit der Begründung rechtfertigen, das staatliche Vorgehen diene der Abwehr des Terrorismus. Selbst wenn die Bekämpfung militanter Angehöriger der PKK bzw. ihrer Nachfolgeorganisationen dem Bestandsinteresse des türkischen Staates dienen sollte, so bietet das - auch durch die türkische Rechtsordnung nicht gedeckte - Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte doch das Bild staatlichen Gegenterrors mit dem Ziel, auch die am Konflikt nicht unmittelbar beteiligte Zivilbevölkerung unter den Druck brutaler Gewalt zu setzen.
Zum rechtlichen Ansatz BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (337 ff.); Beschluss vom 22. Januar 1999 - 2 BvR 86/97 -, NVwZ-Beilage I 1999, S. 81 ff. m.w.N.
Allerdings haben sich die Schwerpunkte im Vorgehen der staatlichen Kräfte in den vergangenen Jahren erkennbar verschoben: Auch wenn das türkische Militär nach wie vor gegen die PKK vorgeht, so ist diese doch militärisch weitgehend besiegt. Abgesehen von den Aktionen der Sicherheitskräfte, die in Zusammenhang mit der Beendigung der Waffenruhe stehen und bislang nur einzelne Dörfer betrafen, hat es seit 2002 keine an einen pauschalen Separatismus-Verdacht anknüpfenden Dorfräumungen gegeben. Für die früher geübte Praxis, die Aufforderung zur Übernahme des Dorfschützeramtes als Test für die Loyalität der Betroffenen einzusetzen, ist kein Raum mehr, seitdem die Rekrutierung sogenannter vorläufiger Dorfschützer bereits im Mai 2000 eingestellt worden ist.
Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24. November 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen und Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 30; Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Das in den Vordergrund gerückte Bemühen der Sicherheitskräfte, jegliche Versuche, der kurdischen Sprache und Kultur sowie einem wie auch immer gearteten kurdischen Selbstverständnis Ausdruck zu verleihen, schon weit im Vorfeld derartiger Bemühungen und so effektiv wie möglich zu unterbinden, vgl. hierzu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, hat aufgrund der Reformen, die den Gebrauch der kurdischen Sprache betreffen, nur scheinbar an Bedeutung verloren. Funktionäre, aktive Mitglieder und Sympathisanten kurdisch orientierter Parteien und Organisationen sowie alle im Bereich der Medien Tätigen und nicht zuletzt Menschenrechtsaktivisten sind weiterhin in besonderer Weise gefährdet, in das Blickfeld der Sicherheitskräfte zu geraten und in deren Gewahrsam misshandelt und gefoltert zu werden, wenn sie sich für die Belange der kurdischen Bevölkerung einsetzen.
Vgl. Graf (Schweizerische Flüchtlingshilfe), Türkei - Zur aktuellen Situation - Juni 2003, S. 25 ff.; Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; FR vom 26. und 28. Januar, 2. und 25. Februar 2002; SZ vom 30. Januar und 1. Februar 2002; NZZ vom 13. März 2002; Komitee zum Schutz von Journalisten, Bericht vom 1. April 2002; IMK-Wocheninformationsdienste vom 4. März und 13. Mai 2002.
Die türkischen Sicherheitskräfte gehen in Ostanatolien nach wie vor in asylerheblicher Weise gegen Bestrebungen vor, die von ihnen als Versuch verstanden werden, einen kurdischen Staat oder auch nur Ansätze einer kurdischen Autonomie zu etablieren. Das Ziel dieses Vorgehens ist es indes nicht, die Kurden als Volk zu treffen, sondern das in der türkischen Verfassung (Art. 3 Abs. 1) verankerte kemalistische Konzept der Staatsnation als unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk durchzusetzen. Dementsprechend unterscheiden die Sicherheitskräfte, wenn auch nach einem sehr groben Muster, bei ihrem Vorgehen zwischen verdächtigen und unverdächtigen Personen; sie zielen mit ihren Maßnahmen einerseits nicht auf alle, sondern nur auf im weitesten Sinne verdächtige Kurden, andererseits aber auch auf Verdächtige, die nicht Kurden sind. Anlass für konkrete Aktionen der Sicherheitskräfte bietet jedes Ereignis, das einen Verdacht strafbarer separatistischer Bestrebungen zu wecken geeignet ist. Nicht jeder Kurde, sondern nur wer - unabhängig von seiner ethnischen Zugehörigkeit - in einen derartigen Verdacht gerät, muss damit rechnen, zum Objekt der Ermittlungstätigkeit oder Opfer asylerheblichen Vorgehens der Sicherheitskräfte zu werden.
Zum kemalistischen Staatsverständnis: Sen/Akkaya/Özbek, Länderbericht Türkei, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 9 ff., 185 f.; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 24. Juli 2001, S. 10 f. und vom 20. März 2002, S. 15 f.
bb. Dorfrazzien und Zwangsevakuierungen
Wie auch schon in der Vergangenheit finden - seit dem Sommer 2004 wieder verstärkt - zum Teil groß angelegte Durchsuchungsaktionen ("Razzien") in den Dörfern statt. Diese von Misshandlungen begleiteten Maßnahmen sind asylerheblich, doch sind sie kein Indiz für das Vorliegen einer regionalen Gruppenverfolgung. Denn sie knüpfen nicht an die Volkszugehörigkeit der Betroffenen an.
Durchsuchungsaktionen liefen bislang stets nach folgendem Muster ab: Zunächst wurde das Dorf umstellt, so dass es nicht mehr ohne weiteres verlassen oder betreten werden konnte. Sodann drangen die Sicherheitskräfte in Gruppen in die einzelnen Häuser ein und holten die Bewohner heraus. Diese wurden zumeist auf dem Dorfplatz, manchmal auch in der Dorfschule oder in der Moschee, zusammengetrieben. Dort mussten sie stehend oder mit dem Gesicht nach unten oder auf dem Rücken liegend warten. Währenddessen wurden ihre Häuser nach Angehörigen der PKK-Guerilla und anderen Verdächtigen durchsucht, oft auch beschädigt. Der Hausrat, Vorräte und Empfangseinrichtungen für kurdischsprachige Sender wurden zerstört. Dasselbe geschah mit Traktoren, Vieh und anderen Transportmitteln, die der Beförderung von Unterstützungsgütern für die Guerilla dienen können.
Im Zuge einer derartigen Razzia wurden häufig nicht nur einzelne Personen gezielt auf Grund eines konkreten Unterstützungsverdachts festgenommen, sondern es genügte oftmals die zufällige Nähe eines Dorfes beispielsweise zu einer bewaffneten Auseinandersetzung der Guerilla mit den Sicherheitskräften, um letztere zur Festnahme auch größerer Personengruppen eines Dorfes, vorzugsweise der jungen Männer im wehrfähigen Alter, zu veranlassen. Bis zu 50 Personen waren manchmal von derartigen Festnahmeaktionen betroffen. Mitunter wurden auch Kinder verdächtigt, der Guerilla Nahrungsmittel bringen zu wollen oder für diese Kurierdienste zu leisten, wenn sie in Gebieten, in denen die Guerilla operierte, außerhalb des Dorfes mit einem Proviantpaket angetroffen wurden oder wenn sie allein unterwegs waren oder an der Straße auf ein Fahrzeug warteten.
In vielen Fällen wurden Dörfer, deren Bewohner sich in den Augen der Sicherheitskräfte verdächtig gemacht hatten und diesen Verdacht nicht ausräumen konnten, nicht nur durchsucht, sondern mit Gewalt vollständig geräumt. Hiervon waren in den 80er und 90er Jahren ca. 3.000 Dörfer und Weiler betroffen. Dabei wurden häufig die Häuser der Bewohner in Brand gesetzt oder durch Artilleriebeschuss zerstört. Den Räumungen ging gelegentlich eine Belagerung der betroffenen Ortschaft, verbunden mit einem Lebensmittelembargo, voraus. Ziel dieser Zwangsräumungen war es, der PKK die Operations- und Versorgungsstützpunkte in der Region zu entziehen bzw. Schwerpunkte separatistischer Bestrebungen zu zerschlagen. Die Zwangsevakuierungen betrafen entsprechend dieser Zielsetzung im Regelfall Dörfer, die von der PKK als Operations- oder Versorgungsbasen genutzt wurden, meist am Rande der Rückzugsgebiete der Guerilla, namentlich am Fuße hoher Berge oder im Grenzgebiet zum Irak.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24. Juli 2001, S. 14; Lagebericht vom 20. März 2002, S. 17; Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 22; zu Razzien und Evakuierungen noch IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 238-239 vom 23. Dezember 2004 bis 23. Januar 2005; Aydin, Gutachten vom 7. Mai 1998 an VG Hamburg; Kaya, Gutachten vom 29. August 1996 an VG Stuttgart, S. 3 ff.; Gutachten vom 30. April 1997 an VG Berlin, S. 21 f., 27; Gutachten vom 11. Juli 1997 an VG Hamburg; Gutachten vom 13. September 1999 an VG Darmstadt; Gutachten vom 13. Oktober 1999 an VG Gelsenkirchen; Dinc, Gutachten vom 11. Februar 1998 an VG Berlin, S. 2; Gesellschaft für bedrohte Völker, Auskunft vom 14. März 1997 an VG Hamburg; Rumpf, Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 75.; Taylan, Gutachten vom 1. Februar 1997 an OVG Schleswig-Holstein, S. 4 f.; Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997 an OVG Mecklenburg-Vorpommern, S. 1.
Nach dem Teilrückzug der PKK nahm die Häufigkeit derartiger Vorfälle deutlich ab, doch wurden Razzien auch während der Dauer der Waffenruhe zur Einschüchterung der Bevölkerung und zur Aufrechterhaltung der gegen separatistische Bestrebungen bestehenden Drohung mit staatlicher Gewalt eingesetzt; zur Räumung von Dörfern kam es aber kaum noch.
Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 31 f., m.w.N.
Seit dem Ende der Waffenruhe mehren sich wieder die Berichte über Razzien, Festnahmen, Blockaden von Lebensmittellieferungen, Belagerungen und sogar Räumungen von Dörfern. So wurden nach einer Presseerklärung des IHD Diyarbakir vom 14. August 2004 bereits im Juli 2004 die beiden Dörfer Asat und Ortakli im Kreis Beytüssebap, Provinz Sirnak, zwangsweise geräumt. Im August 2004 waren Bewohner des Dorfes Ilicak betroffen. Nach Angaben der Dorfbewohner gegenüber Vertretern des IHD Diyarbakir soll der dortige Gendarmeriekommandant sie Ende Juli 2004 aufgefordert haben, 30 bis 40 Häuser, die sich auf einer Seite des Flussbettes befinden, zu räumen. Sie seien dieser Aufforderung gefolgt. Da sie nicht über genug Zelte verfügten, lebten sie seither in Baracken und teilweise im Freien.
amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Ähnliche Aufforderungen, das Dorf innerhalb einer bestimmten Frist zu räumen, soll es auch in anderen Fällen gegeben haben. Im Zuge einer 13 Tage andauernden Operation der Sicherheitskräfte im September/Oktober 2004 sollen 10 Familien, die nach einer früheren Vertreibung in das Dorf Bercelan in der Provinz Hakkari zurückgekehrt waren, erneut vertrieben worden sein; das ganze Dorf sei umstellt und durchsucht, die Sommerweiden seien geräumt worden. Ferner finden sich Berichte über eine Operation, an der im September 2004 etwa 500 Soldaten und Dorfschützer beteiligt gewesen sein sollen; den Berichten zufolge haben die Sicherheitskräfte im Dorf Yarbasi im Landkreis Idil, Provinz Sirnak, alle Familien aus ihren Häusern geholt, die Häuser einzeln durchsucht und die Ausweise der Bewohner kontrolliert.
Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Die Berichte über erneute Dorfräumungen werden auch von der Menschenrechtsorganisation Mazlum Der bestätigt, die die Anzahl der im Jahr 2004 registrierten Dorfräumungen auf 11 beziffert.
Vgl. IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 240 - 241, 24. Januar bis 22. Februar 2005.
Vor diesem Hintergrund sieht der Senat keinen Anlass, an der Richtigkeit der Berichte über Dorfräumungen zu zweifeln. Soweit das Auswärtige Amt in seiner Auskunft an den Senat vom 24. November 2004 geäußert hat, die Gründe, weshalb 350 Bewohner des Dorfes Ilicak ihre Häuser verlassen hätten, seien nicht "verifizierbar", werden die substantiierten Angaben der Dorfbewohner, die die mit den örtlichen Verhältnissen vertrauten Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisationen offenbar als glaubhaft angesehen haben, und die weiteren registrierten Dorfräumungen nicht in Frage gestellt.
Dabei sind die Maßnahmen nicht allein auf den ländlichen Raum nahe der irakischen Grenze und damit die Rückzugsgebiete der Guerilla beschränkt. Anfang August 2004 etwa wurde nach einem Gefecht ein Stadtteil von Diyarbakir, Mardinkapi, während eines Zeitraumes von 10 Tagen belagert; der Stadtteil durfte weder verlassen noch betreten werden. Aus einigen Orten in der Provinz Van wurde berichtet, dass diese nur in der Zeit zwischen 7 und 15 Uhr betreten bzw. verlassen werden durften.
Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Nächtliche Reisen zwischen den Provinzhauptstädten und den Kreisstädten wurden in etlichen Provinzen wieder eingeschränkt, beispielsweise in Van, Hakkari, Tunceli, Siirt, Sirnak und Bitlis. Kontrollen an Landstraßen, die in den Jahren zuvor, auch schon vor der Beendigung des Notstands, eingestellt oder zumindest stark reduziert worden waren, finden seit Sommer 2004 wieder in großem Umfang statt. In den Provinzen Agri, Igdir, Kars, Sirnak und Hakkari wurde das Betreten der Sommerweiden verboten oder zumindest nur nach Einholung einer behördlichen Berechtigungskarte erlaubt.
Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Durch die vorstehend beschriebenen Ereignisse sieht sich der Senat in seiner Einschätzung, vgl. schon Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 31, bestätigt, dass die zahlenmäßige Abnahme der Fälle von Razzien und Dorfevakuierungen während der Dauer der Waffenruhe nicht die Annahme rechtfertigt, dass die türkischen Sicherheitskräfte aus grundsätzlichen Erwägungen von diesen Mitteln der Bekämpfung vermeintlich oder tatsächlich separatistischer Bestrebungen Abstand genommen hätten. Diese Einschätzung wird auch durch Rückkehrerprogramme der türkischen Regierung für die von den Dorfräumungen betroffenen Personen nicht in Frage gestellt.
Ohnehin zielt eines der beiden Rückkehrerprogramme nicht einmal darauf, die von Evakuierungen Betroffenen in ihre Heimatdörfer zurückzuführen, sondern soll sie in neu errichteten "Zentraldörfern" oder "Dorfstädten" ("merkez köy") unter der engen Aufsicht der Sicherheitskräfte ansiedeln. Die ersten der im Zuge dieses Programms errichteten Zentraldörfer, die im Übrigen so angelegt sind, dass sie leicht vom Militär kontrolliert werden können, wurden ausdrücklich an Dorfschützer und ihre Familien übergeben. Aufgrund des seit November 1994 laufenden Programms konnten bis Ende 2000 lediglich 4.000 Personen umgesiedelt werden. Das im Jahr 1997 gestartete Programm "Rückkehr in die Dörfer" hat zwar - gemessen an der Zahl der Rückkehrer - erheblich größeren Erfolg, auch wenn der Anstieg der Rückkehrbereitschaft im Jahr 2003 eher auf der Aufhebung des Notstandsrechts und der erheblichen Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage beruhen dürfte. Die Berichte über die praktische Anwendung des Rückkehrprogramms lassen aber darauf schließen, dass die staatlichen Stellen - den Zwecken der früheren Dorfräumungen vergleichbar - alles daran setzen, nur solchen Bürgern die Rückkehr in ihre Heimatdörfer zu erlauben, an deren Loyalität kein Zweifel besteht. Nach übereinstimmenden Berichten verschiedener Auskunftsquellen ist es gängige Praxis, den Rückkehrwilligen eine schriftliche Erklärung abzuverlangen, wonach ihre Häuser von der Guerilla, nicht von türkischen Einheiten zerstört worden seien und sie keine Ersatzforderungen gegen den Staat erheben werden. Darüber hinaus werden die Wiederansiedlung und die Gewährung der staatlichen finanziellen Hilfen für die Rückkehrer von deren Bereitschaft abhängig gemacht, "freiwillige" Dorfschützer zu stellen.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 52; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 22 f.; amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen und vom 18. Juli 2003 an VG Frankfurt/Main; Kaya, Gutachten vom 21. Juni 2003 an VG Stuttgart; Graf (Schweizerische Flüchtlingshilfe), Türkei - Zur aktuellen Situation -, Juni 2003, S. 20 ff.
Hinsichtlich des Umgangs mit den Ersatzforderungen von Dorfbewohnern, die in der Zeit des Notstands (9. Juli 1987 bis 30. November 2002) vertrieben wurden und die nur noch bis zum 27. Juli 2005 einen Antrag stellen können, bahnt sich allerdings allmählich eine gewisse Besserung an. Nach einem Bericht in der Zeitung Özgür Politika vom 17. Januar 2005 wurden Anfang dieses Jahres, wenn auch nach jahrelangem Rechtsstreit über die Höhe, erste Entschädigungsleistungen erbracht.
IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 240-241, 24. Januar bis 22. Februar 2005.
Dieses Umdenken dürfte nicht zuletzt durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte angestoßen worden sein, der in einem Fall, in welchem die Häuser der Beschwerdeführer durch türkische Sicherheitskräfte niedergebrannt worden waren, festgestellt hat, dass im Hinblick auf eine Wiedergutmachung die Anrufung türkischer Verwaltungs- oder Zivilgerichte nicht als wirksamer Rechtsschutz angesehen werden kann. Zugleich hat der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 25 § 1 EMRK festgestellt, weil die beschwerdeführenden Dorfbewohner von staatlicher Seite unter Druck gesetzt worden waren, ihre Beschwerde zurückzuziehen.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 16. September 1996 (99/1995/605/693), insbesondere Abschnitte 81, 88, 96, 105; vgl. dazu Oberdiek, Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 57 ff.; Norwegischer Flüchtlingsrat, Länderbericht vom 18. März 2002; Human Rights Watch, Human Rights Developments (Jahresbericht Türkei für 2001), S. 4.
Als bedeutendes Hindernis für eine Rückkehr in die geräumten Dörfer stellt sich vielerorts das Verhalten der Dorfschützer dar, die sich gegen den politischen Wandel in der Türkei und die damit verbundene Rückkehr der ehemaligen Bewohner sträuben, weil sie sich deren Land und sonstiges zurückgelassenes Vermögen angeeignet haben. Die hieraus resultierenden Konflikte werden - wie sogar der Gouverneur der ehemaligen Notstandsprovinzen, Gökhan Aydiner, in einer Pressekonferenz am 29. Oktober 2002 einräumte - oftmals mit Waffengewalt gelöst.
amnesty international, Gutachten vom 18. Juli 2003 an VG Frankfurt/Main.
Die von Misshandlungen und Folter begleiteten Dorfrazzien und die Zwangsräumungen knüpfen nicht an die Volkszugehörigkeit der Betroffenen an. Sie werden vielmehr jeweils durch konkrete, auf das einzelne Dorf bezogene Ereignisse ausgelöst, etwa durch Auseinandersetzungen der Guerilla mit den Dorfschützern, Überfälle der Guerilla auf Militärstationen, Verfolgung flüchtiger Personen oder sonstiger Vorfälle, die darauf schließen lassen, dass das betroffene Dorf den Kämpfern der PKK/KONGRA-GEL als Operations- oder Versorgungsbasis dient. Derartige Ereignisse begründen bei den Sicherheitskräften in aller Regel den Verdacht, die Dorfbevölkerung sympathisiere mit den Zielen der PKK oder sei in anderer Weise separatistisch gesinnt.
Das gilt in gleicher Weise auch für die Razzien und Dorfräumungen, die sich seit Beendigung der Waffenruhe ereignet haben. Betroffen waren vor allem Dörfer, in deren Umgebung es zuvor zu Kampfhandlungen gekommen war. Die türkischen Sicherheitskräfte gehen jeweils einem - wodurch auch immer geweckten - Verdacht nach, dass die Dorfbevölkerung die Kämpfer sowie deren separatistische Bestrebungen unterstützt.
amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 22.
Das Verhalten der Behörden gegenüber rückkehrwilligen Binnenvertriebenen, denen ein Loyalitätstest durch Stellung freiwilliger Dorfschützer abverlangt wird, ist nicht nur mit einem allgemeinen Sicherheitsbedürfnis und fortwährender Angst vor jeglicher Art von Separatismus zu erklären, sondern lässt darüber hinaus auch den Schluss zu, dass der Verdacht, die Dorfbevölkerung sympathisiere mit den bewaffneten Kämpfern, auch nach Räumung des Ortes noch gegen die aus der betreffenden Ortschaft stammende Bevölkerung über Jahre hinweg aufrecht erhalten wird.
amnesty international, Gutachten vom 18. Juli 2003 an VG Frankfurt/Main; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24. Juli 2001, S. 14; Kaya, Gutachten vom 10. März 2001 an VG Sigmaringen; kritisch dazu: Auswärtiges Amt, Auskunft vom 1. März 2001 an VG Sigmaringen.
Daneben ist das Vorgehen der Sicherheitskräfte in den Dörfern oftmals auch darauf gerichtet, die Bevölkerung zu demütigen und einzuschüchtern, damit sich diese künftig einer Unterstützung der Guerilla enthält, oder Rache an ihr zu üben für Angriffe der PKK/KONGRA-GEL auf staatliche Einrichtungen. Auch diese Zielrichtung wird unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit der Betroffenen verfolgt; Anlass für das Tätigwerden der Sicherheitskräfte ist auch hier die den Betroffenen unterstellte Sympathie mit der militanten kurdischen Bewegung. Es ist nicht das Kurdentum der Bewohner, sondern ihre aus der Sicht des Staates vorwerfbare politische Überzeugung, welche für die Entscheidung der Sicherheitskräfte, das jeweilige Dorf zu räumen, bestimmend ist. Diese Einschätzung des Senats wird auch durch den Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission zur Erforschung der früheren Dorfräumungen in Ost- und Südostanatolien vom 14. Januar 1998 bestätigt. Als Grund für die Dorfevakuierungen durch Sicherheitskräfte wird darin nicht etwa die kurdische Volkszugehörigkeit ihrer Bewohner, sondern vielmehr der aus der Ablehnung des Dorfschützeramtes abgeleitete Verdacht der PKK-Unterstützung angegeben.
Parlamentarische Untersuchungskommission zur Erforschung der Dorfräumungen in Ost- und Südostanatolien vom 14. Januar 1998, Kommissionsbericht, Abschnitt 4.1.b. (S. 43 f.).
cc. Dorfschützer
Auch die Maßnahmen im Zusammenhang mit dem 1924 in der Türkei eingeführten und seit 1985 als Maßnahme gegen den bewaffneten Kampf der PKK eingesetzten Dorfschützersystem knüpfen nicht an die Volkszugehörigkeit der Betroffenen an und stützen deshalb nicht die Annahme einer gegen die Kurden gerichteten regionalen Gruppenverfolgung.
Allerdings diente in der Vergangenheit die Aufforderung, das Dorfschützeramt zu übernehmen, häufig als Loyalitätstest. Wenn ein irgendwie unter Separatismusverdacht geratener Kurde sich weigerte, Dorfschützer zu werden, sahen die Sicherheitskräfte hierdurch ihren Verdacht bestätigt; auch wenn die Ablehnung dieses Amtes keinen Straftatbestand darstellt, waren in zahlreichen Fällen asylerhebliche Maßnahmen die Folge.
Vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 34 ff.
Hintergrund dieses Vorgehens war Folgendes: Nach dem zu Grunde liegenden Gesetz Nr. 442 vom 18. März 1924 (DorfG) werden durch den Ältestenrat mit Zustimmung des Landrats Dorfschützer eingestellt, die "die Ehre, das Leben und Hab und Gut aller Dorfbewohner schützen" sollen (Art. 68 DorfG). Zudem können "freiwillige Dorfschützer" mit Zustimmung des Landrats ausgewählt werden, um das Dorf in der Erntezeit vor Plünderungen und Banden zu schützen (Art. 74 Abs. 1 DorfG). Seit 1985 besteht zusätzlich die Möglichkeit, in durch den Ministerrat bestimmten Provinzen - es handelt sich um die (ehemaligen) Notstandsprovinzen - auf Vorschlag des Gouverneurs und mit Genehmigung des Innenministeriums "vorübergehende Dorfschützer" einzustellen, wenn im Dorf oder seiner Umgebung die Voraussetzungen für die Verhängung des Notstandes gegeben sind (Art. 74 Abs. 2 DorfG). Die Einzelheiten der Rekrutierung und Ausbildung der Dorfschützer werden durch die Dorfschützerverordnung vom 1. Juli 2000 geregelt.
Vgl. hierzu amnesty international, Gutachten vom 18. Juli 2003 an VG Frankfurt/Main.
Wie die regulären Dorfschützer werden auch die "vorübergehenden Dorfschützer" vom Staat bewaffnet und von den Sicherheitskräften im Gebrauch der Waffen unterwiesen.
Vorübergehende Dorfschützer sind in Ostanatolien in großem Umfang bestellt worden, und zwar nicht nur in den dörflichen Regionen, sondern auch in größeren Städten. Vor allem im Rahmen von Razzien richteten die Sicherheitskräfte an die Bevölkerung des betroffenen Dorfes oder an einzelne separatismusverdächtige Personen oder Familien die Aufforderung, eine ausreichende Anzahl von vorübergehenden Dorfschützern zu stellen, um aus der Reaktion auf diese Aufforderung Erkenntnisse darüber abzuleiten, ob die Adressaten loyale Staatsbürger sind oder nicht. Wer diesen Loyalitätstest nicht bestand, musste damit rechnen, Opfer asylerheblicher Übergriffe zu werden. Obwohl nach türkischem Recht niemand verpflichtet ist, den Posten des Dorfschützers zu übernehmen, wurde häufig die gesamte männliche Bevölkerung eines Dorfes zusammengetrieben oder festgenommen, um diese zur Übernahme des Dorfschützeramtes zu zwingen. Die Männer wurden vor die Wahl gestellt, entweder das Amt anzunehmen oder aber das Dorf zu räumen und die Gegend zu verlassen. Um der Forderung Nachdruck zu verleihen, wurden die Wohnungen der Betroffenen durchsucht, sie selbst wurden verprügelt. Auch bestand die Gefahr, dass sie auf die Polizeiwache verbracht und dort misshandelt wurden. Es kam vor, dass ihre Häuser mit der Begründung, sie würden der Guerilla Unterschlupf und Lebensmittel gewähren, zerstört wurden. Ein weiteres Druckmittel zur Übernahme des Dorfschützeramtes war die Verhängung eines Lebensmittelembargos, das zugleich den Zweck verfolgte, die Weitergabe von Nahrung an die Guerilla zu verhindern. Eine bei den staatlichen Sicherheitskräften als Druckmittel weit verbreitete Praxis war es, jenen Personen, denen die Übernahme des vorläufigen oder freiwilligen Dorfschützeramtes oder die Zusammenarbeit mit den staatlichen Sicherheitskräften angeboten wurde, ihre Personalausweise fortzunehmen.
Vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 34 ff., m.w.N.
Die vorstehend beschriebene Praxis findet indessen seit einiger Zeit in der Türkei so nicht mehr statt. Nach Angaben türkischer Behörden werden schon seit dem Jahr 2000 keine Dorfschützer mehr ernannt. Ausnahmen hiervon sind nur auf Anweisung und mit Zustimmung des türkischen Innenministeriums möglich. Da selbst frei werdende Stellen nicht wieder besetzt werden, kommt es nicht mehr vor, dass staatliche Sicherheitskräfte die Bewohner von Dörfern und Kleinstädten unter Druck setzen, um sie zur Übernahme des vorläufigen Dorfschützeramtes zu bewegen.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 52; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 12. August 2003, S. 35, und vom 19. Mai 2004, S. 30; Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen und vom 21. Juni 2003 an VG Stuttgart unter Bezugnahme auf Presseberichte und die Menschenrechtsorganisation TIHV.
Anhaltspunkte dafür, dass die frühere Praxis der Dorfschützerrekrutierung - etwa im Zusammenhang mit der Beendigung der Waffenruhe - fortgeführt worden wäre, sind nicht ersichtlich. Allerdings wird in jüngerer Zeit darüber berichtet, dass auf bestimmte Personen Druck ausgeübt wird, das Amt eines freiwilligen - zwar staatlicherseits mit Waffen ausgerüsteten, aber nicht alimentierten - Dorfschützers zu übernehmen. Insoweit handelt es sich stets um Fälle von rückkehrwilligen, ehemals vertriebenen Bewohnern zwangsgeräumter Dörfer, deren Wiederansiedlung - wie oben ausgeführt - häufig davon abhängig gemacht wird, dass sie Dorfschützer stellen. Den diesbezüglichen Berichten sind jedoch keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass die Weigerung, Dorfschützer zu werden, andere Sanktionen nach sich zieht als die bloße Verhinderung der Rückkehr in die Dörfer. Das spricht dafür, dass es den Dorfschützern und der Jandarma, von denen diese Drangsalierungen ausgehen, lediglich darum geht, die Rückkehr abzuwehren.
So wohl amnesty international, Gutachten vom 18. Juli 2003 an VG Frankfurt/Main.
Ungeachtet dessen rechtfertigt auch das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Personen, die sich weigern, Dorfschützer zu werden, nicht die Annahme einer regionalen Gruppenverfolgung der Kurden in Ostanatolien. Maßstab für das Verhalten der türkischen Sicherheitskräfte gegenüber den Kurden ist auch in diesem Zusammenhang nicht ihre Volkszugehörigkeit, sondern ihre politische Überzeugung; ein wichtiges Indiz hierfür ist der Umstand, dass zahlreiche Kurden freiwillig als bewaffnete Dorfschützer tätig geworden sind. Die Bereitschaft oder Weigerung, das Dorfschützeramt zu übernehmen, war und ist aus der Perspektive der Sicherheitskräfte lediglich ein entscheidendes Indiz dafür, ob der Betreffende dem türkischen Staat loyal oder in Opposition gegenübersteht. Es gilt das Motto: "Wer nicht für mich ist, ist gegen mich". Das zeigt sich auch an der Behandlung derjenigen Dorfschützer, die ihre Waffe(n) anlässlich von Überfällen der Guerilla auf das Dorf und dabei gegen die eigene Person und gegen die Familie gerichteten Morddrohungen an die PKK übergeben haben. Ihnen wird durchweg eine Unterstützung der Guerilla aus eigenem Entschluss unterstellt, die eine Festnahme, Folter und vielfach auch eine Verurteilung nach sich zieht. Dasselbe gilt für Dorfschützer, die ihr Amt niederlegen, ohne den Behörden die vollständige Ausrüstung unter Angabe eines von diesen akzeptierten Grundes für den Rücktritt zurückzugeben.
Kaya, Gutachten vom 2. Mai 2001 an VG Bremen, S. 4 und vom 21. Juni 2003 an VG Stuttgart; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 12. Juli 1995 an VG Regensburg; Oberdiek, Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 76 ff., 89 f.; vgl. auch den Bericht in: Strohmeier/Yalcin, Die Kurden, 2000, S. 221 ff.
Auch die Ausstattung der kurdischen Dorfschützer in Ostanatolien mit Waffen ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass der türkische Staat die dort siedelnden Kurden nicht pauschal verdächtigt, mit der PKK-Guerilla zu sympathisieren. Die Sicherheitslage wird allerdings auch aus der Sicht des türkischen Staates durch die Bestellung von Dorfschützern nicht nur verbessert, sondern in vielen Fällen sogar verschärft, weil die vom Staat bezahlten und bewaffneten Dorfschützer schwer zu kontrollieren sind und offenbar immer wieder ihre persönlichen Interessen und die ihrer jeweiligen Großfamilie oder ihres Clans mit Gewalt durchzusetzen versuchen.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 30; Lagebericht vom 20. März 2002, S. 31; Auskunft vom 10. Januar 1997 an VG Würzburg; amnesty international, Gutachten vom 18. Juli 2003 an VG Frankfurt/Main; Taylan, Gutachten vom 1. Februar 1997 an OVG Schleswig-Holstein; Oberdiek, Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 71 und passim; Aydin, Gutachten vom 13. April 1999 an VG Berlin.
Dass die zukünftige Verwendung der zurzeit noch über 58.000 Dorfschützer dringend geklärt werden muss, um die Sicherheitslage in Ostanatolien dauerhaft zu verbessern und insbesondere die Rückkehr der Binnenvertriebenen zu gewährleisten, ist der türkischen Regierung bewusst. Sie hat deshalb auch zu dieser Problematik ein Reformgesetz angekündigt; eine Lösung ist aber bislang noch nicht in Sicht.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 52; Kaya, Gutachten vom 21. Juni 2003 an VG Stuttgart und vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Indes würde selbst eine erfolgreich durchgeführte Reform des Dorfschützersystems nichts daran ändern, dass diejenigen, die den Loyalitätstest einer Aufforderung, das Dorfschützeramt zu übernehmen, nicht bestanden haben, bei den Behörden als separatismusverdächtig angesehen werden. Dass ein solcher Verdacht unter Umständen auch über Jahre hinweg fortbestehen kann, belegt das abwehrende Verhalten gegenüber rückkehrbereiten Binnenvertriebenen, die ihre Loyalität nicht durch Verzicht auf Schadensersatzansprüche und die Bereitschaft, Dorfschützer zu werden, unter Beweis stellen.
dd. Polizeigewahrsam, Menschenrechtspraxis
Die Annahme einer Gruppenverfolgung der kurdischen Volkszugehörigen in der Türkei ist auch nicht deswegen gerechtfertigt, weil es nach wie vor häufig zu Misshandlungen und Folter durch die Sicherheitskräfte, vor allem durch die Polizei kommt. Derartige polizeiliche Maßnahmen sind zwar auch nach Inkrafttreten der gesetzlichen Reformen weit verbreitet; sie knüpfen indes nicht allein an die Volkszugehörigkeit der Betroffenen an.
Die Gefahr asylerheblicher Misshandlung durch die Polizei, aber auch durch Angehörige der Jandarma und Dorfschützer besteht trotz erheblicher Verbesserungen der Rechtslage im Zuge der Politik der "Null-Toleranz" gegen Folter fort. Nach Einschätzung aller Beobachter bedarf es weiterer Anstrengungen, um die Politik der "Null-Toleranz" gegen Folter tatsächlich umzusetzen und die Anwendungspraxis der Sicherheitskräfte mit den menschenrechtlichen Anforderungen in Übereinstimmung zu bringen. Ein hohes Risiko, Opfer asylerheblicher Maßnahmen zu werden, besteht für eine Person, die ins Blickfeld der Sicherheitskräfte gerät, vor allem im Vorfeld eines etwaigen Strafverfahrens. Die weitaus meisten der dokumentierten Fälle von Folter betreffen den Polizeigewahrsam vor Einleitung eines Strafverfahrens; zunehmend wird darüber hinaus über Misshandlungen außerhalb einer förmlichen Festnahme berichtet, etwa bei Hausdurchsuchungen, Transporten in Fahrzeugen und auch Verschleppungen außerhalb der Ortschaften. Dies gilt sowohl für die ländlichen Gebiete Ostanatoliens als auch für die Städte im Osten und Westen der Türkei, und zwar unabhängig davon, aus welchem Anlass die Festnahme erfolgt (Razzia, Verteilung kurdischer Publikationen, Unterstützung verdächtiger Parteien und Organisationen). Dieses Risiko trifft auch Jugendliche und Kinder.
Allerdings ist nach der geltenden Rechtslage kaum noch Raum für eine sanktionslose Anwendung von Folter. Die Verfassungsreform von Mai 2004, durch die der Primat der internationalen und europäischen Menschenrechtsübereinkommen in der Verfassung verankert worden ist, hat klargestellt, dass diese bei der Anwendung und Auslegung des innerstaatlichen türkischen Rechts zu beachten sind.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 17, 25.
Zu den Übereinkommen, denen die Türkei beigetreten ist, zählen beispielsweise die Internationalen Pakte über bürgerliche und politische sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die die Türkei im Jahr 2000 gezeichnet hat. Sie ist ferner Mitglied des UN-Übereinkommens gegen Folter, des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe - die Protokolle Nr. 1 und 2 zu diesem Übereinkommen sind in der Türkei am 1. März 2002 in Kraft getreten (Bek. vom 22. März 2002, BGBl. 2002 Teil II, 1019) - sowie des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau. Am 18. April 2001 hat sie das Protokoll Nr. 12 zur Europäischen Menschenrechtskonvention unterzeichnet, das in allgemeiner Form bei der Ausübung von Rechten jede Diskriminierung u.a. wegen der Sprache, Religion, Herkunft oder der Zugehörigkeit zu einer Minderheit untersagt.
Im Hinblick auf einen Beitritt zur Europäischen Union hat schon die Regierung Ecevit im Jahr 2002 umfangreiche Reformen auch im Bereich der Menschenrechtspolitik eingeleitet, die die derzeitige AKP-Regierung unter Ministerpräsident Erdogan im Zuge ihrer Reformpakete fortgeführt hat. Durch ein Gesetz vom April 2001 ist die Ausbildung der Polizisten verlängert und um einen zweijährigen Unterricht über Menschenrechtsfragen ergänzt worden. Die höchstzulässige Dauer des Polizeigewahrsams ist verkürzt worden, und durch Rundschreiben vom 27. Dezember 2001 wird auf die Bedeutung der Einhaltung dieser Fristen hingewiesen. Mit der am 3. Januar 2004 in Kraft getretenen Änderung der Verordnung bezüglich Festnahme, Polizeigewahrsam und Verhör ist der Umgang mit festgenommenen Personen grundlegend reformiert worden. Die sog. Incommunicado-Haft, d. h. der mehrtägige Zeitraum, in dem es einem Inhaftierten verwehrt war, Kontakt mit Familienangehörigen, Rechtsanwälten oder Vertretern von Menschenrechtsorganisationen aufzunehmen, ist entfallen; sie galt bislang als wichtigste strukturelle Voraussetzung für die Anwendung von Folter.
Vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 38 ff.
Die Polizei darf einen Festgenommenen nur für die Dauer von 24 Stunden - bei Zuständigkeit der regionalen Gerichte für schwere Straftaten 48 Stunden - festhalten; danach bedarf es eines richterlichen Haftbefehls. Bereits während dieser Zeit hat der Betroffene einen Anspruch auf sofortige Kontaktaufnahme mit einem Rechtsanwalt, worüber er von den Vernehmungsbeamten zu belehren ist. Darüber hinaus ist zwingend vorgeschrieben, dass der Festgenommene unmittelbar nach der Festnahme und nochmals unmittelbar nach der Entlassung aus dem Polizeigewahrsam ärztlich auf etwaige Folterspuren zu untersuchen ist. Polizisten dürfen dabei nur auf ausdrücklichen, schriftlichen Wunsch des untersuchenden Arztes anwesend sein.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28. Mai 2004 an VG Freiburg; Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 25 f., 35.
Der Beseitigung der Defizite im Bereich der Strafverfolgung von Folterern, die bislang - so der Menschenrechtsreport der US-Regierung aus dem Jahr 2004 - ein "Klima der Straflosigkeit" geschaffen haben, dienen weitere wichtige Rechtsänderungen. Das neue Strafgesetzbuch, dessen Inkrafttreten für den 1. April 2005 vorgesehen war, aber am 31. März 2005 wegen angeblicher Gesetzeslücken für zwei Monate ausgesetzt wurde, vgl. Frankfurter Rundschau vom 1. April 2005, sieht höhere Strafen für folternde Beamte vor; anders als früher können die Strafen auch nicht mehr ausgesetzt oder in Geldbußen umgewandelt werden. Das Erfordernis einer Zustimmung des Vorgesetzten zur Eröffnung von Ermittlungen gegen Staatsbeamte ist entfallen; für Ermittlungen gegen Angehörige der Streitkräfte gilt es allerdings weiterhin. Ersichtlich als Reaktion darauf, dass den Staatsanwaltschaften oftmals vorgeworfen wurde, Foltervorwürfen nicht mit der gebotenen Ernsthaftigkeit nachzugehen, wies der Justizminister sie im Oktober 2003 an, Ermittlungen persönlich und mit Vorrang zu führen, wenn Folter- oder Misshandlungsvorwürfe erhoben werden. Einer weiteren Sensibilisierung der Justiz für Menschenrechtsfragen dient auch die Einrichtung einer Justizakademie, an der Richter und Staatsanwälte in Bezug auf die Anwendung der Gesetzesreformen und der EMRK aus- und fortgebildet werden.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 18, 34 ff.
Das Bemühen des türkischen Staates, dem Folterverbot zur Durchsetzung zu verhelfen, hat auch durch die Errichtung verschiedener staatlicher Stellen Ausdruck gefunden, deren Aufgabe die Entgegennahme und Überprüfung von Beschwerden wegen Menschenrechtsverletzungen ist. Schon seit 1998 besteht der Hohe Rat für Menschenrechte, der dem stellvertretenden Ministerpräsidenten, Außenminister Gül, unterstellt ist. Als eigenständige Behörde mit 20 Mitarbeitern ist das von einem Rechtsprofessor geleitete Präsidium für Menschenrechte ausgestaltet, auf dessen Betreiben im November 2003 örtliche Menschenrechtsräte entstanden sind, die dem Präsidium regelmäßig berichten. Insgesamt werden die Wirkungen der Arbeit dieser Gremien allerdings eher als gering beurteilt, wohl nicht zuletzt deshalb, weil die privaten Menschenrechtsorganisationen eine Zusammenarbeit mit den staatlichen Menschenrechtsausschüssen wegen Zweifeln an deren Unabhängigkeit verweigern. Der Parlamentsausschuss für Menschenrechte hat hingegen insbesondere durch unangekündigte Besuche in Polizeistationen und Gefängnissen Aufmerksamkeit und Respekt erlangt.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 33 f.; Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 18, 33.
Die Feststellung und Bewertung der derzeitigen Menschenrechtspraxis wird dadurch erschwert, dass die Türkei sich gegenwärtig in einer Umbruchphase befindet. Die Lage ist dadurch gekennzeichnet, dass die für die Gewährleistung der Menschenrechte relevanten Rechtsgrundlagen erheblich geändert worden sind und zudem die mit der Strafverfolgung befassten staatlichen Organe - Sicherheitskräfte, Staatsanwaltschaften und Gerichte - einen Mentalitätswechsel durchmachen, der noch keineswegs abgeschlossen ist. Die Anwendungspraxis befindet sich daher gleichsam im Fluss. Letztlich hängt die Wahrscheinlichkeit, ob ein in das Blickfeld der Sicherheitskräfte geratener Verdächtiger mit Folter und sonstigen Menschenrechtsverletzungen rechnen muss und in welcher Weise er gegebenenfalls misshandelt wird, davon ab, wie weit die Reformen vor Ort von den jeweils handelnden Amtswaltern schon umgesetzt werden. So wird etwa berichtet, dass gerade die bislang besonders gefürchtete Anti-Terror-Einheit in Istanbul - möglicherweise aufgrund eines höheren Ausbildungsstandes - Verhöre immer häufiger ohne Anwendung physischer Gewalt durchführt.
Oberdiek, Gutachten vom 6. Juni 2004 an VG Weimar.
Vor diesem Hintergrund erklären sich teilweise widersprüchliche Äußerungen der Auskunftsstellen, so etwa dazu, ob die Foltergefahr bei Personen, die einer politischen Straftat verdächtigt werden, größer ist als bei Personen, denen z.B. ein Drogendelikt vorgeworfen wird, einerseits: Kaya, Gutachten vom 30. Januar 2004 an VG Freiburg und vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen (Folter droht inbesondere Angehörigen gefährlicher Terrororganisationen bzw. der PKK); amnesty international, Gutachten vom 9. Februar 2004 an Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe (bei Personen, die der Mitgliedschaft in einer bewaffneten oppositionellen Organisation verdächtigt werden, ist die Foltergefahr extrem hoch); andererseits: Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28. Mai 2004 an VG Freiburg (Wahrscheinlichkeit von Übergriffen bei Straftaten mit politischem Hintergrund nicht höher als bei Straftaten mit kriminellem Hintergrund) und Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 36 (Folter und Misshandlung kommen bisweilen bei Drogendelikten eher vor als bei politischen Delikten); IMK- Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 228 - 229, 26. Juli bis 6. August 2004 (nach einem Bericht der Anwaltskammer Izmir betrafen 27 % der in der Zeit zwischen Januar 2002 und Dezember 2003 erfassten Folterfälle politische Delikte, 73 % gewöhnliche Kriminalität), sowie dazu, ob es erhebliche regionale Unterschiede hinsichtlich der Menschenrechtspraxis gibt, amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an VG Hamburg (in kurdischen Gebieten droht vor allem bei PKK-Verdacht noch häufig physische Folter); Taylan, Gutachten vom 26. Juni 2004 an VG Frankfurt/Oder (Gefahr von Folter auf Polizeistationen in Großstädten ist verschwindend gering; in östlichen, kurdischen Regionen kann eine gewisse Foltergefahr nicht ausgeschlossen werden); Rechtsanwältin Keskin, Zeugenaussage vor dem VG Gießen am 3. September 2004 (kaum regionale Unterschiede; Folter findet am meisten im Südosten statt, aber auch in Istanbul und Ankara), oder auch zu der Frage, ob die Folterpraxis noch als "systematisch" zu bezeichnen ist, bejahend: Oberdiek, Gutachten vom 6. Juni 2004 an VG Weimar; Kaya, Gutachten vom 30. Januar 2004 an VG Freiburg und vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; verneinend: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 35; Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 18; zum unterschiedlichen Verständnis des Begriffs der "systematischen Folter" vgl. Dietert-Scheuer, Eine kritische Lektüre des EU-Fortschrittsberichts zum Thema Folter, ai-Journal Dezember 2004/Januar 2005.
Demgegenüber ist die Auskunftslage in Bezug auf die grundlegenden Tendenzen eindeutig. Die für die Beachtung der Menschenrechte und des Folterverbots wichtigen gesetzlichen Neuregelungen, insbesondere die verkürzten Fristen für die Polizeihaft und die Pflicht zur ärztlichen Untersuchung festgenommener Personen, werden in der Regel beachtet. Das Recht auf anwaltlichen Beistand wird allerdings häufig dadurch beschränkt, dass dem Anwalt nur kurz Zugang zu seinem Mandanten gewährt wird, oder ganz unterlaufen, indem die Polizei den Festgenommenen nicht über seine Rechte aufklärt oder sogar dazu bringt, eine Verzichtserklärung zu unterschreiben. Der Ausschuss des Europarates für die Verhütung der Folter (CPT) führt die relativ geringe Zahl derjenigen Festgenommen, die von ihrem Recht auf Zugang zu einem Rechtsanwalt Gebrauch machen - im ersten Quartal des Jahres 2004 waren es beispielsweise nur 46 % der vor den Staatssicherheitsgerichten Angeklagten -, u.a. darauf zurück, dass diese fürchten, das Verlangen nach einem Rechtsanwalt könne als Schuldeingeständnis gewertet werden. Überdies ist nicht immer gewährleistet, dass der Anwalt an der Vernehmung teilnehmen kann.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 18; amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an VG Hamburg; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 36 und Auskunft vom 28. Mai 2004 an VG Freiburg; Oberdiek, Gutachten vom 25. April 2004 an VG Greifswald.
Folter ist weiterhin ein Bestandteil der Methodik türkischer Sicherheitskräfte und wird als Mittel zur Herbeiführung eines Geständnisses oder einer belastenden Aussage gegen Dritte eingesetzt. Zur Anwendung kommen nunmehr aber überwiegend Methoden, die möglichst nicht körperlich nachweisbar sind, wie etwa Schlafentzug, Hinderung am Toilettengang, Verweigerung von Essen und Trinken sowie Demütigungen bis hin zu Todesdrohungen und Scheinhinrichtungen. Dessen ist sich die türkische Regierung offenbar bewusst; im April 2004 appellierte sie an alle Rechtsvollzugsbeamten, Methoden zu vermeiden, die zu Vorwürfen wegen Misshandlung durch Schlafentzug, langes Stehen, Drohungen und Verbinden der Augen führen könnten.
Kaya, Gutachten vom 30. Januar 2004 an VG Freiburg und vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; Oberdiek, Gutachten vom 28. Juli 2003 an VG Frankfurt/Main; Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 35.
In Anbetracht der geänderten Folterpraxis kommt den mit der Durchführung der gesetzlich vorgeschriebenen ärztlichen Untersuchungen betrauten Ärzten eine große Verantwortung zu. Erschwert wird deren Arbeit Berichten zufolge dadurch, dass Vollzugsbeamte mitunter ohne Aufforderung des Arztes bei den Untersuchungen anwesend sind und auch Kopien der ärztlichen Berichte verlangen. Die Türkische Medizinische Vereinigung hat derartige Unregelmäßigkeiten im April 2004 zum Anlass für eine Leitlinie genommen, nach der Disziplinarstrafen gegen Ärzte verhängt werden können, die aufgrund von Geschlecht, Rasse, Nationalität oder anderen Gründen während ärztlicher Untersuchungen diskriminieren.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 35.
Schon zuvor hatte beispielsweise die Ärztekammer Ankara gegen Ärzte, die Folterspuren nicht als solche attestiert, sondern fälschlich als allergiebedingte Kratzer bezeichnet hatten, befristete Berufsausübungsverbote ausgesprochen.
IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 212-213, 16. Januar bis 3. Februar 2004.
Die bislang weitverbreiteten Foltermethoden wie Falaka, Misshandlung durch Schläge, Elektroschocks, Druckwasser, "palästinensisches Hängen" (Aufhängen an den auf dem Rücken zusammengebundenen Armen) und Quetschung der Hoden sind selten geworden, weil sie körperliche Spuren hinterlassen und bei den ärztlichen Untersuchungen auffallen müssten; sie werden aber gleichwohl mitunter noch praktiziert. Die Häufigkeit physischer Misshandlungen in förmlicher Polizeihaft nimmt ab; sie finden eher in Polizeiwagen und bei Durchsuchungen Anwendung.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 36 unter Bezugnahme auf den Bericht des Ausschusses des Europarates für die Verhütung der Folter (CPT) von Mai 2004; amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an VG Hamburg; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 36.
Im Jahr 2003 registrierte die türkische Menschenrechtsorganisationen IHD (Insan Haklari Dernegi) zwei Todesfälle in Polizeihaft, 818 Fälle von Folter in Polizeihaft bei 12406 polizeilichen Festnahmen, 30 Fälle von Folter durch Dorfschützer und 241 Fälle von Folter außerhalb regulärer Polizeihaft. In Relation zur Bevölkerungsdichte wurde im Südosten häufiger gefoltert als in den übrigen Landesteilen.
Oberdiek, Gutachten vom 25. April 2004 an VG Greifswald.
An die fünf Behandlungszentren der Menschenrechtsorganisation TIHV (Türkiye Haklari Vakfi) in Istanbul, Ankara, Izmir, Diyarbakir und Adana wandten sich im Jahr 2003 924 Personen und im Jahr 2004 918 Personen, von denen 342 (2003) bzw. 337 (2004) angaben, in dem jeweiligen Jahr gefoltert worden zu sein.
IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 238-239, 23. Dezember 2004 bis 23. Januar 2005; amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an VG Hamburg.
Die bislang für das Jahr 2004 vorliegenden Statistiken deuten darauf hin, dass die Reformen allmählich Wirkung zeigen. Schon im ersten Halbjahr 2004 ist die Zahl der beim IHD eingegangenen Beschwerden über Folter im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 29 % gesunken, wobei sich die Tendenz, dass Folter zunehmend außerhalb förmlicher Haft angewandt wird, verstärkt hat.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 35; Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 238-239, 23. Dezember 2004 bis 23. Januar 2005.
Landesweit registrierte der IHD im gesamten Jahr 2004 deutlich weniger Beschwerden wegen Menschenrechtsverletzungen als im Jahr 2003.
Die Zeitungsberichte über den am 17. März 2005 vorgestellten Jahresbericht, der in vollständiger Fassung noch nicht vorliegt, nennen allerdings unterschiedliche Zahlen. So sank die Zahl der Fälle von Folter und Misshandlung nach Meldungen der Welt vom 18. März 2005 und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. März 2005 von 1849 im Jahr 2003 auf 1040 im Jahr 2004. Nach Angaben in den Ruhr-Nachrichten vom 19. März 2005 sank die Zahl der Menschenrechtsverletzungen von 1202 auf 843.
Im Gegensatz zu den vorstehend beschriebenen positiven Entwicklungen scheint sich die Menschenrechtspraxis nach Wiederaufflammen der Kämpfe im Südosten und der damit einhergehenden Verschärfung der Sicherheitslage - zumindest vorübergehend - wieder verschlechtert zu haben. Der IHD Diyarbakir geht in seinen Monatsberichten davon aus, dass Folter und Morde mit unbekannten Tätern in den ehemaligen Notstands- und angrenzenden Gebieten seit dem 1. Juni 2004 erneut zugenommen haben. Allein im September 2004 registrierte der IHD Diyarbakir 446 Fälle von Menschenrechtsverletzungen in der Region. Von 144 Personen, die nach diesem Bericht bei Operationen der Sicherheitskräfte festgenommen wurden, gaben 55 - also mehr als ein Drittel - an, gefoltert worden zu sein.
Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Das bestätigt die Einschätzung des Senats, dass die Entwicklung, die die Türkei in den vergangenen drei Jahren genommen hat, nicht unumkehrbar ist, weil die Überzeugung von der Notwendigkeit, die Menschenrechte auch und gerade in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner zu achten, noch nicht dauerhaft im Bewusstsein der Menschen verwurzelt ist. Die Menschenrechtsorganisationen gehen im Übrigen von einer erheblichen Dunkelziffer aus, wobei angenommen wird, dass die Anzeigebereitschaft im Kreise derjenigen, denen nicht politische Straftaten vorgeworfen werden, geringer ist.
Tellenbach, Gutachten vom 17. April 2004 an VG Stuttgart; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 33, 36; amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an VG Hamburg; Rechtsanwältin Keskin, Zeugenaussage vor dem VG Gießen am 3. September 2004.
Damit steht in Einklang, dass 72 der 73 Personen, die in den ersten fünf Monaten des Jahres 2004 bei der Stiftung für Gesellschaftliche und Juristische Recherche (TOHAV) einen Antrag auf Behandlung von Folterfolgen stellten, kurdische Volkszugehörige waren.
IMK-Menschenrechtsinformationsdienst, Nr. 224-225, 16. Juni bis 10. Juli 2004.
Nach wie vor bleibt die Menschenrechtspraxis hinter den - wesentlich verbesserten - rechtlichen Rahmenbedingungen zurück.
Nachdem das geltende türkische Verfassungs-, Straf- und Strafverfahrensrecht alle strukturellen Voraussetzungen für die systematische Anwendung von Folter beseitigt hat, besteht das Hauptproblem in der unzureichenden Umsetzung geltenden Rechts. So sind die strafrechtliche Verfolgung von Folter und die Verurteilung der Täter nach wie vor selten, obwohl die Strafandrohungen hoch sind. Von den im Jahr 2003 wegen Folter- und Misshandlungsvorwürfen angeklagten 2454 Vollzugsbeamten wurden 1357 freigesprochen und 854 verurteilt. Inhaftiert wurden nur 138.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 18, 34 ff.
Die unzureichende Beachtung der Menschenrechte in der Türkei war auch Gegenstand zahlreicher Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die ganz überwiegend zu einem Erfolg der Beschwerdeführer führten. So stellte der Gerichtshof in 132 der allein in dem Zeitraum zwischen Oktober 2003 und Oktober 2004 entschiedenen 161 Fälle Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention fest; in 23 Verfahren kam eine einvernehmliche Regelung zustande. Die nach wie vor sehr zögerliche Umsetzung der zu ihren Lasten ergangenen Urteile des Gerichtshofs durch die Türkei - so etwa im Fall des erfolgreichen Beschwerdeführers Loizidou, dem die im Jahr 1998 zugesprochene Entschädigung erst im Dezember 2003 ausgezahlt wurde - war Gegenstand einer Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates im Juni 2004.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 31 f.; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 42.
Allerdings bahnt sich auch insoweit eine konsequentere Vorgehensweise an, nachdem die Türkei die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass Strafverfahren unter Umständen wiederaufgenommen werden, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Konventionsverstoß festgestellt hat, und erste Wiederaufnahmeverfahren durchgeführt worden sind. Wie sich die im März 2002 verabschiedete Änderung des Beamtengesetzes, nach der Beamte in Regress genommen werden können, wenn der Gerichtshof die Türkei wegen Folter zu einer Schadensersatzleistung verurteilt hat, Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 38, auswirken wird, insbesondere ob es in einem solchen Fall - wie in der Vergangenheit schon mitunter berichtet wurde - zu einer Gefährdung der Beschwerdeführer bzw. ihrer Angehörigen kommt, Graf (Schweizerische Flüchtlingshilfe), Türkei - Zur aktuellen Situation, Juni 2003, S. 34, bleibt abzuwarten.
Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten mit dem Ziel einer Sensibilisierung der Sicherheitskräfte und Gerichte für die Beachtung der Menschenrechte stoßen, wenn nicht ihr Urheber aus anderen Gründen unangreifbar ist, auf Widerstände.
Die Eröffnung einer Zweigstelle von amnesty international zur Mitte des Jahres 2002 wurde von der Regierung zwar ausdrücklich begrüßt. Im Gegensatz hierzu und zu der Errichtung staatlicher Ausschüsse, die die Einhaltung der Menschenrechte überwachen sollen, stehen die Maßnahmen, durch die den Menschenrechtsorganisationen die Arbeit immer wieder erschwert wird. Als ernsthaften Rückschritt werteten die Beobachter vor allem die Beschlagnahme von Patientenakten bei der Durchsuchung des Zentrums für Folteropfer des TIHV in Diyarbakir am 7. September 2001, die Durchsuchung des IHD-Büros Ankara am 6. Mai 2003, bei dem umfangreiche Unterlagen beschlagnahmt wurden, und das - am 9. März 2004 allerdings eingestellte - Verfahren gegen Vorstandsmitglieder des TIHV wegen angeblich unrechtmäßiger Spendensammlungen.
Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 12. August 2003, S. 39 f., und vom 19. Mai 2004, S. 33 ff.
Menschenrechtsaktivisten sehen sich häufig strafrechtlichen Vorwürfen ausgesetzt; beispielsweise sind gegen die türkische Rechtsanwältin und Vorsitzende des Menschenrechtsvereins Eren Keskin ihren eigenen Angaben zufolge bereits ca. 120 Strafverfahren eingeleitet worden.
Rechtsanwältin Keskin, Zeugenaussage vor dem VG Gießen am 3. September 2004; vgl. auch Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 12. August 2003, S. 39 f.
Die Tätigkeit des IHD Diyarbakir, vor allem seine monatlichen Berichte über Menschenrechtsverletzungen, war in bislang 250 Fällen Anlass für strafrechtliche Ermittlungen. Gegen Vorstandsmitglieder des IHD Diyarbakir sind zwei Verfahren eingeleitet worden, nachdem sie Delegationen aus dem Ausland empfangen hatten, nämlich am 16. April 2004 Vertreter schwedischer Universitäten und am 16. Juli 2004 das Nahostkomitee der Sozialistischen Internationale. Vorgeworfen wird ihnen ein Verstoß gegen Art. 43 des Vereinsgesetzes, wonach internationale Treffen einer Erlaubnis des Innenministers bedürfen.
IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 238-239, 23. Dezember 2004 bis 23. Januar 2005.
Aus der Tatsache, dass asylerhebliche Menschenrechtsverletzungen in der Türkei auch gegenwärtig noch weit verbreitet sind und häufig kurdische Volkszugehörige betroffen sind, folgt für das asylrechtliche Verfahren, dass im Einzelfall Angaben eines Asylbewerbers über Folter und Misshandlung - wie bisher - sorgfältig nachzugehen ist. Auf das Bestehen einer Gruppenverfolgung lassen die Menschenrechtsverletzungen indessen nicht schließen. Auch die asylerhebliche Misshandlung von in Polizeigewahrsam genommenen Personen knüpft nicht an die kurdische Volkszugehörigkeit der Betroffenen an, sondern an einen - wenn auch in vielen Fällen auf sehr groben Unterscheidungsmerkmalen beruhenden - Verdacht einer Beteiligung an strafbaren separatistischen Aktivitäten. Dieser kann auch an die Weigerung eines Betroffenen anknüpfen, der Aufforderung Folge zu leisten, für die Polizei Spitzeldienste zu leisten.
Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; Rumpf, Gutachten vom 23. Januar 2001 an VG Augsburg; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 30. Januar 2002 - 8 A 5008/98.A -.
Die Gefahr einer Misshandlung durch Sicherheitskräfte und Polizei erfasst weder pauschal alle Kurden noch schließt sie Angehörige anderer Volksgruppen aus. Dies wird auch durch den Umstand bestätigt, dass Kurden in der Türkei auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft repräsentiert sind. Es gibt viele hochrangige Kurden, die sich zum türkischen Staat bekennen, ohne zugleich ihre kurdische Herkunft zu verleugnen. In Parlament, Kabinett und allgemeiner Verwaltung sind Kurden ebenso vertreten wie in Stadtverwaltungen, Gerichten und Sicherheitskräften. Ähnlich sieht es in Industrie, Wissenschaft, Geistesleben und Militär aus; in der Armee gibt es Kurden auf allen Kommandoebenen.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 7. September 1999, S. 8; Lagebericht vom 24. Juli 2001, S. 11; Lagebericht vom 20. März 2002, S. 15 f.; Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 17 f.; Rumpf, Gutachten vom 23. Januar 2001 an VG Augsburg, S. 5 f.
Die Aussagekraft der genannten Tatsachen kann nicht unter Hinweis darauf relativiert werden, die Erlangung hoher Positionen in Staat und Gesellschaft setze Assimilation und Verzicht auf das Bekenntnis zum Kurdentum voraus. Mit der Übernahme von Verantwortung im staatlichen Bereich wird nicht die kurdische Herkunft geleugnet, sondern vielmehr eine grundsätzliche Loyalität dem türkischen Staat gegenüber zum Ausdruck gebracht. Nicht der Verzicht auf das Kurdentum, sondern der Verzicht darauf, aus der ethnischen Zugehörigkeit besondere politische Forderungen wie diejenige nach einem unabhängigen Staat oder politischer oder kultureller Autonomie herzuleiten, macht jenen Eindruck von Loyalität in der Öffentlichkeit aus. Bestätigt wird diese Einschätzung dadurch, dass mit Innenminister Aksu ein Kurde der Regierung angehört, der seine kurdische Abstammung nicht verleugnet und sogar schon öffentlich - wenn auch nicht bei offiziellen Anlässen - Reden auf Kurdisch gehalten hat.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 18; Rumpf, Gutachten vom 23. Januar 2001 an VG Augsburg, S. 6.
Wer die Türkei als unteilbaren Einheitsstaat akzeptiert, kann ungeachtet einer evidenten kurdischen Volkszugehörigkeit bis in höchste Funktionen aufsteigen. Wer hingegen mit Blick auf sein Kurdentum die organisatorischen Grundstrukturen der Türkei in Frage stellt ("Separatismus"), muss mit Repressalien der beschriebenen Art rechnen. Es ist somit die politische Überzeugung, an die die Verfolgungsmaßnahmen anknüpfen. Da jene Überzeugung, der die Verfolgung gilt, von einem beachtlichen Teil der Kurden - auch in Ostanatolien - nicht geteilt wird, dieser vielmehr den türkischen Staat bei der Verfolgung seiner Ziele unterstützt, ja selbst einen Teil des türkischen Staates ausmacht, ist für die Annahme einer Gruppenverfolgung von Kurden in Ostanatolien kein Raum.
ee. Kurdische Sprache, politische Parteien, Meinungs- und Pressefreiheit
Auseinandersetzungen um die Betätigung der als kurdenfreundlich oder politisch linksgerichtet eingestuften politischen Parteien und Organisationen sowie um die Bedeutung der kurdischen Sprache und Kultur in Bildung, Erziehung und im politischen Leben bilden seit mehreren Jahren einen Bereich, in dem Zivilpersonen in der Konfrontation mit Polizei und Jandarma ein hohes Risiko asylrelevanter Misshandlung eingehen. Die Reformen haben in diesem Bereich zwar zahlreiche, aber keine durchgängigen Verbesserungen bewirkt. Das Risiko, wegen eines Einsatzes für kurdische Interessen politisch verfolgt zu werden, besteht vor allem dann fort, wenn dieser Einsatz aus Sicht der türkischen Behörden Ausdruck separatistischen Gedankenguts ist und einen Straftatbestand erfüllt. Das Vorliegen einer gruppengerichteten Verfolgung lässt sich daraus indes nicht ableiten, da die Maßnahmen unabhängig von der Volkszugehörigkeit der Betroffenen auf das vermeintlich separatistische Gedankengut zielen, das nach der Überzeugung der türkischen Behörden mit dem Einsatz für kurdische Interessen verbunden ist.
Die im Südosten als Umgangssprache weit verbreitete und als solche tolerierte kurdische Sprache wird seit jeher vom türkischen Staat als gefährliches Symbol für die Abwendung vom kemalistischen Staatsprinzip der Unteilbarkeit von Staatsgebiet und Staatsnation angesehen. Diesem Verständnis liegt die Vorstellung zu Grunde, dass nicht erst der Einsatz von Gewalt den türkischen Staat gefährde, sondern dass es zunächst die Idee sei, die den Menschen provoziere, und dass es deshalb sinnvoll sei, die Meinungs- und Meinungsäußerungsfreiheit auf allen relevanten Feldern einzuengen, um eine Ausbreitung potenziell staatsgefährdender Gedanken zu verhindern.
Dem entsprach die frühere Fassung der Präambel der türkischen Verfassung, nach der vom verfassungsrechtlichen Schutz - auch vom Schutzbereich der in Art. 26 geschützten Meinungsfreiheit - sogar Gedanken und Meinungen ausgenommen waren, die den türkischen nationalen Interessen zuwiderlaufen oder die Existenz des türkischen Staates in Frage stellen. Die Präambel ist inzwischen dahin geändert worden, dass nur Handlungen, nicht mehr Gedanken und Meinungen, die die vorgenannten Voraussetzungen erfüllen, außerhalb des Schutzes der Verfassung stehen. Allerdings darf nach Art. 14 der türkischen Verfassung kein Grundrecht genutzt werden, um die staatliche Einheit der Republik oder andere grundlegende Werte des Staates zu gefährden.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 12 f.
Vor diesem Hintergrund besteht trotz einiger Veränderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen nach wie vor ein engmaschiges Netz restriktiver oder restriktiv handhabbarer Vorschriften, die den Gebrauch der kurdischen Sprache bzw. allgemein pro-kurdische, als separatistisch verstandene Aktivitäten sanktionieren, wenn sie aus türkischer Sicht den Bereich der verfassungsrechtlich geschützten Meinungsfreiheit überschreiten. Auch wenn in den vergangenen Jahren direkte Verbote zunehmend durch allgemein formulierte Schrankenbestimmungen ersetzt worden sind, lässt sich das geltende türkische Recht weiterhin zur Kontrolle, Einschränkung und ggf. zum Verbot des Gebrauchs der kurdischen Sprache und der Unterstützung von im weitesten Sinne kurdisch orientierten Gruppen oder Parteien einsetzen. So ist zwar schon im April 1991 das Sprachenverbotsgesetz von 1983 aufgehoben worden. Das in jenem Gesetz verankerte und auf die kurdische Sprache zielende direkte Verbot aller Sprachen, die nicht zugleich erste Amtssprache eines durch die Türkei völkerrechtlich anerkannten Staates sind, wurde jedoch durch die Bestimmungen des am 12. April 1991 in Kraft getretenen Antiterrorgesetzes, vor allem durch Art. 8 ATG, ersetzt. Nach dieser Vorschrift, die wie zuvor das Sprachenverbotsgesetz gezielt zur Unterdrückung der kurdischen Sprache und nahezu jeder unliebsamen Äußerung eingesetzt wurde, waren "sämtliche schriftlichen oder mündlichen Propaganda-Äußerungen, Versammlungen, Kundgebungen und Demonstrationen, die durch welche Mittel, aus welchen Gründen und aufgrund welcher Gedanken auch immer zum Ziel haben, die Unteilbarkeit des Staates der Republik Türkei und seiner Nation zu zerstören", verboten. Auch wenn Art. 8 ATG - nicht zuletzt auf Drängen der Europäischen Union - im Rahmen des Reformpakets vom 19. Juni 2003 aufgehoben worden ist, enthält das türkische Strafrecht doch weiterhin etliche Bestimmungen, die Grundlage für die Einleitung von Strafverfahren gegen solche Personen sein können, die sich als Politiker, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten oder auf sonstige Weise für die Interessen der kurdischen Minderheit einsetzen. Zu nennen sind insoweit insbesondere Art. 159, 169 und 312 Abs. 2 tStGB sowie Art. 7 ATG.
Art. 159 tStGB stellt die "Beleidigung des Türkentums" unter Strafe. In der Fassung, die diese Vorschrift durch die Reformgesetze vom 3. August 2002 und 30. Juli 2003 erhalten hat, fällt reine Kritik an staatlichen Einrichtungen einschließlich der Streitkräfte nicht mehr unter den Begriff der Beleidigung, es sei denn die Kritik wird in beleidigender, verunglimpfender oder verächtlichmachender Absicht geäußert. Ebenfalls eine Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit bewirkt Art. 312 Abs. 2 tStGB, der von den Strafverfolgungsbehörden inzwischen häufig in den Fällen herangezogen wird, in denen früher Art. 8 ATG angewandt wurde. Das nach Art. 312 Abs. 2 tStGB sanktionierte "Aufstacheln der Bevölkerung auf der Grundlage von Klassen-, Rassen- und Glaubensunterschieden" ist inzwischen nur noch strafbar, wenn das Aufstacheln in einer Weise geschieht, die die öffentliche Ordnung gefährdet. Darunter können allerdings auch Meinungsäußerungen fallen, die nicht zur Gewalt aufrufen. Der Straftatbestand der "Unterstützung einer verbotenen Vereinigung" (Art. 169 tStGB) ist durch die Reform vom 30. Juli 2003 in wesentlicher Hinsicht konkretisiert worden, indem der frühere Auffangtatbestand "oder wer ihre Handlungen in irgendeiner Weise unterstützt" gestrichen wurde. Auch das Anti-Terror-Gesetz (ATG) hat erhebliche Änderungen erfahren. Anders als früher ist die Anwendung von Gewalt nunmehr Tatbestandsvoraussetzung für die Annahme von Terror i.S.v. Art. 1 ATG. Das hat Bedeutung für Art. 7 ATG, der die Unterstützung einer terroristischen Organisation unter Strafe stellt, wenn diese Unterstützung in einer Form erfolgt, die zu terroristischen Methoden ermutigt. Gegen die sonstigen Tendenzen in der türkischen Strafrechtspolitik ist dieser Straftatbestand durch das Reformgesetz vom 30. Juli 2003 ausweitet worden; danach erfasst er auch Propaganda, die zu Gewalt oder terroristischen Mitteln anstiftet. Zudem wurde das Strafmaß erhöht.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 13 f.; amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Fortschritte haben die Reformpakete allerdings hinsichtlich des öffentlichen Gebrauchs der kurdischen Sprache bewirkt und dazu geführt, dass inzwischen der kurdischen Sprache und Kultur tatsächlich mehr Toleranz entgegenbracht wird. Die Feiern zum kurdischen Neujahrsfest, dem Newroz-Fest, wurden in den vergangenen Jahren ausnahmslos genehmigt und konnten ohne ernstliche Zwischenfälle durchgeführt werden. Im Jahr 2004 sandte Ministerpräsident Erdogan sogar Glückwünsche zur zentralen Newroz-Feier nach Diyarbakir.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 19, 50 f.; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 20.
Nachdem schon durch die Verfassungsreform vom 17. Oktober 2001 die ausdrücklichen Sprachverbote in Art. 26 Abs. 3 Satz 1 und Art. 28 Abs. 2 der türkischen Verfassung (Meinungsfreiheit und Pressefreiheit) aufgehoben worden waren, sind nunmehr aufgrund des Reformpakets vom 3. August 2002 auch Rundfunk- und Fernsehsendungen sowie Unterricht in anderen als der türkischen Sprache erlaubt, nämlich in Bosnisch, Arabisch, Tscherkessisch und Kurdisch (Kurmanci und Zaza).
Die erst Ende 2003 vom RTÜK (Radyo ve Televizyon Üst Kurumu - Hoher Radio- und Fernsehrat) beschlossenen und am 25. Januar 2004 nach langen Beratungen vom Kabinett gebilligten Durchführungsbestimmungen hinsichtlich des Gebrauchs der kurdischen Sprache in Rundfunk- und Fernsehsendungen erweisen sich allerdings als sehr restriktiv. Dies gilt sowohl in Bezug auf die Dauer der Ausstrahlungen, die - für alle Sendungen in anderen Sprachen als der türkischen insgesamt - im Fernsehen 45 Minuten pro Tag und 4 Stunden pro Woche, im Rundfunk 60 Minuten pro Tag und fünf Stunden pro Woche nicht überschreiten dürfen, als auch in Bezug auf die Inhalte, die auf bestimmte Programmsparten beschränkt sind, nämlich Nachrichten, Dokumentarfilme, Musik- und Sportsendungen. Kindersendungen und Sprachunterricht sind ebenso verboten wie "Sendungen, die gegen die unteilbare Einheit des Staates mit seinem Land und seiner Nation gerichtet sind". Türkische Untertitel bzw. Übersetzungen sind zwingend vorgeschrieben. Die staatliche Rundfunkgesellschaft TRT hat im Juni 2004 die ersten anderssprachigen Sendungen ausgestrahlt. Zögerlich behandelt werden unterdessen noch die Anträge privater Lokalsender. Die Genehmigung setzt nach Maßgabe der Verordnung von Januar 2004 die Erstellung eines Hörer- bzw. Zuschauerprofils durch den Hohen Rundfunk- und Fernsehrat RTÜK voraus. Bei Verstößen gegen das strikte Reglement wie etwa vorzeitiger Aufnahme der Ausstrahlung anderssprachiger Sendungen oder auch nur kurdischsprachiger Lieder drohen Bußgelder, vorübergehende Sendeverbote und sogar die gänzliche Schließung des Senders.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 19, 40 ff.; Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 8. April 2003 und 24. November 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen sowie Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 19; Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Mit der Verordnung über den Unterricht in verschiedenen, traditionell von türkischen Bürgern in ihrem Alltag gesprochenen Dialekten ist die AKP-Regierung einer im Jahr 2001 im Rahmen einer vielbeachteten Kampagne erhobenen Forderung kurdischer Schüler, Studenten und Eltern nach einem muttersprachlichen Unterricht, deren Teilnehmer straf- bzw. disziplinarrechtlich verfolgt wurden, vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 45 f., nur scheinbar nachgekommen. Nach dieser Verordnung ist zwar nunmehr die Erteilung von kurdischem Sprachunterricht gestattet und findet in einigen Städten im Südosten (Van, Batman, Sanliurfa, Diyarbakir und Adana) sowie in Istanbul inzwischen auch statt. Erlaubt ist der Unterricht aber nur in Privatschulen, die keine staatlichen Finanzhilfen erhalten und strengen Auflagen hinsichtlich Lehrplan, Ernennung der Lehrer und - vor allem - der Schulbesucher unterliegen. Die Schüler müssen mindestens 15 Jahre alt sein und bereits die staatliche Grundbildung abgeschlossen haben.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 19, 50 f.
Die erheblichen gesetzlichen Restriktionen werden entsprechend den strengen Durchführungsverordnungen in der Praxis auch sehr streng gehandhabt. Das gilt ebenso für die Verwendung kurdischer Vornamen, die bislang als politische Einflussnahme der PKK/KADEK galten. Sie sind zwar nicht mehr grundsätzlich verboten, sondern nur noch dann, wenn sie gegen die "Moral und öffentliche Ordnung" verstoßen.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 19 f.
Der Kassationsgerichtshof hat indes im April 2004 die behördliche Praxis gebilligt, dass die Buchstaben x, q und w, die im türkischen Alphabet nicht vorkommen, weiterhin verboten sind und transkribiert werden müssen.
IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 218-219, 14. März bis 20. April 2004.
Gegen als kurdenfreundlich oder linksgerichtet eingestufte Parteien und Organisationen gehen die Sicherheitskräfte nach wie vor mit großer Strenge vor. Allerdings ist auch hier festzustellen, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen sich mit der Verabschiedung eines Reformpakets im März 2002, das u.a. die Voraussetzungen für das Verbot politischer Parteien verschärft und das Vereins- und Versammlungsrecht gelockert hat, sowie durch die Reformen der für die Ausübung der Meinungsfreiheit relevanten Strafvorschriften im August 2002 und Juli 2003 verbessert haben. Dennoch beklagen die DEHAP sowie türkische Menschenrechtsorganisationen und Medien weiterhin erhebliche Beeinträchtigungen ihrer Arbeit durch eine Vielzahl - häufig ersichtlich unbegründeter - strafrechtlicher Vorwürfe.
Die pro-kurdische Partei HADEP wurde am 13. März 2003 nach über vierjähriger Verfahrensdauer mit der Begründung verboten, sie habe Verbindungen zur PKK/KADEK. Gegen zahlreiche führende Funktionäre der HADEP wurden Politikverbote verhängt. Dieser Ausgang des Verfahrens kam für die HADEP, deren drei Vorgängerparteien seit 1994 schon mit vergleichbaren Begründungen verboten worden waren und in deren Parteibüros Publikationen der PKK und ihrer Unterorganisationen gefunden worden waren, nicht überraschend. Zahlreiche Mitglieder der HADEP traten daher unmittelbar in die bereits 1999 vorsorglich gegründete DEHAP über. Die kurz darauf mit unterschiedlichen Begründungen eingeleiteten zwei Verbotsverfahren gegen die DEHAP sind noch anhängig. Ob und wie sich die Änderungen des Partei- und Wahlgesetzes durch die Reform vom 11. Januar 2003, die Partei- und Politikverbote erschwert, in diesen Verfahren auswirken werden, bleibt abzuwarten.
Kaya, Gutachten vom 13. Oktober 2004 an VG Aachen; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8. April 2003 an OVG Nordrhein-Westfalen und Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 17.
Unterdessen sind Funktionäre und Mitglieder der DEHAP weiter der Gefahr ausgesetzt, Opfer staatlicher Übergriffe zu werden. Diese Übergriffe richten sich entweder gegen Einzelpersonen, die einen Verdacht auf sich gezogen haben, etwa gegen politisch oder sonst exponierte Personen wie Funktionäre und Mitglieder pro-kurdischer Parteien oder Mitarbeiter von Menschenrechtsorganisationen, oder kollektiv gegen Gruppen von - insbesondere öffentlich, auf Demonstrationen auftretenden - Sympathisanten kurdischer Ideen oder linksextremer Anschauungen. Anlass ist allerdings nach übereinstimmender Einschätzung aller Beobachter nicht die Mitgliedschaft, Funktion oder Veranstaltungsteilnahme als solche, sondern stets der Verdacht eines strafrechtlich relevanten Verhaltens.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 3. Februar 2004 an VG Sigmaringen und Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 18; Kaya, Gutachten vom 4. Juli 2003 und vom 13. Oktober 2004, jeweils an VG Aachen; Oberdiek, Gutachten vom 28. Januar 2003 an OVG Mecklenburg-Vorpommern.
Ein solcher Verdacht kann sehr leicht entstehen, weil das türkische Strafrecht - insbesondere Art. 159 tStGB - trotz der Reformen immer noch sehr weit gehende und mit Art. 10 EMRK nicht zu vereinbarende Einschränkungen der Meinungsfreiheit enthält.
Fortschrittsbericht der EU-Kommision vom 6. Oktober 2004, S. 18, 39 ("... gehen weit über das hinaus, was im Rahmen der EMRK tragbar wäre").
Auch der Gebrauch der kurdischen Sprache im Rahmen der politischen Arbeit ist weiterhin strikt reglementiert. Parteien dürfen externe Kommunikation und Wahlkampfveranstaltungen nur in türkischer Sprache führen. Für die Einleitung eines Strafverfahrens reicht es bisweilen schon aus, die Teilnehmer einer Wahlkampfveranstaltung in kurdischer Sprache zu begrüßen.
amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen unter Hinweis auf den Fall der Bürgermeisterin von Kiziltepe, Cihan Sincar.
Da das türkische Strafprozessrecht keine Vorprüfung einer von der Staatsanwaltschaft erhobenen Anklage nach Art eines Eröffnungsverfahrens kennt, zwingen auch absurde Vorwürfe zur Durchführung eines Strafverfahrens, das dann häufig - nach inoffiziellen Schätzungen in bis zu 75 % der Fälle - mit Freispruch endet. Gleichwohl sind die Belastungen, die durch die ständige Konfrontation mit derartigen, mitunter sehr langwierigen Verfahren verursacht werden, nicht zu unterschätzen.
Fortschrittsbericht der EU-Kommision vom 6. Oktober 2004, S. 11 f., 28.
Dadurch, dass Funktionäre und aktive Mitglieder der HADEP/DEHAP nicht in größerer Zahl um Asyl nachsuchen, wird die Einschätzung, dass gerade dieser Personenkreis in besonderem Maße von Verfolgung bedroht ist, nicht in Frage gestellt. Denn es entspricht ihrer politisch-moralischen Grundhaltung, nach erlittener Verfolgung nicht ins Ausland zu gehen. Statt dessen werden andere Möglichkeiten ausgeschöpft, um die Sicherheit solcher Personen zu gewährleisten, die als tatsächliche oder vermeintliche Separatisten in Verdacht geraten oder aufgefordert worden sind, Spitzeldienste zu leisten. Hierzu zählen etwa Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft und bei Menschenrechtsorganisationen sowie Pressemitteilungen, in denen über den jeweiligen Vorfall berichtet wird und durch die das Augenmerk der Öffentlichkeit auf die gefährdete Person gelenkt werden soll.
Kaya, Gutachten vom 13. Oktober 2004 an VG Aachen.
Obgleich die Pressefreiheit durchaus gestärkt worden ist, geraten auch im Medienbereich tätige Personen durch - gewaltlose - Meinungsäußerungen schnell in das Visier der Sicherheitskräfte. Sanktionen wie das Verbot von Veröffentlichungen, Unterbinden des Vertriebs und die Beschlagnahme von Druckmaschinen sind abgeschafft worden. Das im Juni 2004 geänderte Pressegesetz gewährt nunmehr ein Recht auf journalistischen Quellenschutz und ein Recht auf Antwort und Richtigstellung. Die Möglichkeit, Druckerzeugnisse wie Bücher und Zeitschriften zu beschlagnahmen, wurde eingeschränkt. Im Pressegesetz bislang vorgesehene Haftstrafen wurden durch Geldbußen ersetzt, die allerdings aufgrund ihrer - nach Einschätzung der EU-Kommission unverhältnismäßigen - Höhe leicht zu Vermeidungsverhalten im Form einer Selbstzensur führen können. Denn sie stellen gerade für kleinere, lokale Presseorgane eine wirtschaftliche Existenzbedrohung dar. Verfahren gegen Journalisten sind allerdings häufig nicht auf das neue Pressegesetz, sondern auf die allgemeinen Strafgesetze gestützt, die der Meinungsfreiheit - wie dargestellt - enge Grenzen setzen.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 18 f., 39 f.; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 14.
Die Gründung eines kurdischen Schriftstellerverbandes im Februar 2004 in Diyarbakir wurde zwar hingenommen; seine Arbeit wird indessen ebenfalls behindert. Wegen einer nicht genehmigten Zusammenkunft von Angehörigen des Schriftstellerverbandes mit Vertretern der Europäischen Kommission ist ein Gerichtsverfahren eingeleitet worden.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 43.
Neben kurdenfreundlichen Parteien, Organisationen und Journalisten stehen auch die türkischen Menschenrechtsorganisationen - vor allem IHD und TIHV sowie der islamisch ausgerichtete Menschenrechtsverband Mazlum Der - unter Druck. Die Sicherheitskräfte gehen gegen sie in ähnlicher Weise vor wie gegen separatismusverdächtige pro-kurdische oder linksgerichtete Parteien. Die hierbei eingesetzten Maßnahmen reichen von Durchsuchungen der Geschäftsräume über die Einleitung von Strafverfahren wegen Unterstützung illegaler Organisationen (Art. 169 tStGB) bis zu einer zumindest vorübergehenden Schließung von Filialen. Als besonders gravierend sind Beschlagnahmen von Unterlagen einzuschätzen, insbesondere die Beschlagnahme von Patientenakten bei der Durchsuchung des Zentrums für Folteropfer des TIHV in Diyarbakir am 7. September 2001, weil dies das Vertrauen der Betroffenen in die Arbeit der Organisationen zerstört und die weitere Arbeit der Organisation erschwert oder unmöglich macht.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 19; SZ vom 1. Februar 2002, "Hoffnung für Istanbuls Intellektuelle"; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20. März 2002, S. 22 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Länderbericht Türkei, Mai 2001, S. 119 ff.; NZZ vom 28. März 2002, "Die Türkei verabschiedet ein neues Reformpaket"; TIHV, Jahresbericht für 2001, Zusammenfassung, Januar 2002; Norwegischer Flüchtlingsrat, Länderbericht; amnesty international, Presseerklärung vom 11. September 2001; speziell zur Verfolgung von HADEP-Anhängern vgl. u.a. Oberdiek, Gutachten vom 29. April 1999 an VG Berlin, S. 2 ff.; Sen/Akkaya, Gutachten vom 16. April 1999, S. 5 ff.; eine Auflistung der meisten bisher verbotenen Parteien in: Rat der Europäischen Union, Bericht der Delegation des Vereinigten Königreichs vom 30. August 2001, S. 25 f.
Auch die gegen linksorientierte oder "kurdenfreundliche" Parteien, Organisationen, Medien und Einzelpersonen gerichteten staatlichen Verfolgungsmaßnahmen sind jedoch kein Beleg dafür, dass in Ostanatolien eine die Kurden als Gruppe treffende Verfolgung praktiziert wird. Denn auch insoweit ist Anknüpfungspunkt für das Vorgehen der Sicherheitskräfte nicht die Volkszugehörigkeit der Betroffenen, sondern die bei ihnen vermutete "separatistische" politische Überzeugung. Auch die These, die verfolgte Gruppe sei nicht durch das Kurdentum allgemein, sondern dadurch definiert, dass es sich um "nicht assimilierte" Kurden handle, lässt sich anhand der dem Senat vorliegenden Informationen nicht verifizieren, weil unterschiedlos Kurden und Angehörige anderer ethnischer Gruppen ins Blickfeld der Behörden geraten, wenn sie vermeintlich separatistische Meinungen äußern oder verbreiten; dies ist bei dem Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Einrichtungen und Angehörige der in der Türkei tätigen Menschenrechtsorganisationen und gegen linksorientierte Personen, Gruppen oder Medien besonders deutlich.
ff. Verfolgungsdichte
Unabhängig von den vorstehenden Gesichtspunkten unterliegen Kurden in Ostanatolien auch deshalb keiner regionalen Gruppenverfolgung, weil es an der erforderlichen Verfolgungsdichte fehlt. Diese Voraussetzung für eine Gruppenverfolgung wäre nur dann entbehrlich, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm vorlägen, also etwa wenn der Heimatstaat ethnische Minderheiten physisch vernichten und ausrotten oder aus seinem Staatsgebiet vertreiben wollte.
BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 (204); Urteil vom 30. April 1996 - 9 C 170.95 -, BVerwGE 101, 123 (125).
Von einer derartigen Extremsituation für Kurden in der Türkei kann angesichts der oben zu aa. bis ee. getroffenen Feststellungen indes nicht die Rede sein. Überdies schließen die weitreichenden Reformen und die allem Anschein nach ernsthaften, wenn auch möglicherweise in erster Linie von dem Wunsch nach Aufnahme in die Europäische Union getragenen Anstrengungen der türkischen Regierung im Rahmen ihrer Null-Toleranz-Politik gegen Folter die Annahme eines staatlichen Verfolgungsprogramms aus.
Die für die Bejahung einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte ist weder in Ostanatolien insgesamt noch in einzelnen Provinzen erreicht. Die Kurden bilden in der Türkei nach den ethnischen Türken die zweitstärkste Bevölkerungsgruppe mit etwa einem Fünftel der Bevölkerung von insgesamt 70 Millionen. Verlässliche Zahlen für die kurdischstämmige Bevölkerung gibt es nicht, weil bei statistischen Erhebungen nur nach der Muttersprache gefragt wird, die bei vielen Kurden mittlerweile Türkisch ist. Schätzungen schwanken zwischen 5 und 15 Millionen; realistisch ist ein Wert zwischen 13 und 14 Millionen, von denen etwa 6 Millionen in der Ost- und Südosttürkei (davon 2/3 im Notstandsgebiet zur Zeit seiner größten Ausdehnung) leben. Der Anteil der kurdischen Bevölkerung dort beträgt zwischen 40% und etwa 90%, in den zuletzt noch unter Notstandsrecht stehenden Provinzen zwischen etwa 60% und etwa 90%.
Angesichts dieser Zahlen muss im Südosten der Türkei nicht jeder Kurde jederzeit damit rechnen, auch in eigener Person zum Opfer von Übergriffen zu werden. Zwar war und ist insbesondere von den gewaltsamen Dorfräumungen eine große Anzahl von Kurden betroffen. Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass in den in diesem Zusammenhang genannten und teilweise erheblich divergierenden Zahlen ein hoher, wenn auch schwer bezifferbarer Anteil an Landflüchtigen enthalten ist, die ihre Heimatdörfer nicht auf Grund der Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte, Dorfschützer oder PKK-Einheiten, sondern aus wirtschaftlichen Gründen verlassen haben. Außerdem lag der Schwerpunkt der flächendeckenden Dorfräumungen in der zweiten Hälfte der Achtziger bis zum Beginn der Neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Die nach Beendigung des Waffenstillstandes im Juni 2004 vorgekommenen Zwangsräumungen betrafen nur einzelne Dörfer oder Ortsteile. Zudem haben die staatlichen Rücksiedlungsprogramme bis zum 30. November 2004 zur Rückkehr von 128.085 binnenvertriebenen und aus sonstigen Gründen abgewanderten Kurden in ihre Heimatgebiete geführt.
IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 238-239, 23. Dezember 2004 bis 23. Januar 2005; vgl. auch Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 52 (über 124.000).
Zu den durch Zwangsräumungen asylerheblich betroffenen Dorfbewohnern kommen Personen, die Verfolgungsmaßnahmen anderer Art ausgesetzt sind. Die Häufigkeit derartiger individueller Verfolgung hat allerdings in den zurückliegenden Jahren abgenommen. Selbst wenn man eine erhebliche Dunkelziffer hinzurechnet, rechtfertigt die sich ergebende Anzahl im Verhältnis zur Gesamtheit der in Ostanatolien lebenden kurdischen Bevölkerung die Annahme einer der gesamten Bevölkerungsgruppe der Kurden drohenden Verfolgung nicht. Bei derartigen Größenordnungen besteht nicht für jeden Kurden ein signifikantes Risiko, Opfer menschenrechtswidriger Behandlung zu werden.
Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 20. März 2002, S. 15 f., und vom 19. Mai 2004, S. 17; Strohmeier/Yalcin-Heckmann, Die Kurden, 2000, S. 30 und 239 ff. mit Auszügen aus dem türkischen Statistischen Jahrbuch; Norwegischer Flüchtlingsrat, Länderbericht, 18. März 2002; vgl. im übrigen die oben zu A.IV.1.a.bb. und dd. nachgewiesenen Quellen.
b. Keine Anknüpfung an die alevitische Religionszugehörigkeit
Eine staatliche oder dem türkischen Staat zuzurechnende Gruppenverfolgung der Aleviten in Anknüpfung an ihre Religionszugehörigkeit findet nach ständiger Rechtsprechung des Senats in der Türkei nicht statt.
Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 52 ff., m.w.N.
Die aktuelle Erkenntnislage gibt keinen Anlass, diese Einschätzung in Frage zu stellen.
Die Aleviten sind die größte muslimische Minderheit in der Türkei. Abweichend von den sunnitischen Muslimen praktizieren sie weder das fünfmalige tägliche Gebet gen Mekka noch halten sie den Fastenmonat Ramadan ein oder pilgern nach Mekka. Sie sind nicht an ein Alkoholverbot gebunden; Männer und Frauen beten gleichberechtigt gemeinsam. Aleviten finden sich sowohl unter den kurdischen als auch unter den türkischen Volkszugehörigen. Sie leben in der gesamten Türkei mit Schwerpunkten in Istanbul, im Küstengebiet von Antalya und Iskenderun, Adana, Tarsus und Mersin. Türkische Aleviten leben in Corum, Amasya, Tokat und Yozgar, kurdische Aleviten in Sivas, Erzincan, Tunceli, Elazig, Malatya und Kahramanmaras. Nach Schätzungen sind 99% der türkischen Bevölkerung moslemischen Glaubens, von denen etwa 20 bis 30 % der alevitischen Glaubensrichtung angehören. Schätzungen reichen von 12 bis 20 Millionen; zuverlässige Zahlen fehlen indessen, da der türkische Staat die Aleviten nicht als eigenständige Religionsgemeinschaft, sondern als dem sunnitischen Islam verwandte Strömung ansieht und sie deshalb nicht statistisch erfasst. Die Eintragung der Religionszugehörigkeit in den Personalausweis unterscheidet nicht zwischen Aleviten und sunnitischen Muslimen.
Auch wenn die Aleviten ihre Religion entsprechend der Gewährleistung in Art. 24 der türkischen Verfassung weit gehend unbehindert ausüben können, sehen sie sich aufgrund des Fehlens einer eigenen Rechtspersönlichkeit doch schwerwiegenden - ihrer Art und Intensität nach aber nicht asylerheblichen - bürokratischen Hemmnissen ausgesetzt. So können sie Grundeigentum, etwa zur Errichtung von Gebetshäusern (Cemevleri, Cem-Häuser), allenfalls über Kulturstiftungen und -vereine erwerben; dies dürfte aufgrund der jüngsten Änderungen des Vereinsrechts einfacher werden. Probleme ergeben sich auch bei der Ausbildung von Geistlichen sowie bei der Erteilung von Unterricht. Der religiöse Pflichtunterricht an den staatlichen Schulen berücksichtigt nichtsunnitische Bekenntnisse nicht. Bemühungen alevitischer Organisationen um Einbeziehung alevitischer Inhalte in die Curricula der staatlichen Schulen sind an dem durch das Erziehungsministerium vertretenen Argument gescheitert, es handle sich dabei um eine Form von religiösem Separatismus. Insoweit ist ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig.
Die Aleviten selbst unterstützen den von Atatürk begründeten türkischen Laizismus und fordern eine echte Trennung von Staat und Religion; traditionell neigen sie dazu, sich liberalen und links gerichteten politischen Parteien und Strömungen anzuschließen. Auch wegen ihrer politischen Orientierung sehen sich Aleviten deshalb leicht dem Verdacht einer staatsfeindlichen Gesinnung ausgesetzt.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 19, 44 ff.; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 20. März 2002, S. 26 f., und vom 19. Mai 2004, S. 23 f.; Graf (Schweizerische Flüchtlingshilfe), Türkei - Zur aktuellen Situation, Juni 2003, S. 22; Cen / Akkaya, Länderbericht Türkei, 1998, S. 164 f.; Rumpf, Gutachten vom 19. Juni 2000 an VG Darmstadt, S. 12 ff., 20 f. m.w.N.; Rat der Europäischen Union, Länderbericht Türkei der Niederländischen Delegation vom 3. September 2001 (CIREA 46), S. 74ff.; Minderjahn, "Cem-Häuser statt Moscheen ...", Das Parlament, 18. Januar 2002, S. 10.
Von radikalen Sunniten werden die Aleviten sogar als Abtrünnige angesehen, und auch die rechtsgerichteten und rechtsradikalen Kräfte in der Türkei begegnen ihnen mit Feindschaft. So ist es in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach zu gewalttätigen Übergriffen auf Aleviten gekommen, ohne dass die Sicherheitskräfte mit dem nötigen Nachdruck eingegriffen hätten, nämlich in den Jahren 1967 und 1993 in Sivas, im Jahr 1978 in Kahramanmaras und Corum und zuletzt im Jahr 1995 in Istanbul.
Wegen näherer Einzelheiten vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 53 f., m.w.N.
Derartige gewalttätige Ausschreitungen gegenüber Aleviten oder anderen religiösen Minderheiten haben sich in den zurückliegenden Jahren indessen nicht wiederholt.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24. November 2004, amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004, Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004, jeweils an OVG Nordrhein-Westfalen.
Überdies erreichten die erwähnten Vorfälle zu keiner Zeit ein solches Ausmaß und - auch unter Berücksichtigung anderer weniger gravierender Ausschreitungen - eine solche Häufigkeit, dass angesichts der Größe der betroffenen Bevölkerungsgruppe davon auszugehen wäre, Aleviten müssten in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen staatlicher Organe oder ihnen zuzurechnender Übergriffe anderer Bevölkerungsgruppen rechnen.
Rat der Europäischen Union, Länderbericht Türkei der Niederländischen Delegation vom 3. September 2001 (CIREA 46), S. 76; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13. Dezember 1999 an VG Arnsberg; Rumpf, Gutachten vom 19. Juni 2000 an VG Darmstadt, S. 22. Zur (erlaubten) Tätigkeit alevitischer Vereine in der Türkei etwa Auswärtiges Amt, Auskunft vom 4. Juli 1996 an VG Wiesbaden.
2. Keine Individualverfolgung bei Rückkehr
Der Kläger muss auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten, bei einer Rückkehr in die Türkei in Anknüpfung an individuelle Merkmale oder Aktivitäten in asylerheblicher Weise verfolgt zu werden. Dies gilt im Hinblick auf eine etwa noch bestehende Pflicht, in der Türkei den Wehrdienst ableisten zu müssen (a.), im Hinblick auf die Religionszugehörigkeit (b.) sowie unter Berücksichtigung politischer Aktivitäten des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland (c.). Auch unter dem Aspekt der Sippenhaft (d.) oder aus anderen Gründen, die bei einer Einreise in die Türkei eine asylerhebliche Gefährdung bewirken könnten (e.), droht dem Kläger keine politische Verfolgung.
a. Wehrdienst
Der Kläger hat keine politische Verfolgung im Zusammenhang mit der Erfüllung der allgemeinen Wehrpflicht zu befürchten. Kurden droht im Allgemeinen weder bei Erfüllung der Wehrpflicht noch im Zusammenhang mit einer etwaigen Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung oder Fahnenflucht politische Verfolgung in der Türkei.
Ebenso VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Juli 2001 - A 12 S 199/00 -; OVG Hamburg, Urteil vom 1. September 1999 - 5 Bf 2/95.A -; Hessischer VGH, Beschluss vom 14. Dezember 2001 - 6 UE 3681/98.A - und Urteil vom 29. November 2002 - 6 UE 2235/98.A -; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 22. April 1999 - 3 L 3/95 -; OVG Sachsen, Urteil vom 27. Februar 1997 - A 4 S 293/96 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26. Januar 2001 - 10 A 11907/00 -; OVG Saarland, Urteil vom 1. Dezember 2004 - 2 R 15/03 -.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellt die zwangsweise Heranziehung zum Wehrdienst ohne die Möglichkeit einer Wehrdienstverweigerung keine politische Verfolgung dar, wenn sie nicht zielgerichtet in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale eingesetzt wird; dies gilt auch für die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung oder Fahnenflucht.
BVerwG, Urteile vom 24. November 1992 - 9 C 76.91 -, vom 25. Juni 1991 - 9 C 131.90 -, NVwZ 1992, 274 f., vom 6. Dezember 1988 - 9 C 22.88 -, BVerwGE 81, 41 (44), vom 19. August 1986 - 9 C 322.85 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 54; Beschluss vom 10. September 1999 - 9 B 7.99 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 216.
Der Wehrpflicht in der Türkei unterliegen Männer vom Beginn des Jahres, in dem sie das 20. Lebensjahr vollenden, bis zum Beginn des Jahres, in dem sie das 38. Lebensjahr vollenden; allerdings endet die Wehrpflichtzeit nicht, solange der Wehrdienst noch nicht angetreten worden ist. Neben Befreiungen gibt es Rückstellungsmöglichkeiten, insbesondere zur Durchführung einer Hochschulausbildung, sowie für Wehrpflichtige im Ausland, die das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, die Möglichkeit, nach Ableistung eines einmonatigen Grundwehrdienstes von der Ableistung des restlichen Wehrdienstes gegen Zahlung eines Geldbetrages befreit zu werden; bei Überschreitung des 40. Lebensjahres erhöht sich der Betrag und die Pflicht zur Ableistung der Grundausbildung entfällt. Eine Freikaufmöglichkeit bestand nach den Erdbeben des Jahres 1999 vorübergehend auch für Wehrpflichtige im Inland. Der 18-monatige Wehrdienst wird in den Streitkräften oder bei der Jandarma abgeleistet; ein ziviler Ersatzdienst nach Wehrdienstverweigerung ist nach türkischem Recht nicht vorgesehen. Das unentschuldigte Nichterscheinen zur Musterung oder zum Wehrdienst wird nach Art. 63 des türkischen Militärstrafgesetzbuchs bestraft.
Rumpf, Gutachten vom 23. Januar 2001 an VG Augsburg, S. 41 ff.; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 20. März 2002, S. 30 f., und vom 19. Mai 2004, S. 28 f.
Mit der Einführung eines Rechts auf Kriegsdienstverweigerung ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Eine entsprechende Forderung des Europarates hat das türkische Außenministerium im Sommer 2004 scharf zurückgewiesen.
IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 228 - 229, 26. Juli bis 6. August 2004.
Kurden werden in der Türkei bei der Heranziehung zum Wehrdienst oder bei der Ableistung des Dienstes nicht in asylerheblicher Weise benachteiligt. Bei der Heranziehung zum Wehrdienst handelt es sich um eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht, der alle männlichen türkischen Staatsangehörigen ungeachtet ihrer ethnischen Zugehörigkeit in gleicher Weise unterworfen werden. Auch bei der Ausgestaltung und Durchführung des Wehrdienstes werden Kurden im Allgemeinen nicht in asylerheblicher Weise anders behandelt als andere Wehrpflichtige, auch wenn im Laufe der jahrelangen militärischen Auseinandersetzungen mit der PKK kurdenkritische Tendenzen aufgetreten sein mögen. Zwar ist der Dienst in den türkischen Streitkräften hart und schließt auch körperliche Züchtigungen ein, deren konkretes Ausmaß letzlich davon abhängt, in welcher Einheit und unter welchem Vorgesetzten der Dienst zu leisten ist. Diese Unwägbarkeiten betreffen jedoch alle Wehrpflichtigen unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit. Vereinzelte Berichte über gegen Kurden gerichtete Misshandlungen, unangemessene oder abfällige Behandlung oder über die Auferlegung von Mehrarbeit können deshalb nicht ohne weiteres als gezielte kurdenfeindliche Akte interpretiert werden. Jedenfalls gibt die geringe Zahl bekannt gewordener Belegfälle keinen Anlass zu der Annahme, Kurden würden während der Ableistung ihres Wehrdienstes in der türkischen Armee generell schlechter behandelt als nichtkurdische Soldaten und müssten in nennenswertem Umfang Maßnahmen hinnehmen, die über das beim türkischen Militär Übliche hinausgehen. Auch eine dem Wehrdienst vorausgegangene Bestrafung wegen Fahnenflucht oder Nichtantritts des Wehrdienstes beeinflusst den Charakter des Wehrdienstes nicht.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 28; Oberdiek, Gutachten vom 6. Juni 2004 an VG Weimar; Kaya, Gutachten vom 20. Juli 2004 an VG Weimar; Taylan, Gutachten vom 23. Juni 2001 an VG Saarlouis und Gutachten vom 12. Mai 2001 an VG Ansbach; Rumpf, Gutachten vom 23. Januar 2001 an VG Augsburg, S. 44.
Der Umstand, dass wehrpflichtige Kurden auch im Osten der Türkei eingesetzt werden, ist ebenfalls nicht asylerheblich. Hinweise darauf, dass sie gegen ihren Willen und in Anknüpfung an ihre ethnische Zugehörigkeit gezielt im Kampf gegen Kurden eingesetzt werden, sind in der jüngeren Vergangenheit nicht mehr bekannt geworden. Diesbezügliche Vorwürfe ließen sich auch in der Vergangenheit nicht bestätigen.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 57 ff.
Nach den vorliegenden Erkenntnissen werden Kurden bei der Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung nicht aufgrund ihres Volkstums in asylerheblicher Weise benachteiligt. In der Praxis verhängen die türkischen Militärstrafgerichte weit überwiegend - dies betrifft Kurden und nichtkurdische Wehrpflichtige - die Mindeststrafe, die nach den Regeln des allgemeinen Strafrechts häufig zusätzlich noch gemildert wird, insbesondere durch Umwandlung einer Freiheits- in eine Geldstrafe. Einer der Gründe für diese Strafzumessungspraxis dürfte in dem Umstand zu sehen sein, dass Wehrdienstentziehung ein Massendelikt geworden ist, das sich auch mit Hilfe exemplarisch strenger Bestrafung nicht eindämmen ließe. Entscheidend für das Strafmaß ist offenbar weder die ethnische Zugehörigkeit des Betroffenen noch eine Tatbegehung durch Flucht ins Ausland, sondern vielmehr die Frage, ob ein größerer Kreis von Personen durch die konkreten Tatumstände beeinflusst wurde oder nicht.
Rumpf, Gutachten vom 23. Januar 2001 an VG Augsburg, S. 44; Gutachten vom 20. März 1997 an OVG Mecklenburg-Vorpommern, S. 13 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 2. Juli 1999 an VG Kassel, S. 1; ähnlich Kaya, Gutachten vom 9. Februar 1998 an VG Kassel, S. 3; Taylan, Auskunft vom 23. Juni 2001 an VG Saarlouis; Nadire Mater, Mehmets Buch, 2001, S. 414.
Eine Wehrdienstverweigerung durch Flucht ins Ausland wird danach ohne weitere Verdachtsmomente auch nicht als Sympathie für separatistische Bestrebungen ausgelegt.
Ebenso Hessischer VGH, Urteil vom 29. November 2002 - 6 UE 2235/98.A -.
Es liegen auch keine Erkenntnisse darüber vor, dass Wehrpflichtige, die ihre Strafe wegen Wehrdienstentziehung oder Fahnenflucht verbüßen, misshandelt werden oder in der vorausgehenden Polizei- oder Militärhaft generell Folter zu erleiden haben. Das gilt sowohl dann, wenn sich ein Wehrdienstflüchtiger im Inland stellt oder er ergriffen wird, als auch insbesondere dann, wenn er bei der Einreise aus Deutschland von den Sicherheitsbeamten an der Grenze als solcher erkannt und festgenommen wird.
Kaya, Gutachten vom 20. Juli 2004 an VG Weimar; amnesty international, Gutachten vom 23. November 2000 an VG Augsburg; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 28.
Eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung oder Fahnenflucht ist auch nicht als politische Verfolgung zu qualifizieren, wenn die Betroffenen zur Teilnahme an völkerrechtswidrigen militärischen Operationen der türkischen Armee in Ostanatolien oder im Grenzgebiet zum Irak und zu Syrien gezwungen werden sollten. Insoweit kann offen bleiben, ob und inwieweit das militärische Vorgehen des türkischen Staates völkerrechtswidrig ist. Die zwangsweise Heranziehung zum Wehrdienst ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts unabhängig von der Motivation für die Wehrdienstentziehung des Betroffenen allein dann asylerheblich, wenn sie in Anknüpfung an ein in seiner Person vorliegendes asylerhebliches Merkmal erfolgt.
BVerwG, Beschluss vom 10. September 1999 - 9 B 7.99 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 216 m.w.N.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. Oktober 2000 - 5 A 4916/00.A -.
Aus demselben Grund ist auch die nach Art. 25c des türkischen Gesetzes Nr. 403 (Staatsangehörigkeitsgesetz) mögliche Ausbürgerung als Konsequenz einer Wehrdienstentziehung mit Flucht ins Ausland nicht als asylerhebliche Verfolgung zu betrachten. Eine Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal ist ebenso wenig wie bei der Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung erkennbar. Art. 25c des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes knüpft nach seiner objektiven Gerichtetheit nicht an asylerhebliche Persönlichkeitsmerkmale an. Er hebt weder auf die Ethnie noch auf die Religionszugehörigkeit oder gar auf politische Überzeugungen des Wehrpflichtigen ab. Zudem ist eine Wiedereinbürgerung nach türkischem Recht ohne Ausschlussfristen möglich, wenn der Betroffene erklärt, den Wehrdienst ableisten zu wollen. Innerhalb von zwei Jahren nach der Ausbürgerung ist eine Wiedereinbürgerung nach der Regelung über den Freikauf möglich.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 28; zur Ausbürgerung als Maßnahme politischer Verfolgung: BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 1995 - 9 C 3.95 -, NVwZ-RR 1996, 602 f. m.w.N.; Stiehl / Wenzl, Türkei: Ausbürgerung bei Wehrdienstentziehung, Der Einzelentscheider-Brief Heft 6/2000.
b. Alevitische Religionszugehörigkeit
Der Kläger muss auch wegen seiner alevitischen Religionszugehörigkeit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung befürchten. Auch wenn eine staatliche oder dem türkischen Staat zuzurechnende Gruppenverfolgung der Aleviten in Anknüpfung an ihre Religionszugehörigkeit derzeit in der Türkei nicht stattfindet (dazu oben A.IV.1.b.), kann nicht ausgeschlossen werden, dass es in der Türkei in Einzelfällen zu Übergriffen Dritter gegen Aleviten kommt; gelegentlich mag die Schutzbereitschaft des türkischen Staates zweifelhaft sein. Anlass zu näherer Prüfung besteht indes nur, wenn ein Asylsuchender im Einzelfall substantiiert vorträgt, ihm drohe bei einer Rückkehr in die Türkei eine derartige Gefahr, ohne dass ihm ein Ausweichen in andere Teile des Landes möglich wäre.
Der Kläger hat indes nichts dafür vorgetragen, dass in seinem Fall besondere Anhaltspunkte für eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bestehen.
c. Exilpolitische Betätigung
Dem Kläger droht in der Türkei auch keine politische Verfolgung wegen seiner exilpolitischen Aktivitäten im Bundesgebiet. Einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter können diese Aktivitäten ohnehin nur dann begründen, wenn der Kläger bereits in der Türkei eine feste politische Überzeugung erkennbar betätigt hat, als deren Fortsetzung sich die exilpolitischen Aktivitäten darstellen könnten (§ 28 Abs. 1 AsylVfG).
Darauf kommt es hier jedoch nicht an. Denn ungeachtet dessen ist der Kläger nicht gefährdet, weil seine exilpolitischen Aktivitäten - Veröffentlichung einer Gedenkanzeige in der Zeitung Özgür Politika aus Anlass des Todestages seines Bruders - als niedrig profiliert zu bewerten sind. Exilpolitische Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland begründen nämlich ein beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsrisiko für türkische Staatsangehörige im Allgemeinen nur, wenn sich der Betreffende politisch exponiert hat, wenn sich also seine Betätigung deutlich von derjenigen der breiten Masse abhebt.
Ebenso VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27. Juli 2001 - A 12 S 228/99 -; Bayerischer VGH, Beschluss vom 31. Juli 1997 - 11 BA 96.33483 -; OVG Berlin, Urteil vom 14. Oktober 2003 - 6 B 7.03 -; OVG Bremen, Urteil vom 13. Juni 2001 - 2 A 17/95.A -; OVG Hamburg, Urteil vom 1. September 1999 - 5 Bf 2/92 -; Hessischer VGH, Urteil vom 28. Mai 2001 - 12 UE 2104/99.A -; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. November 2001 - 3 L 9/95 -; OVG Niedersachsen, Urteil vom 11. Oktober 2000 - 2 L 4591/94 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 9. März 2001 - 10 A 11679/00.OVG -; OVG Sachsen, Urteil vom 27. Februar 1997 - A 4 S 434/96 -; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 8. November 2000 - A 3 S 657/98 -; OVG Saarland, Urteil vom 1. Dezember 2004 - 2 R 15/03 -, m.w.N.; OVG Thüringen, Urteil vom 29. Mai 2002 - 3 KO 540/97 -, AuAS 2003, 120 (LS); OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 26. Juni 2001 - 4 L 294/94 -; die Notwendigkeit einer Einzelfallprüfung bei bestimmten niedrig profilierten Tätigkeiten betont: OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 11. Juni 1999 - 10 A 1142/98.OVG -, S. 9 ff.
aa. Keine Gefährdung bei niedrig profilierter Tätigkeit
Für die Annahme, dass ein Verfolgungsinteresse seitens der Türkei nur bei exponierter exilpolitischer Tätigkeit besteht, sind mehrere Gründe maßgebend: Zum einen konzentriert sich die Aufklärungsarbeit türkischer Nachrichtendienste in Deutschland auf die Verfolgung von solchen exilpolitischen Betätigungen, die nach türkischem Recht strafbar sind; sie beschränkt sich - schon wegen der Vielzahl exilpolitischer Aktivitäten - auf den Personenkreis der exponiert Tätigen, da nur diese Zielgruppe als potenziell staatsgefährdend angesehen wird. Zum anderen sind in der jüngeren Vergangenheit keine Referenzfälle belegt, die eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine asylerhebliche Verfolgung und Bestrafung auch niedrig profilierter exilpolitischer Tätigkeiten nach einer Rückkehr in die Türkei nahelegen könnten.
Im Zuge des Reformprozesses und der Beruhigung der Sicherheitslage in der Türkei hat sich auch die Strategie in Bezug auf die Registrierung und Verfolgung exilpolitischer Aktivitäten gewandelt. Nach der aktuellen Erkenntnislage ist davon auszugehen, dass türkische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr oder Abschiebung nur dann ernsthaft gefährdet sind, längere Zeit festgehalten und unter Misshandlungen bis hin zur Folter verhört zu werden, wenn der Verdacht besteht, dass sie sich durch Aktivitäten im Ausland nach türkischem Recht strafbar gemacht haben, etwa weil ihre Aktivitäten als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen gewertet werden. Falls ein Asylbewerber den in Deutschland operierenden Diensten durch exilpolitische Betätigungen niedrigen Profils aufgefallen und diese registriert worden sein sollten, ist es zwar möglich, dass er bei einer Wiedereinreise in die Türkei verhört wird; das Verhör kann mitunter einige Stunden dauern. Mit darüber hinaus gehenden Maßnahmen, insbesondere Misshandlungen, muss er aber nur bei dem Verdacht strafbaren Handelns rechnen.
Kaya, Gutachten vom 24. April 2003 an VG Wiesbaden, vom 15. September 2003 an VG Stuttgart und vom 23. Juni 2004 an VG Greifswald; Taylan, Gutachten vom 26. Juni 2004 an VG Frankfurt/Oder; vgl. auch Auswärtiges Amt, Auskunft vom 16. Mai 2003 an VG Wiesbaden und Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 31.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach türkischem Recht nur bestimmte im Ausland begangene Verstöße gegen das türkische Strafgesetzbuch verfolgt werden, nämlich insbesondere Verbrechen gegen die "Persönlichkeit des türkischen Staates" (Art. 125 bis 173 tStGB); Verstöße gegen das Antiterrorgesetz zählen dazu beispielsweise nicht. Die Liberalisierung des Meinungsstrafrechts wirkt sich in diesem Zusammenhang grundsätzlich positiv aus, auch wenn der Verdacht einer strafbaren Unterstützung militanter Organisationen, insbesondere der PKK und ihrer Nachfolgeorganisationen, wie oben bereits ausgeführt (A.IV.1.a.ee.), nach wie vor leicht entstehen kann.
Tellenbach, Gutachten vom 17. April 2004 an VG Stuttgart; Aydin, Gutachten vom 20. Mai 2004 an VG Greifswald; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 31.
Die türkischen Sicherheitskräfte überwachen die exilpolitischen Aktivitäten türkischer Staatsangehöriger in Deutschland nach wie vor mit hoher Aufmerksamkeit, weil alle maßgeblichen oppositionellen Bewegungen sowohl der extremen Rechten als auch der radikalen Linken und der kurdischen Separatisten von deutschem Boden aus - vor allem über international verfügbare Medien - auf die türkische Innenpolitik Einfluss zu nehmen versuchen. Auch die extremistischen türkischen politischen Gruppierungen finden unter den mehr als 2,5 Mio. türkischen Staatsbürgern oder türkisch-stämmigen Bürgern in Deutschland ein beachtliches Potenzial für die Rekrutierung neuer Mitglieder. Die wichtigste Organisation zur Überwachung der Exilszene ist der unter militärischer Leitung stehende Nationale Nachrichtendienst der Türkei (Milli Istihbarat Teskilati = MIT), der im gesamten Bundesgebiet eigene Dienststellen unterhält, die ihren Sitz an Generalkonsulaten haben und deren hauptamtliche Mitarbeiter dort als Attachés akkreditiert sind. Er verfügt darüber hinaus über Gewährsleute, die in die türkischen und kurdischen Auslandsorganisationen in Deutschland eingeschleust sind oder die beruflichen Kontakt zu Landsleuten haben. Schließlich erfolgt die Nachrichtenbeschaffung durch Auswertung von Bildmaterial und Publikationen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass der MIT an allen staatsfeindlichen Aktivitäten türkischer Staatsangehöriger in Deutschland interessiert ist, aber schon aus Kapazitätsgründen eine Identifizierung und gezielte Sammlung und Zuordnung von Beweismaterial nur für den Kreis exponierter Exilpolitiker vornehmen kann. Die Aufgabe eingeschleuster Gewährsleute besteht darin, Vereinsaktivitäten zu beobachten, die daran teilnehmenden Personen zu identifizieren und die gesammelten Informationen an die Geheimdienstmitarbeiter in den Konsulaten weiterzuleiten. Auch die kurdischen Satellitensender Med-TV und nachfolgend Medya-TV bzw. Roj-TV unterliegen einer umfassenden Überwachung.
Dazu und zum Folgenden Bundesministerium des Innern, Auskunft vom 27. September 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; Aydin, Gutachten vom 20. Mai 2004 an VG Greifswald; Oberdiek, Gutachten vom 25. April 2004 an VG Greifswald; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 10. April 2001 an VG Schleswig, Auskunft vom 16. Mai 2003 an VG Wiesbaden; Kaya, Gutachten vom 18. März 1998 an VG Frankfurt (Oder), S. 2; Gutachten vom 5. Mai 2001 an VG Schleswig; Gutachten vom 24. April an VG Wiesbaden; Innenministerium Schleswig-Holstein; Auskunft vom 23. Februar 2001 an VG Schleswig; Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen für 2001, 2002, S. 164; Verfassungsschutzbericht des Bundes für 2001, 2002, S. 246.
Nicht realitätsgerecht wäre indessen die Annahme einer lückenlosen Erfassung aller exilpolitischen Aktivitäten in Deutschland. Schon aus praktischen Gründen ist es ausgeschlossen, etwa bei Großveranstaltungen, in welchen der Einzelne in der anonymen Masse untertaucht, auch nur den überwiegenden Teil der Veranstaltungsbesucher in einer Weise zu observieren und zu identifizieren, die einen strafrechtlichen oder auch nur einen polizeilichen Zugriff im Rückkehrfall ermöglicht. Der dafür erforderliche Ermittlungsaufwand stünde außer Verhältnis zu dem zu erwartenden Ermittlungserfolg. Selbst wenn von solchen Veranstaltungen in der Presse Fotos erscheinen, auf welchen einzelne Teilnehmer erkennbar sind, ist ein Rückschluss auf die Identität der Betreffenden nicht oder nur unter Einsatz zusätzlichen, in der Regel unverhältnismäßigen Ermittlungsaufwandes möglich. Gleiches gilt, soweit etwa Protestaktionen vor türkischen Auslandsvertretungen gefilmt werden. Eine persönliche Zuordnung ist selbst dann sehr aufwändig, wenn in einem Bericht Vor- und Zuname des Betreffenden sowie sein Aufenthaltsort in Deutschland erwähnt sind.
Nur wer politische Ideen und Strategien entwickelt oder zu deren Umsetzung mit Worten oder Taten von Deutschland aus maßgeblichen Einfluss auf die türkische Innenpolitik und insbesondere auf seine in Deutschland lebenden Landsleute zu nehmen versucht, ist aus der maßgeblichen Sicht des türkischen Staates ein ernst zu nehmender politischer Gegner, den es zu bekämpfen gilt. Das ist beispielsweise bei denjenigen exilpolitisch tätigen Asylsuchenden anzunehmen, die in der exilpolitischen Arbeit eine auf Breitenwirkung zielende Meinungsführerschaft übernehmen und erkennbar ausüben, kann aber auch auf Aktivitäten im organisatorischen Bereich zutreffen, die sich - wie die Beschaffung der finanziellen Grundlagen der politischen Arbeit oder wie die Planung politischer Strategien - nicht unmittelbar und nach außen gerichtet verbal äußern. Dem türkischen Staat kommt es weniger darauf an, jeder einzelnen Person habhaft zu werden, die Äußerungen abgibt oder Aktivitäten zeigt, die nach türkischem Verständnis zu missbilligen sind, sondern es sollen diejenigen beobachtet und bestraft werden, die zu solchen Äußerungen und entsprechenden Aktivitäten anstiften und sie öffentlichkeitswirksam organisieren.
Die Gefahr einer politischen Verfolgung wegen exilpolitischer Aktivitäten setzt allerdings nicht voraus, dass gegen den Betroffenen in der Türkei schon ein Ermittlungsverfahren anhängig ist oder nach ihm gefahndet wird. In der Praxis wird nämlich üblicherweise gegen Tatverdächtige, die sich im Ausland aufhalten, kein (förmliches) Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Kaya, Gutachten vom 23. Juni 2004 an VG Greifswald; vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29. Mai 2001 - 8 A 1017/01.A -.
Nicht beachtlich wahrscheinlich zu politischer Verfolgung führen demgegenüber exilpolitische Aktivitäten niedrigen Profils. Dazu gehören alle Tätigkeiten von untergeordneter Bedeutung. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass der Beitrag des Einzelnen entweder - wie bei Großveranstaltungen - kaum sichtbar oder zwar noch individualisierbar ist, aber hinter den zahllosen deckungsgleichen Beiträgen anderer Personen zurücktritt. Derartige Aktivitäten sind ein Massenphänomen, bei denen die Beteiligten ganz überwiegend nur die Kulisse abgeben für die eigentlich agierenden Wortführer.
Einer gezielten Sammlung von Informationen nicht ausgesetzt sind nach den verfügbaren Quellen die einfachen Mitglieder der in Deutschland aktiven Organisationen, ebenso wenig diejenigen, die solche Organisationen aufsuchen oder sich an ihren Demonstrationen, Kundgebungen und anderen Massenaktionen beteiligen. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass im Einzelfall exilpolitische Aktivitäten niedrigen Profils türkischen Stellen bekannt werden, etwa wenn Geheimdienstmitarbeiter selbst an Veranstaltungen oder Vereinsaktivitäten teilnehmen und dabei von der Identität anderer Teilnehmer erfahren. Auch dieser Umstand gebietet es jedoch nicht, das durch untergeordnete Aktivitäten der beschriebenen Art ausgelöste Verfolgungsrisiko unabhängig vom Vorliegen derartiger Besonderheiten im Einzelfall allgemein als beachtlich wahrscheinlich einzustufen.
Neben den bereits genannten Quellen: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl, Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes MIT in Deutschland, August 2000; Rumpf, Gutachten vom 29. Dezember 1997 an VG Augsburg, S. 16; Kaya, Gutachten vom 18. März 1998 an VG Frankfurt/Oder, S. 2, 6, und vom 23. Juni 2004 an VG Greifswald.
Zu den exilpolitischen Aktivitäten niedrigen Profils zählen auch die mit einer schlichten Vereinsmitgliedschaft verbundene regelmäßige Zahlung von Mitgliedsbeiträgen sowie von Spenden, schlichte Teilnahme an Demonstrationen, Hungerstreiks, Autobahnblockaden, Informationsveranstaltungen oder Schulungsseminaren, Verteilung von Flugblättern und Verkauf von Zeitschriften, Platzierung von namentlich gezeichneten Artikeln und Leserbriefen in türkischsprachigen Zeitschriften (siehe dazu auch A.IV.2.c.bb.).
Auch eine Vielzahl für sich genommen niedrig profilierter exilpolitischer Aktivitäten kann diese nicht asyl- oder abschiebungsschutzrechtlich erheblich machen, weil kein Anlass für die Annahme besteht, dass insoweit quantitative in qualitative Gesichtspunkte umschlagen können. In jüngerer Zeit sind keine Vorfälle mehr bekannt geworden, die eine derartige Annahme nahe legen könnten.
Ferner rechtfertigt der nach Art. 22 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen (EuRHÜbk) vom 20. April 1959 (BGBl. 1964 II S. 1369, 1386; 1976 II S. 1799) praktizierte gegenseitige Strafnachrichtenaustausch nicht die Annahme, dass niedrig profilierte exilpolitische Tätigkeiten in Deutschland zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit asylerheblicher Verfolgung nach der Rückkehr in die Türkei führen. Namentlich ist nicht davon auszugehen, dass türkische Staatsangehörige allein deshalb einem höheren Verfolgungsrisiko ausgesetzt sind, weil sie wegen einer auf deutschem Boden begangenen Straftat mit exilpolitischem Hintergrund durch ein deutsches Strafgericht verurteilt worden sind. Allerdings gibt das Bundesministerium der Justiz in diesen Fällen dem türkischen Justizministerium die entscheidenden im Bundeszentralregister eingetragenen Daten (persönliche Daten des Betroffenen, Urteils- und Tatzeit, Gerichtsbezeichnung, Aktenzeichen, Tatbezeichnung, Rechtsgrundlage, Art und Höhe der Strafe) bekannt; diese Daten werden von der Generalsicherheitsdirektion in Ankara erfasst und die örtlich zuständige Polizeibehörde wird benachrichtigt. Wenn die türkische Seite jedoch nach Art. 4 des Zusatzprotokolls zum EuRHÜbk vom 17. März 1978 (BGBl. 1990 II S. 124, 125; 1991 II S. 909) um die Übermittlung zusätzlicher Informationen (Urteilsabschriften usw.) ersucht, wird dieses Ersuchen nach der Praxis der Bundesregierung in den hier in Rede stehenden Fällen nach Art. 2 Buchst. a) EuRHÜbk abgelehnt, weil es sich auf eine strafbare Handlung bezieht, die vom ersuchenden Staat als politische Straftat angesehen wird. Möglich ist auch, dass vor der Versendung des Urteils - politisch - belastende Passagen unkenntlich gemacht werden. Ähnlich wird verfahren, soweit die türkische Seite auf kriminalpolizeilicher Ebene um Auskunft ersucht. Wird ein politischer Hintergrund der dem Ersuchen zugrundeliegenden Straftat erkennbar, erteilt das Bundeskriminalamt keine Auskunft oder nur nach Rücksprache mit dem Bundesministerium der Justiz.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 15. Mai 1998 an VG Freiburg, S. 1; Bundesministerium der Justiz, Auskünfte vom 8. August 1997 und vom 11. Dezember 1997 an VG Gießen; Auskunft vom 26. Februar 1998 an VG Köln; Auskunft vom 22. Mai 1998 an VG Freiburg; Generalbundesanwalt, Auskunft vom 27. Juni 1997 an VG Gießen; Auskunft vom 16. April 1998 an VG Freiburg, S. 2 f.; Bundeskriminalamt, Auskunft vom 17. März 1998 an VG Berlin. Vgl. auch Senatsbeschluss vom 31. März 1998 - 25 A 5198/96.A -, NVwZ-Beilage 9/1998, 93; zur Beschränkung auf Eintragungen im Bundeszentralregister (nicht Erziehungsregister) vgl. OVG Berlin, Urteil vom 20. November 2003 - 6 B 11.03 -.
Das Verhalten der türkischen Seite beim Austausch von Strafnachrichten deutet darauf hin, dass sie kein Interesse an der Verfolgung niedrig profilierter exilpolitischer Aktivitäten hat; eine niedrig profilierte exilpolitische Betätigung erlangt nicht allein deshalb ein die Schwelle der Exponiertheit überschreitendes Gewicht, weil sie der Türkei im Wege des Strafnachrichtenaustauschs bekannt werden kann. Die türkischen Stellen bringen dem Strafnachrichtenaustausch bei politischen Delikten ohnehin nur vergleichsweise geringes Interesse entgegen. Es ist davon auszugehen, dass die anderweitigen Erkenntnismöglichkeiten (Spitzel vor Ort, Auswertung von Presse und Fernsehen) einen erheblich unbürokratischeren Zugang zu den unter Staatsschutzgesichtspunkten interessanten Informationen erlauben. Denn der Strafnachrichtenaustausch ist als Informationsquelle selbst dann nicht sonderlich ergiebig, wenn der exilpolitische Hintergrund aus der übermittelten Strafnachricht ersichtlich oder zumindest der Schluss auf einen derartigen Hintergrund nahe liegend ist (z. B. Verstoß gegen das Versammlungsgesetz, Landfriedensbruch), weil neben dem Tatdatum lediglich die abstrakte Deliktsbezeichnung angegeben ist, die einen Aufschluss über die staatsschutzbezogene Gefährlichkeit der Tathandlung nicht erlaubt.
Ebenso OVG Thüringen, Urteil vom 29. Mai 2002 - 3 KO 540/97 -, AuAS 2003, 120 (kein beachtliches Verfolgungsrisiko bei Bestrafung wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz, hier: Geldstrafe von 10 Tagessätzen); anders OVG Thüringen, Urteil vom 18. Dezember 2003 - 3 KO 275/01 -, S. 22 ff. (schon die abstrakte Deliktsbezeichnung eines Verstoßes gegen das Vereinsgesetz soll nahe legen, dass der abgeurteilten Tat Aktivitäten für die PKK zugrunde liegen).
Einen derartigen Aufschluss könnten allenfalls Bestandteile der Strafakten (Anklageschrift, Urteil) liefern, die jedoch von der türkischen Seite in Fällen mit exilpolitischem Hintergrund offenbar häufig gar nicht erst angefordert werden, weil die Erfolglosigkeit eines derartigen Ersuchens wegen des Ablehnungsrechts nach Art. 2 Buchst. a) EuRHÜbk auf der Hand liegt. Anhaltspunkte dafür, dass die Vorgehensweise der türkischen Behörden sich in neuerer Zeit insofern geändert haben könnte, sind nicht ersichtlich.
Im übrigen gibt es keine stichhaltigen Belege für eine allein durch niedrigprofilierte exilpolitische Aktivitäten in Deutschland ausgelöste Strafverfolgung in der Türkei. Eine konsequente Aufklärung und strafrechtliche Verfolgung aller exilpolitischen Aktivitäten in Deutschland würde die Ermittlungsbehörden angesichts der in die Hunderttausende gehenden Zahl von solchermaßen tätigen Personen ebenso überfordern wie eine lückenlose Überwachung dieser Tätigkeiten; eine aussagekräftige Zahl von Entscheidungen türkischer Gerichte über die Strafbarkeit derartiger niedrig profilierter Aktivitäten liegt nicht vor.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20. März 2002, S. 33; Rumpf, Gutachten vom 29. Dezember 1997 an VG Augsburg, S. 65. Zur Anwendbarkeit türkischen Strafrechts auf (in Deutschland begangene) Auslandstaten Rumpf, Gutachten vom 12. Januar 1999 an VG Berlin, S. 14 ff. (35 ff.); Tellenbach, Gutachten vom 17. April 2004 an VG Stuttgart; Aydin, Gutachten vom 20. Mai 2004 an VG Greifswald.
Eine Gefährdung von Asylsuchenden, die in Deutschland niedrig profiliert exilpolitisch tätig gewesen sind, lässt sich auch aus dem deutsch-türkischen Briefwechsel vom 10. März 1995 nicht ableiten. Der Briefwechsel betraf türkische Staatsangehörige, "die sich an Straftaten im Zusammenhang mit der PKK und anderen Terrororganisationen in der Bundesrepublik Deutschland beteiligt haben". Abgesehen davon, dass die meisten niedrig profilierten exilpolitischen Aktivitäten ohnehin nicht erfasst sein dürften, wird das in dem Briefwechsel vorgesehene Verfahren, das auch in der Vergangenheit eher selten zur Anwendung kam, inzwischen nicht mehr praktiziert.
Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 19. Mai 2004, S. 45, vom 12. August 2003, S. 53, und vom 20. März 2002, S. 44.
Bestätigt wird die Annahme fehlenden Verfolgungsinteresses bei niedrigprofilierten exilpolitischen Aktivitäten dadurch, dass es aus jüngerer Zeit keine Berichte über Misshandlungen von Rückkehrern oder Abgeschobenen gibt, die in Deutschland politische Aktivitäten entfaltet haben.
Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004, Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24. November 2004, amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004, jeweils an OVG Nordrhein-Westfalen.
Diese Feststellung ist deshalb aussagekräftig, weil sich regelmäßig Tausende von Personen an niedrig profilierten exilpolitischen Veranstaltungen aller Art beteiligen, dabei gefilmt und fotografiert werden bzw. mit Bild in der Presse erscheinen, so dass angesichts der hohen Zahlen von Abschiebungen auch erfolgloser Asylbewerber in die Türkei - jährlich etwa 4.000 bis 6.000 - mit einer signifikanten Vielzahl von Referenzfällen zu rechnen wäre, wenn - anders als in der Rechtsprechung angenommen - schon eine niedrig profilierte exilpolitische Betätigung zu einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit führen würde. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass zahlreiche niedrig profilierte exilpolitische Aktivitäten aus der Sicht des türkischen Staates ungefährlich sind, weil sie erkennbar nur der Förderung laufender Asylverfahren dienen; diese Annahme liegt insbesondere dann nahe, wenn die betreffenden Asylsuchenden ihre politische Tätigkeit nach ihrer Rückkehr in die Türkei nicht fortsetzen.
Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 20. März 2002, S. 44, und vom 12. August 2003, S. 53 f.; Auskunft vom 29. Oktober 1997 an VG Weimar, S. 2; Auskunft vom 22. Dezember 1998 an VG Sigmaringen, S. 1 ff., Dokumentation zu mehreren Abschiebungsfällen; Auskunft vom 13. März 1997 an VG Hamburg, S. 2; Auskunft vom 13. März 1997 an VG Aachen, S. 2; Oberdiek, Gutachten vom 22. September 1998 an VG Sigmaringen, S. 1 ff., 34 ff.; Kaya, Gutachten vom 18. März 1998 an VG Frankfurt/Oder, S. 2, 5 f.; Rumpf, Gutachten vom 22. Januar 1997 an VG Bremen, S. 6; Taylan, Gutachten vom 25. Februar 1996 an VG Neustadt an der Weinstraße.
bb. Einzelne Tätigkeitsbereiche
Für die einzelnen Bereiche exilpolitischer Betätigung in der Bundesrepublik Deutschland ergibt sich danach Folgendes:
Eine exponierte exilpolitische Tätigkeit im Zusammenhang mit öffentlichen Veranstaltungen liegt vor, wenn der Asylsuchende bestimmenden Einfluss auf Zeitpunkt, Ort, Ablauf oder - vor allem - auf den politischen Inhalt der Veranstaltung hat, also in den Augen der türkischen Sicherheitskräfte in der Rolle des "Aufwieglers" und Anstifters zum Separatismus agiert. Dies ist etwa anzunehmen für Leiter von größeren und öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen und Protestaktionen sowie Redner auf solchen Veranstaltungen, nicht aber schon für denjenigen, der bei der Anmeldung gegenüber der deutschen Polizei rein formell als Versammlungsleiter aufgeführt ist. Als exponiert können ggf. auch Personen einzustufen sein, die zwar nicht unmittelbar durch politische Reden auf derartigen Veranstaltungen für kurdische Positionen werben, die aber eine hervorgehobene Tätigkeit etwa in einer kurdischen Folkloregruppe ausüben; dabei kommt es auf Größe und Bekanntheitsgrad dieser Gruppe, die Stellung des Betreffenden in ihr und vor allem den politischen Inhalt ihrer Lieder an.
Zum letztgenannten Aspekt Kaya, Gutachten vom 16. Juni 1998, S. 16 f., und vom 15. September 2003, jeweils an VG Stuttgart; vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27. Juli 2001 - A 12 S 228/99 -.
Nicht verfolgungsgefährdet sind demgegenüber die einfachen Teilnehmer an exilpolitischen Veranstaltungen sowie diejenigen, die dabei Hilfsaufgaben wahrnehmen (Ordner, Zeitschriftenverkäufer, Betreuer von Büchertischen, Flugblattverteiler usw.); denn das politische Gewicht dieser Tätigkeiten ist gering. Das gleiche gilt für eine schlichte Teilnahme an Demonstrationen, Hungerstreiks, Autobahnblockaden, Informationsveranstaltungen oder Schulungsseminaren.
Nach denselben Grundsätzen ist auch die Teilnahme an einem (Wander-) Kirchenasyl zu bewerten. Den türkischen Behörden ist bekannt, dass viele türkische Staatsbürger aus wirtschaftlichen Gründen mit dem Mittel der Asylantragstellung versuchen, in Deutschland ein Aufenthaltsrecht zu erlangen. Sie wissen, dass der Weg vor allem über die Behauptung politischer Verfolgung führt. Nur weil der Betroffene in Deutschland um politisches Asyl gebeten hat, wird er nicht staatlichen Repressionen ausgesetzt. Das hat auch für das (Wander-) Kirchenasyl zu gelten, das von den Beteiligten vielfach als letztes Mittel eingesetzt wird, der drohenden Abschiebung nach erfolglosem Asylverfahren zu entgehen. Ein hohes und eine Gefährdung der Betroffenen begründendes politisches Gewicht kommt der Teilnahme am (Wander-) Kirchenasyl auch nicht unabhängig von den Umständen des Einzelfalles allein deshalb zu, weil ein Asylbewerber im Rahmen einer Fernsehsendung - sei es bei einem deutschen Fernsehsender, sei es bei MED-TV, Medya-TV oder nunmehr Roj-TV - zu Wort gekommen ist.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24. Juli 2001, S. 24, 36; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25. November 1998 - 25 A 5031/98.A -; noch stärker einschränkend: OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 9. März 2001 - 10 A 11679/00.OVG -; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 26. Juni 2000 an VG Neustadt; ad-hoc-Bericht vom 30. November 2000; die gegenteilige Ansicht von Kaya, Gutachten vom 22. Mai 1999 an VG Gießen, S. 2 f., zu einem Hungerstreik in der Dortmunder Petri-Kirche beruht auf bloßen Vermutungen; zu den mit dem Kirchenasyl zusammenhängenden Rechtsfragen Baldus, NVwZ 1999, 716 ff. und Fessler, NWVBl. 1999, S. 449 ff. m.w.N.
Als exilpolitisch exponiert ist regelmäßig das Auftreten in Rundfunk- und Fernsehsendungen einzustufen, wenn der Inhalt des jeweils betroffenen Beitrags nach türkischem Strafrecht strafbar und geeignet sein kann, auf die öffentliche Meinung Einfluss zu nehmen, vor allem, wenn er als Anstiftung einer breiten Öffentlichkeit zu separatistischen Handlungen gewertet werden kann. Typischerweise betroffen hiervon sind prominente kurdische Parteifunktionäre, Parlamentsabgeordnete, Schriftsteller oder sonstige vergleichbare Intellektuelle, deren Äußerungen in Gesprächsrunden oder ähnlichen Sendungen als Beweis für Beziehungen zur PKK oder ähnlichen Bestrebungen angesehen werden. Solange der Sender in Deutschland bzw. Europa legal tätig ist, ist die bloße Teilnahme an dessen Programmen, etwa durch Aufführung von Musik, Vortragen von Liedern und Gedichten, allerdings nicht strafbar und löst auch ohne weiteres keine Verfolgungsgefahr aus. Maßgeblich sind auch insofern der politische Inhalt und das Gewicht der Beiträge. Allein die Verwendung des Begriffs "Märtyrer" für getötete Personen reicht hierzu beispielsweise nicht aus. Erkenntnisse über eine Strafverfolgung von Interpreten kurdischer Lieder und Gedichte ohne herausgehobenes politisches Gewicht liegen nicht vor. Nicht verfolgungsgefährdet sind auch bei Fernsehsendungen diejenigen Personen, die nur die Kulisse abgeben für die eigentlich Agierenden, also insbesondere diejenigen, die sich lediglich als Zuschauer in einem Wortbeitrag in MED-TV bzw. einem Nachfolgesender pro-kurdisch äußern oder bei einer Fernsehdiskussion nur als im Studio anwesende Zuschauer ins Bild kommen. Bei Personen, die nicht selbst mit einem eigenen Redebeitrag zu Wort kommen, sondern nur Gegenstand der Berichterstattung durch andere sind, hängt die Verfolgungsgefährdung vom Inhalt des Berichteten ab. Sie ist nur zu bejahen, wenn über eine exponierte exilpolitische Aktivität in einer Weise berichtet wird, die hinreichende konkrete tatsächliche Anknüpfungspunkte für eine Strafverfolgung erkennen lässt.
Vgl. Kaya, Gutachten vom 24. April 2003 an VG Wiesbaden und vom 23. Juni 2004 an VG Greifswald; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 16. Mai 2003 an VG Wiesbaden; Tellenbach, Gutachten vom 1. Juli 2003 an VG Wiesbaden; Rumpf, Gutachten vom 7. September 1999 an VG Oldenburg; Gutachten vom 22. Oktober 1998 an VG Stuttgart, S. 28 ff.; zur Verurteilung des stellvertretenden HADEP-Vorsitzenden Satan auf Grund einer Podiumsdiskussion bei MED-TV: Gutachten vom 20. Februar 1998 an VG Gelsenkirchen, S. 4.
Die exilpolitische Betätigung durch namentlich gezeichnete Zeitungsartikel, Zeitungsannoncen und Leserbriefe, durch individuelle Schreiben an Konsulate oder türkische Behörden sowie durch Selbstbezichtigungsschreiben im Rahmen der so genannten "Identitätskampagne" der PKK ist nach denselben Maßstäben zu beurteilen. Nicht über jeden, der jemals einen Artikel verfasst oder sonst eine Stellungnahme abgegeben hat, werden Informationen gesammelt. Derartige Aktivitäten gehören in der Regel zu den exilpolitischen Aktivitäten niedrigen Profils, weil es sich hierbei um eine Massenerscheinung handelt, die nur in Ausnahmefällen als Anstiftung zu konkreten separatistischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen und damit als Gefahr für die Sicherheit des Staates gewertet werden können. Dies gilt etwa für Proteste gegen die Verhaftung kurdischer Politiker, das brutale Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte oder das Verbot von Publikationen, aber auch für kollektive oder individuelle Sympathiekundgebungen für kurdische Organisationen oder für die Verweigerung des Wehrdienstes unter Hinweis auf den "schmutzigen Krieg" in Anatolien. Die Schwelle zu einer geistigen Beeinflussung anderer Bevölkerungsteile, die Abgrenzungskriterium bei der Überwachung und Verfolgung exilpolitischer Aktivitäten in der Bundesrepublik ist, wird nur von demjenigen überschritten, der als Auslöser solcher Aktivitäten, als Organisator von Veranstaltungen, als Anstifter, Aufwiegler oder wertvoller Informant angesehen wird. Dies kann der Fall sein, wenn eine Publikation die Vermutung nahelegt, der Verfasser verfüge über besondere Kenntnisse der exilpolitischen Szene, über hervorgehobene Autorität bei den Adressaten der Publikation - wenn er beispielsweise ein ständiger und beliebter Kolumnist einer Zeitung ist - oder beabsichtige mit Hilfe der Publikation, eine Kampagne anzustoßen oder zu lenken.
Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24. August 2001 an VG Sigmaringen; Auskünfte vom 1. März 2001, 10. April und 21. September 2001 an VG Schleswig; Auskunft vom 4. Juni 1999 an VG Bremen; Auskunft vom 15. Juli 1997 an VG Karlsruhe; Auskunft vom 12. September 1997 an VG Ansbach; Zentrum für Türkeistudien, Gutachten von September 2001 und Auskunft vom 1. November 2001 an VG Schleswig; Oberdiek, Gutachten vom 28. Mai 2001 an VG Sigmaringen; Kaya, Gutachten vom 5. Dezember 2003 an VG Berlin.
Aus diesem Grund ist auch die bloße Unterzeichnung einer im Rahmen der "Identitätskampagne" oder "Zweiten Friedensinitiative" der PKK verfassten Erklärung "Auch ich bin ein PKK'ler" nicht als exponierte exilpolitische Aktivität einzustufen, auch wenn dem Wortlaut der Erklärung eine Identifikation mit den Zielen der PKK zu entnehmen ist.
Ebenso OVG Saarland, Urteil vom 1. Dezember 2004 - 2 R 15/03 -, S. 14; vgl. auch Kaya, Gutachten vom 15. September 2003 an VG Stuttgart; Tellenbach, Gutachten vom 17. April 2004 an VG Stuttgart.
Gefährdet sind auch hier nur die Initiatoren dieser Kampagne; in der Bundesrepublik Deutschland sind 52.482 derartige Erklärungen abgegeben worden, europaweit sollen es über 120.000 sein.
Zur "Identitätskampagne" der PKK: Kaya, Gutachten vom 15. September 2003 an VG Stuttgart; Oberdiek, Gutachten vom 4. Oktober 2001 an VG Greifswald; Innenministerium Nordrhein-Westfalen, Auskunft vom 30. Oktober 2001 an OVG Nordrhein-Westfalen; Bundesamt für Verfassungsschutz, Auskunft vom 23. April 2002 an OVG Nordrhein-Westfalen; Kurdistan-Rundbrief Nr. 18/01 vom 14. September 2001; Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen für 2001, S. 166; Verfassungsschutzbericht des Bundes für 2001, S. 245; VG Stuttgart, Beschluss vom 7. September 2001 - A 18 K 11954/01 -. Zu einer vergleichbaren Selbstbezichtigung vgl. noch Auswärtiges Amt, Auskunft vom 23. Juni 1998.
Auch die Abgabe einer sog. Autorenbescheinigung, die der Entlastung des Herausgebers einer in der Türkei erschienenen Zeitschrift von der Verantwortlichkeit für einen anonym oder unter falschem Namen veröffentlichten Artikel dient, begründet kein beachtliches Verfolgungsinteresse. Nach den vorliegenden Erkenntnissen ist es in keinem derartigen Fall zur Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gekommen. Ein Grund hierfür dürfte auch darin zu sehen sein, dass die Staatsanwaltschaften annehmen, der benannte Autor stelle nur seinen Namen zur Verfügung, ohne den strafrechtlich relevanten Artikel tatsächlich verfasst zu haben.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 4. Mai 2004 an VG Aachen; zur Verantwortlichkeit für Presseveröffentlichungen: Kaya, Gutachten vom 22. November 2004 an VG Frankfurt/Main.
Die Mitgliedschaft in einer nach deutschem Recht legalen Exilorganisation ist für sich genommen nach türkischem Recht nicht strafbar. Die mit der Vereinsmitgliedschaft verbundene regelmäßige Zahlung von Mitgliedsbeiträgen sowie von Spenden löst daher keine Verfolgungsgefahr aus, selbst wenn die finanziellen Zuwendungen trotz insgesamt in Deutschland nachlassender Spendenbereitschaft - vgl. zu Spenden für die PKK Verfassungsschutzbericht NRW für 2003, S. 180 f. - zum Teil nicht unerheblich sein mögen.
Anderes gilt nur dann, wenn die konkreten Aktivitäten eines Vereinsmitgliedes den Verdacht einer Straftat begründen, etwa wegen tatsächlicher oder vermuteter Verbindungen zur PKK oder wegen einer Meinungsäußerung, die nach den dargestellten Maßstäben und aus der Sicht des türkischen Staates eine Einflussnahme auf die türkische Innenpolitik darstellt. Ob dies der Fall ist, hängt im wesentlichen davon ab, welche politischen Ziele die jeweilige Exilorganisation verfolgt und welche Stellung der Asylsuchende dort innehat. Im Blickpunkt der türkischen Sicherheitskräfte stehen vor allem diejenigen exilpolitischen Vereinigungen, die als von der PKK bzw. ihren Nachfolgeorganisationen dominiert oder beeinflusst gelten oder die von türkischer Seite als vergleichbar militant staatsfeindlich eingestuft werden. Dazu sind insbesondere Vereine zu zählen, die der in der Türkei illegalen und als terroristisch eingestuften TKP/ML sowie deren Unterorganisationen wie etwa der ATIF (Föderation türkischer Arbeitervereine in Deutschland) zuzurechnen sind. Dasselbe gilt für die Mitglieder oder Delegierten des von 1995 bis 1999 bestehenden kurdischen Exilparlaments in Brüssel bzw. des seit 1999 bestehenden kurdischen Nationalkongresses, aus dessen Reihen etwa der erste Vorsitzende des KONGRA-GEL, Zübeyir Aydar, stammt.
Verfassungsschutzbericht NRW für 2003, S. 174.
Ferner kommen die in den Verfassungsschutzberichten des Bundes bzw. der Länder oder die in behördlichen Auskünften als extremistisch eingeschätzten Gruppen in Betracht.
Ein Verfolgungsinteresse des türkischen Staates besteht indes nicht im Hinblick auf jedes Mitglied einer derartigen Exilorganisation in gleicher Weise, sondern nur in Bezug auf Mitglieder, die eine politische Meinungsführerschaft übernommen haben. Das kann bei Vorstandsmitgliedern eingetragener Vereine einer derartigen Ausrichtung der Fall sein. Deren Gefährdung ergibt sich allerdings nicht bereits daraus, dass sie in das jedermann zur Einsichtnahme offen stehende Vereinsregister eingetragen sind. Aktuelle Erkenntnisse darüber, dass Mitarbeiter der türkischen Nachrichtendienste in nennenswertem Umfang die Vereinsregister einsehen, liegen nicht vor.
Bundesministerium des Innern, Auskunft vom 27. September 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Vielmehr spricht alles dafür, dass die Intensität, mit der einzelne Mitglieder von Exilorganisationen beobachtet werden, nicht von ihrer formalen Funktion in der Organisation, sondern von Art und Gewicht der politischen Betätigung abhängt. Es ist deshalb in allen Fällen - auch bei Vorstandsmitgliedern - im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu ermitteln, ob sich der Betreffende in so hinreichendem Maße als Ideenträger oder Initiator im Rahmen von aus türkischer Sicht staatsgefährdenden Bestrebungen hervorgetan hat, dass von einem Verfolgungsinteresse des türkischen Staates auszugehen ist. Im Rahmen dieser Gesamtwürdigung ist auch zu prüfen, ob das betreffende Vorstandsmitglied erkennbar Leitungsaufgaben mit inhaltlich-politischem Bezug erfüllt oder nur eine passiv-untergeordnete Stellung einnimmt. Dabei kann etwa die tatsächlich wahrgenommene Funktion eines (ersten) Vorsitzenden einer solchen Exilorganisation ein Indiz für eine lenkende oder jedenfalls maßgebliche Betätigung im Rahmen von aus türkischer Sicht staatsgefährdenden Bestrebungen und damit für die Annahme eines Verfolgungsinteresses des türkischen Staates sein. Für ein geringes politisches Gewicht der (Vorstands-) Aktivitäten und damit gegen eine Verfolgungsgefährdung kann demgegenüber eine kurze Dauer der Vorstandstätigkeit sprechen, ferner die Zugehörigkeit zu einem Vorstand, der unverhältnismäßig groß ist und/oder dessen Mitglieder auffällig häufig wechseln.
Zum Vorstehenden vgl. Verfassungsschutzberichte des Landes Nordrhein-Westfalen für 1998, S. 192 ff., für 1999, S. 200 ff., für 2000, S. 205 ff., für 2001, S. 148 ff., 156 ff.; Verfassungsschutzbericht des Bundes für 2001, S. 229 ff., 241 ff.; zum Exilparlament noch Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28. Dezember 1995 an VG Gelsenkirchen; vgl. zu einzelnen Vereinen und Dachorganisationen beispielhaft Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz, Auskunft vom 10. Mai 1999 an VG Ansbach; Landesamt für Verfassungsschutz Stuttgart, Auskunft vom 29. Januar 1999 an VG Stuttgart; Innenministerium Schleswig-Holstein, Auskunft vom 23. Februar 2001 an VG Schleswig; Kaya, Gutachten vom 18. März 1998 an VG Frankfurt (Oder); Gutachten vom 21. August 2000 an VG Oldenburg; Gutachten vom 15. September 2003 an VG Stuttgart; Innenministerium Nordrhein-Westfalen, Auskunft vom 27. Juli 2000 an VG Düsseldorf; Landesamt für Verfassungsschutz Hessen, Auskunft vom 8. August 2001 an VG Darmstadt; Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen, Auskunft vom 24. November 1997 an VG Gelsenkirchen.
Ob Vorstandsmitglieder sonstiger Vereine einem Verfolgungsrisiko in der Türkei ausgesetzt sind, hängt von Größe, politischer Ausrichtung, Dauer, Umfang und Gewicht der Aktivitäten sowie von anderen insoweit bedeutsamen Umständen des Einzelfalles ab. Handelt es sich um einen Verein, dessen Einzugsbereich örtlich oder regional begrenzt ist, so kann es für die Einschätzung des Verfolgungsrisikos eine Rolle spielen, ob jener als Mitgliedsverein einer Dachorganisation angehört, die bei türkischen Stellen als staatsfeindlich gilt.
Nicht zu den der PKK vergleichbaren, aus türkischer Sicht staatsfeindlichen Vereinen sind in der Regel die der KOMKAR angeschlossenen kurdischen Vereine zu rechnen. Die 1979 gegründete KOMKAR ist die eher als gemäßigt geltende Dachorganisation der kurdischen Arbeitervereine in Deutschland, die den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf soziale und kulturelle Aktivitäten sowie auf Sprachunterricht für die in Deutschland ansässigen türkischen Staatsangehörigen legen; neben Kurden arbeiten nach Angaben der KOMKAR auch deutsch-kurdische Vereine sowie türkische Volkszugehörige mit. KOMKAR und die ihr angeschlossenen Vereine verstehen sich daneben aber auch als Interessenvertretung der Sozialistischen Partei Kurdistans (PSK) in Deutschland, die sich im Gegensatz zur Linie der PKK vor den so genannten "Friedensinitiativen" in ihren Publikationen immer wieder zum Verzicht auf Waffengewalt bekennt. Allerdings streben jedenfalls Teile der PSK nach Einschätzung einzelner Gutachter - wenn auch auf friedlichem Wege - eine Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des kurdischen Volkes im Rahmen eines kurdischen Staates oder eines Zusammenlebens mit dem türkischen Volk in einer Föderation gleichberechtigter Teilstaaten an. Aufgrund dieser Zielsetzung werden KOMKAR und die ihr angeschlossenen Vereine von den Auslandsvertretungen und vom Nachrichtendienst der Türkei beobachtet, wenn auch nicht mit derselben Intensität wie andere Organisationen und Einrichtungen der kurdischen nationalen Opposition. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass Mitglieder von KOMKAR-Vereinen nach einer Rückkehr allein wegen ihrer KOMKAR-Aktivitäten in asylerheblicher Weise verfolgt werden, besteht indes nicht; Referenzfälle in hinreichender Zahl sind nicht bekannt geworden.
Vgl. Senatsurteile vom 10. April 2002 - 8 A 2745/98.A -, S. 22 ff. und vom 10. Dezember 2002 - 8 A 1236/99.A -, m.w.N.
cc. Terrorismus
Ausgeschlossen ist der Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter bzw. auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, wenn sich die exponierte exilpolitische Tätigkeit als aktive Unterstützung des Terrorismus darstellt. Dies kommt insbesondere bei der Tätigkeit als hochrangiger Funktionär in der Exilorganisation einer mit terroristischen Mitteln agierenden Organisation in Betracht. Angesichts der Bedeutung dieses Ausschlussgrundes reicht es allerdings nicht aus, dass der Ausländer einfaches Mitglied einer derartigen terroristischen Organisation ist oder sie finanziell oder durch Teilnahme an Veranstaltungen unterstützt. Andererseits greift § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG aber auch nicht erst dann ein, wenn der betroffene Ausländer eigene Gewaltbeiträge leistet. Vielmehr reicht es aus, wenn er für die gefährliche Organisation strukturell wichtige Funktionen ausübt, was nicht nur auf der Führungsebene, sondern schon auf örtlicher Ebene der Fall sein kann. Der Führungskader kann seine für die Bundesrepublik Deutschland sicherheitsempfindlichen Aktivitäten nur deshalb so wirkungsvoll gestalten, weil ihm auf unterer Ebene Funktionäre zur Verfügung stehen, die die Aktivitäten organisieren und die notwendigen finanziellen Mittel beschaffen. Maßgebend ist eine wertende Gesamtbetrachtung aller Umstände des einzelnen Falles. Die Anwendung des § 51 Abs. 3 Satz 1 AuslG, der dem jetzigen § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG entspricht, hat das Bundesverwaltungsgericht für eine Kadertätigkeit für die PKK/ERNK ebenso bejaht wie für das Mitglied eines örtlichen Komitees der PKK mit der Aufgabe, Spendenunwillige und Abtrünnige an die zuständigen Kader zu melden. In einem weiteren Fall hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass die Unterstützung der PKK/ERNK, die über die Teilnahme an Demonstrationen und sonstigen Veranstaltungen ohne erheblichen eigenen Gewaltbeitrag sowie die Zahlung von Spenden nicht hinausgeht, in aller Regel nicht die Voraussetzungen des Ausschlusses von Abschiebungsschutz für politisch Verfolgte nach § 51 Abs. 3 Satz 1, 1. Alternative AuslG erfüllt.
BVerwG, Urteile vom 30. März 1999 - 9 C 31.98 -, BVerwGE 109, 1; - 9 C 23.98 -, BVerwGE 109, 12 und - 9 C 22.98 -, BVerwGE 109, 25.
Der vorliegende Fall gibt keinen Anlass zu entscheiden, ob und inwieweit an der vorstehend zitierten Rechtsprechung hinsichtlich der PKK festzuhalten ist, nachdem der Bundesgerichtshof die PKK einschließlich ihrer Nachfolgeorganisationen - soweit sie in Deutschland agiert - mit Blick auf ihre politisch-strategische Neuausrichtung nicht mehr als terroristische Vereinigung ansieht und sogar die Einordnung als kriminelle Vereinigung nur noch in Bezug auf den engeren Führungszirkel bejaht.
BGH, Urteil vom 21. Oktober 2004 - 3 StrR 94/04 -, juris.
Aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Terrorismusvorbehalt sowie der Rechtsprechung des Senats zur Asylunerheblichkeit niedrig profilierter exilpolitischer Aktivitäten ergeben sich somit Einschränkungen bei der Zuerkennung von Asyl oder Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG. Niedrig profilierte exilpolitische Aktivitäten, die im Hinblick auf den Terrorismusvorbehalt und § 60 Abs. 8 AufenthG unverdächtig sind, begründen nach der Senatsrechtsprechung keine Gefährdung im Fall der Rückkehr in die Türkei. Bei herausgehobenen exilpolitischen Aktivitäten, die eine politische Verfolgung nach sich ziehen, ist sorgfältig zu prüfen, ob die Voraussetzungen des Terrorismusvorbehalts und des § 60 Abs. 8 AufenthG erfüllt sind.
Unter Zugrundelegung der vorstehenden Maßstäbe begründet das exilpolitische Engagement des Klägers nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verfolgungsrisiko. Ungeachtet der Frage, ob der überwiegend lyrische Inhalt der Gedenkanzeige überhaupt einen nach türkischem Recht strafbaren Inhalt hat, insbesondere als Unterstützung einer militanten Organisation gewertet werden kann, handelt es sich jedenfalls um eine lediglich niedrig profilierte Aktion, durch die sich der Kläger nicht als Ideengeber oder Meinungsführer der politischen Exilbewegung hervorgetan hat. Anhaltspunkte für die Annahme, dass - wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat - auch eine solche Veröffentlichung mit Blick auf einen besonderen familiären Hintergrund die beachtliche Gefahr einer politischen Verfolgung begründen könnte, bieten die vorliegenden Erkenntnisse, die der Senat umfassend ausgewertet hat, nicht. Derartige Anhaltspunkte folgen auch nicht aus der Aussage des Zeugen , dass die Sicherheitskräfte nach Angaben des Vaters des Klägers nach dem Kläger gefragt hätten. Denn es fehlt an jedem Hinweis darauf, dass die Nachfrage der Sicherheitskräfte in inhaltlichem oder zeitlichen Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Gedenkanzeige gestanden haben könnte.
d. Sippenhaft
Dem Kläger droht in der Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Einbeziehung in die politische Verfolgung von Angehörigen (Sippenhaft).
Allerdings ist es in der Türkei traditionell Bestandteil polizeilicher Ermittlungstaktik, dass nahe Angehörige bestimmter politisch Verfolgter von den Sicherheitskräften in der Wohnung aufgesucht, nach Durchsuchung - häufig auch des Arbeitsplatzes - zur Wache mitgenommen und verhört werden, obwohl sie selbst nicht im Verdacht stehen, in eigener Person separatistische Strömungen zu unterstützen oder sich sonst staatsfeindlich zu verhalten. Mit diesem Vorgehen verfolgen die staatlichen Sicherheitskräfte mehrere Ziele: Zum einen soll erreicht werden, dass die Familie dem Druck nicht länger standhält und dafür sorgt, dass die gesuchte Person sich stellt, oder dass diese sich selbst stellt, weil sie es nicht länger erträgt, dass ihre Angehörigen in Mitleidenschaft gezogen werden. Zum Zweiten wird das Ziel verfolgt, Informationen sowohl über die Straftat und die gesuchte Person (Aufenthaltsort, Tätigkeiten, Kontakte) als auch über die Unterstützung des Gesuchten durch die Familienangehörigen zu erhalten. Drittens schließlich sollen die Familienangehörigen so eingeschüchtert werden, dass sie sich von der kurdischen nationalen Opposition fern halten.
amnesty international, Gutachten vom 15. April 1998 an VG Hamburg, S. 8 f.; Kaya, Gutachten vom 16. März 1997 an VG Gießen, S. 3; Gutachten vom 17. März 1997 an VG Stuttgart, S. 3; Gutachten vom 30. April 1997 an VG Berlin, S. 24 ff.; Gutachten vom 11. März 1998 an VG Berlin, S. 3 f.; Rumpf, Gutachten vom 29. Dezember 1997 an VG Augsburg, S. 12; Gutachten vom 24. Juli 1998 an VG Berlin, S. 19 f.; Oberdiek, Gutachten vom 15. November 1996 an VG Hamburg, S. 9 ff.; Gutachten vom 17. Februar 1997 an VG Hamburg, S. 58 ff. mit zahlreichen Fallbeispielen.
Eine derartige Einbeziehung nicht verdächtiger Angehöriger in die Verfolgung gesuchter Personen ist - sofern die Maßnahmen nach Art und Intensität die Schwelle der Asylerheblichkeit überschreiten - politische Verfolgung, weil sie an asylerhebliche Merkmale des Gesuchten anknüpft.
Die aktuelle Erkenntnislage rechtfertigt aber nicht mehr die Prognose, dass Sippenhaft nahen Angehörigen (Ehegatten, Eltern, Kindern ab 13 Jahren und Geschwistern) von landesweit gesuchten Aktivisten einer militanten staatsfeindlichen Organisation ohne weiteres mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. An seiner früheren Rechtsprechung, OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -; im wesentlichen ebenso: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 24. Februar 2000 - A 12 S 1825/97 -; Urteil vom 17. Dezember 2001 - A 12 S 169/99 -; OVG Berlin, Urteil vom 20. November 2003 - 6 B 11.03 -; OVG Bremen, Urteil vom 13. Juni 2001 - 2 A 17/95.A -; OVG Sachsen, Urteil vom 27. Februar 1997 - A 4 S 293/96 -, S. 17; OVG Niedersachsen, Urteil vom 11. Oktober 2000 - 2 L 4591/94 -; teilweise abweichend (Sippenhaft wird - widerlegbar - vermutet bei Verwandten ersten Grades eines polizeilich Gesuchten) Hessischer VGH, Urteil vom 5. August 2002 - 12 UE 2982/00.A -; vgl. auch OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 4. März 2002 - 4 L 356/94 - (Sippenhaftgefahr schon für Kinder ab 11 Jahren) und OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 31. August 2001 - 10 A 10746/01.OVG - (Sippenhaft auch bei Kleinkindern), hält der Senat insoweit nicht mehr fest.
Die geänderte Gefahreneinschätzung beruht indes nicht auf den regelmäßigen Auskünften des Auswärtigen Amtes, eine Sippenhaft im Sinne einer strafrechtlichen Verfolgung oder Bestrafung von Familienmitgliedern für Handlungen eines Angehörigen finde nicht statt.
Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 20. März 2002, S. 29, vom 19. Mai 2004, S. 28, und Auskunft vom 24. November 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Diese Aussage, die im Übrigen der Rechtslage entspricht, wonach Angehörige in Bezug auf Delikte wie Begünstigung und Strafvereitelung straffrei bleiben, Aydin, Gutachten vom 29. März 2004 an VG Aachen; amnesty international, Gutachten vom 10. Januar 2005 an VG Sigmaringen, steht nicht in Widerspruch zu der Erkenntnislage, dass türkische Sicherheitskräfte - zu den oben beschriebenen Zwecken - bisweilen auf Angehörige einer gesuchten Person zugreifen. Soweit das Auswärtige Amt in diplomatisch zurückhaltendem Ton zugleich einräumt, dass Familienangehörige zu Vernehmungen geladen würden, bei denen das Aussageverweigerungsrecht nur "formaljuristisch gewährleistet" sei, bestätigt es der Sache nach, dass es bei diesen Vernehmungen zu asylerheblichen Maßnahmen kommen kann.
So noch ausdrücklich Lagebericht vom 12. August 2003, S. 33.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Angehörige einer gesuchten Person Opfer von sippenhaftähnlichen Maßnahmen werden, hat jedoch im Zuge des Reformprozesses ebenso abgenommen wie die Wahrscheinlichkeit, dass die Beeinträchtigungen der Angehörigen durch diese Maßnahmen die Schwelle des asylrechtlich Unzumutbaren überschreiten.
Entsprechend der langen Foltertradition in der Türkei war es bis vor wenigen Jahren allgemeine Praxis, dass nahe Angehörige von prominenten Personen, die wegen politischer Delikte gesucht wurden, auf den Polizeidienststellen unter Folter verhört und mit überfallartigen, schikanösen Hausdurchsuchungen überzogen wurden, bei denen sogar Hausratsgegenstände und Felder in Brand gesetzt wurden. Derartige Übergriffe fügten sich ein in das System früher üblicher Repressionsmaßnahmen gegen politisch verdächtige, dem türkischen Staat gegenüber illoyale Kurden, das etwa durch Dorfräumungen, die Aufforderung zur Übernahme des Dorfschützeramtes als Loyalitätstest und die generell höhere Foltergefahr gekennzeichnet war. Nachdem sich die beschriebenen Sippenhaftpraktiken, für die es keine rechtliche Grundlage gibt, mit Blick auf die erstrebte Annäherung an die Europäische Union im Rahmen des gegenwärtigen Reformprozesses nicht mehr legitimieren lassen, hat sich die Vorgehensweise der türkischen Sicherheitskräfte auch insoweit geändert. Obgleich die Vernehmungen von Angehörigen auch gegenwärtig noch mit Beschimpfungen und Schikanen wie etwa längeren Wartezeiten, bei denen dem Betroffenen keine Sitzgelegenheit zur Verfügung steht, verbunden sind, wird die Gefahr, dass physischer Druck und Folter angewendet werden, als gering eingeschätzt. Die Dauer der Vernehmungen beschränkt sich üblicherweise auf wenige Stunden. Auch mit Durchsuchungen von Wohnung und Arbeitsplatz muss weiterhin gerechnet werden, wobei die Bewohner mitunter herumgeschubst und beleidigt werden; Hausrat und Nahrungsvorräte werden aber - anders als früher - nur durcheinander gebracht, nicht vernichtet.
Kaya, (ergänzende) Gutachten vom 2. Mai 2004 und 15. Juli 2004 an VG Frankfurt/Oder, vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; Taylan, Gutachten vom 26. Juni 2004 an VG Frankfurt/Oder.
Derartige kurzfristige Maßnahmen mögen zwar in jedem Einzelfall für den Betroffenen sehr unangenehm sein; sie versetzen ihn jedoch nicht in die für die Gewährung von Asyl bzw. Abschiebungsschutz vorauszusetzende ausweglose Lage.
Die Änderung der üblichen Vorgehensweise schließt nicht aus, dass es in einigen Fällen dennoch zu asylerheblichen Übergriffen kommen kann. Die Annahme, dass derartige Übergriffe weiterhin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, ist hingegen nicht mehr gerechtfertigt, weil es an einer hinreichenden Zahl von Referenzfällen aus jüngerer Zeit fehlt. Amnesty international hat in aktuellen Gutachten zwar angegeben, dass willkürliche Festnahmen, Misshandlungen und Bedrohungen von Angehörigen gesuchter Personen "häufig" vorkämen bzw. dass Angehörige starkem Druck ausgesetzt seien.
amnesty international, Gutachten 17. Dezember 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen und vom 10. Januar 2005 an VG Sigmaringen.
Als Referenzfälle, in denen es tatsächlich zu asylerheblichen Übergriffen - nicht lediglich zu sonstigen Übergriffen unterhalb der Schwelle des Asylerheblichen - gekommen ist, werden die Misshandlungen eines 12-jährigen Mädchens aus Diyarbakir im Februar 2004 und die Folterung eines 61-jährigen Mannes aus dem Dorf Baluka (Provinz Siirt), Vater eines Guerillakämpfers der PKK, im Oktober 2004 genannt.
amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Der Umstand, dass keine konkreten Informationen über weitere verifizierbare Fälle vorliegen, spricht gegen die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit von ihrer Intensität nach asylerheblichen Übergriffen gegen Angehörige. Ein Festhalten an der bisherigen Senatsrechtsprechung rechtfertigen die beiden Referenzfälle auch deshalb nicht, weil Anhaltspunkte dafür fehlen, dass es sich bei der Schwester, nach deren Aufenthaltsort die 12-jährige gefragt wurde, und bei dem Sohn des 61-jährigen Mannes um landesweit gesuchte Aktivisten einer militanten Organisation handelt.
Soweit der ehemalige Bundesvorsitzende der Kurdischen Gemeinde in Deutschland in seiner Zeugenvernehmung vor dem Verwaltungsgericht Gießen am 15. Januar 2003 von Schikanierungen, Benachteiligungen und Belästigungen - etwa durch nächtliche Befragungen - seiner Familienangehörigen berichtet hat, ist schon nicht ersichtlich, inwieweit diese Maßnahmen von asylerheblicher Intensität waren. Darüber hinaus bezieht sich die Aussage auf Ereignisse, die sich in den 90er Jahren und zuletzt im Jahr 2000 zugetragen haben.
Sonstige aktuelle Fälle, die Grundlage einer Wahrscheinlichkeitsprognose in Bezug auf eine etwaige Sippenhaftgefahr sein könnten, sind im Jahr 2004 nicht bekannt geworden.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24. November 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Dieser Befund lässt nur den Schluss zu, dass sich auch die Praxis des Zugriffs auf Familienangehörige einer gesuchten Person verändert hat. Die Wahrscheinlichkeit, im Zusammenhang mit der Suche nach einem engen Familienangehörigen Opfer asylerheblicher Maßnahmen zu werden, ist insgesamt gesunken, auch wenn derartige Übergriffe nach wie vor stattfinden; ob und wer zukünftig davon betroffen sein wird, lässt sich nicht generell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit prognostizieren. Daher bedarf es, wenn ein Asylbewerber geltend macht, von Sippenhaft betroffen oder bedroht zu sein, einer einzelfallbezogenen Würdigung seines bisherigen Vorbringens zu der bereits erlittenen Sippenhaft bzw. zu den konkreten Umständen, aus denen er schließt, dass ihm ausnahmsweise - abweichend von der wie dargelegt geänderten Verfolgungspraxis - nach der Rückkehr in die Türkei dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Sippenhaft droht.
Dies zugrunde gelegt droht dem Kläger in der Türkei keine Sippenhaft. Er macht nicht geltend, vor seiner Ausreise bereits Opfer von Sippenhaft im oben beschriebenen Sinne geworden zu sein. Sein Vorbringen gibt auch keinen Anlass zu der Annahme, dass ihm im Falle seiner Rückkehr im Zusammenhang mit der Verfolgung eines nahen Angehörigen Verfolgung drohen könnte. Im Übrigen wäre eine Sippenhaftgefahr auch nach der bisherigen Senatsrechtsprechung nicht anzunehmen gewesen, weil der insoweit allein als Sippenhaftvermittler in Betracht kommende Bruder des Klägers, , bereits seit einigen Jahren verstorben ist, so dass die türkischen Sicherheitskräfte, die davon Kenntnis haben, kein auf den Bruder des Klägers bezogenes Ergreifungsinteresse mehr haben.
e. Gefährdung bei Einreise
Der Kläger muss auch nicht aus anderen Gründen damit rechnen, bei seiner Einreise in die Türkei asylerhebliche Maßnahmen zu erdulden. Insbesondere ist die Asylantragstellung als solche kein Grund, der seinerseits politische Verfolgung nach sich zieht.
Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 12. August 2003, S. 52 f., und vom 19. Mai 2004, S. 31.
Ein derartiges Risiko ist im Falle der Rückkehr abgelehnter türkischer Asylbewerber, denen politische Verfolgung nicht schon aus einem der oben im Einzelnen dargestellten Gründe droht, für den Regelfall ausgeschlossen. Das gilt sowohl für türkische als auch für kurdische Volkszugehörige. Rückkehrer müssen sich - wie jeder andere in die Türkei Einreisende auch - an der Grenze einer Personenkontrolle unterziehen. Im Normalfall kann ein türkischer Staatsangehöriger, der ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzt, die Grenzkontrolle, insbesondere am Flughafen, ungehindert passieren. Diese Verfahrensweise betrifft nicht nur solche Personen, die im Zeitpunkt ihrer Einreise in die Türkei über einen gültigen türkischen Reisepass verfügen, sondern auch diejenigen, denen vom zuständigen türkischen Konsulat zum Zwecke der Rückkehr ein Passersatzpapier ausgestellt worden ist.
Vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 24. Juli 2001, S. 30 f.; vom 20. März 2002, S. 43 f. und vom 19. Mai 2004, S. 44; Auskunft vom 26. Februar 1997 an VG Regensburg, S. 2; Oberdiek, Gutachten vom 25. Juli 1997 an VG Berlin, S. 1.
Wenn hingegen der türkischen Grenzpolizei bekannt wird, dass es sich um eine abgeschobene Person handelt, wird diese einer Routinekontrolle unterzogen, die eine Abgleichung des Fahndungsregisters nach strafrechtlich relevanten Umständen und eine eingehende Befragung beinhaltet. Hintergrund dafür ist, dass Abschiebungen nach allgemeinem Ausländerrecht häufig wegen erheblicher Straffälligkeit im Ausland erfolgen. Die Tatsache der Asylantragstellung wird bei der Einreise regelmäßig nicht verborgen bleiben, doch ist den türkischen Behörden bekannt, dass viele Türken aus wirtschaftlichen Gründen den Weg der Asylantragstellung gehen, um ein sonst nicht gegebenes vorübergehendes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland zu erzwingen. Wegen der hohen Arbeitslosigkeit in der Türkei und der begrenzten Devisenreserven wird der Auslandsaufenthalt türkischer Staatsbürger auch durchaus begrüßt.
Nur wenn der Abgeschobene nicht über gültige türkische Reisedokumente, also auch nicht über vom zuständigen Konsulat ausgestellte Passersatzpapiere, verfügt, oder eine mit deren Ausstellung üblicherweise verbundene Rückfrage in der Türkei im Einzelfall unterblieben ist, wird der Betreffende in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache zum Zwecke der Befragung festgehalten. Die Fragen der Vernehmungsbeamten beziehen sich regelmäßig auf Personalienfeststellung (Abgleich mit der Personenstandsbehörde und dem Fahndungsregister), Grund und Zeitpunkt der Ausreise aus der Türkei, Grund der Abschiebung, eventuelle Vorstrafen in Deutschland, Asylantragstellung und Kontakte zu illegalen türkischen Organisationen. War die Ausreise der betreffenden Person durch Gerichtsbeschluss verboten worden oder wird sie durch Haftbefehl oder Festnahmebefehl gesucht, so kann die Grenzbehörde dies ohne weitere Nachforschungen feststellen, weil die Namen jener Personen den an den Landesgrenzen tätigen Sicherheitskräften mitgeteilt und in die dort vorhandenen Computer eingespeichert werden.
Kaya, Gutachten vom 17. März 1997 an VG Stuttgart, S. 6; Gutachten vom 5. März 1997 an VG Hamburg, S. 2; Gutachten vom 11. Februar 1998 an VG Augsburg; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 20. März 2002, S. 43 f., und vom 19. Mai 2004, S. 44; Auskunft vom 6. Februar 1997 an VG Mainz; Auskunft vom 13. März 1997 an VG Aachen, S. 3 f.; Auskunft vom 2. März 1998 an VG Frankfurt/Oder, S. 3; Oberdiek, Gutachten vom 5. Mai 1999 an VG Stuttgart; amnesty international, Gutachten vom 24. August 2004 an VG Sigmaringen.
Bei nicht im Computer als gesucht gespeicherten Personen werden Nachforschungen bei der Zentralen Datenerfassungsstelle, der Staatsanwaltschaft oder den Sicherheitsbehörden des Registrierungs- und Heimatortes sowie bei der Behörde zur Bekämpfung des Terrors und beim Präsidium der Sicherheitsbehörde angestellt. Bei diesen Nachforschungen wird festgestellt, ob gegen die rückkehrende Person Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet worden sind, insbesondere auch, ob der Betreffende wehrdienstflüchtig ist. Es ist davon auszugehen, dass die Grenzbehörde auch Zugriff auf die bei der Polizeidienststelle des Heimatortes gespeicherten Daten hat, aus denen sich ergibt, ob der Betreffende früher schon einmal politisch auffällig geworden ist. Die früher von Polizei, Jandarma und Geheimdienst geführten Datenblätter ("Fisleme" oder "Fis") über derartige Personen, die zum Beispiel auch Angaben über Verfahren, die mit Freispruch endeten, oder über Vorstrafen, die im Strafregister längst gelöscht wurden, enthalten können, sind inzwischen in Computerdateien erfasst. Eine gesetzliche Grundlage für die Datensammlung gibt es nicht, auch werden sie von Gerichten nicht als Beweismittel zugelassen.
Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 14. Oktober 1997 an VG Bremen; Auskunft vom 13. März 1997 an VG Gießen; Auskunft vom 7. Januar 1999 an VG Freiburg und vom 11. April 2003 an VG Stuttgart; amnesty international, Auskunft vom 23. November 2000 an VG Augsburg; Gesellschaft für bedrohte Völker, Auskunft vom 22. Juni 1998 an VG Kassel; Rumpf, Gutachten vom 28. Juli 1997 an VG Berlin, S. 20 ff.
Da zudem aufgrund eines Erlasses vom 18. Dezember 2004 keine Suchvermerke mehr in den Personenstandsregistern niedergelegt werden, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Der Einzelentscheider- Brief 1/2005, S. 3, ist nicht mehr anzunehmen, dass die routinemäßige Einreisekontrolle sich durch Kontaktaufnahme mit den Behörden des Heimatortes in die Länge zieht.
Nur dann, wenn sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Einreisende als Mitglied oder Unterstützer der PKK bzw. einer Nachfolgeorganisation nahe steht oder schon vor der Ausreise ein Separatismusverdacht gegen ihn bestanden hat, muss der Betroffene mit einer intensiveren Befragung durch die Sicherheitsbehörden, unter Umständen auch mit menschenrechtswidriger Behandlung rechnen. Greifbare Anhaltspunkte dafür, dass abgeschobene Personen in der regelmäßig kurzen Zeit bis zum Eingang der über sie eingeholten Auskünfte nach Art und Intensität asylerheblichen Übergriffen ausgesetzt sind, bestehen indes nicht, da die Situation zurückkehrender Asylbewerber mit derjenigen von Personen, die unter dem Verdacht staatsfeindlicher Aktivitäten verhaftet und im Polizeigewahrsam verhört werden, nicht zu vergleichen ist.
Die sich daraus ergebende Feststellung, dass abgelehnte Asylbewerber allein wegen ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit, wegen der Durchführung eines Asylverfahrens oder wegen niedrig profilierter exilpolitischer Betätigungen bei ihrer Einreise in die Türkei nicht beachtlich wahrscheinlich asylrelevanter staatlicher Verfolgung ausgesetzt sind, beruht auf einer differenzierten Untersuchung der Einreisemodalitäten abgeschobener Asylbewerber und einer gründlichen Auseinandersetzung mit so genannten Referenzfällen.
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2001 - A 12 S 169/99 -; Bayerischer VGH, Beschluss vom 31. Juni 1997 - 11 BA 96.33483 -; OVG Berlin, Urteile vom 14. Oktober 2003 - 6 B 7.03 - und vom 25. September 2003 - 6 B 8.03 -; OVG Bremen, Urteil vom 13. Juni 2001 - 2 A 17/95.A -; OVG Hamburg, Urteil vom 1. September 1999 - 5 Bf 2/92.A -, S. 68 ff; Hessischer VGH, Urteil vom 27. März 2000 - 12 UE 583/99.A -; Beschluss vom 14. Dezember 2001 - 6 UE 3681/98.A -; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. November 2001 - 3 L 9/95 -; OVG Niedersachsen, Urteil vom 11. Oktober 2000 - 2 L 4591/94 -; OVG Thüringen, Urteil vom 25. November 1999 - 3 KO 165/96 (2) -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 18. Februar 2000 - 10 A 11821/98.OVG -; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 29. April 1999 - A 1 S 155/97 -, S. 19 ff. (21); Beschluss vom 8. November 2000 - A 3 S 657/98 -; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 4. März 2002 - 4 L 356/94 -; OVG Saarland, Beschluss vom 18. September 2000 - 9 Q 107/98 -.
In jüngerer Zeit - nach Angaben des Auswärtigen Amtes: seit dem Jahr 2001, nach Angaben von amnesty international: seit Januar 2003 - ließen sich keine Fälle von asylerheblichen Misshandlungen zurückkehrender Asylbewerber mehr verifizieren, die auf einen Zusammenhang mit den genannten Umständen schließen lassen.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 45; amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an VG Hamburg.
Amnesty international ist einem Fall nachgegangen, in dem sich jedoch herausstellte, dass der Abgeschobene wegen PKK-Aktivitäten verfolgt wurde, die er in der Türkei entfaltet haben soll; in zwei weiteren Fällen ließen sich die Misshandlungsvorwürfe - jedenfalls zum Zeitpunkt der Gutachtenerstellung noch - nicht bestätigen.
amnesty international, Gutachten vom 24. August 2004 an VG Sigmaringen und vom 17. Dezember 2004 an VG Hamburg.
Selbst wenn sich in den genannten zwei Fällen verwertbare Hinweise auf Misshandlungen Abgeschobener ergeben hätten, reicht diese Zahl angesichts der hohen Zahl der Abschiebungen und freiwilligen Rückkehr in die Türkei zur Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus.
Eine Bedrohung nahezu jedes zurückkehrenden kurdischen Asylbewerbers ist danach nicht beachtlich wahrscheinlich, wenn auch ein gewisses Restrisiko nicht auszuschließen ist.
Im übrigen rechtfertigen etwaige Schwierigkeiten türkischer Asylbewerber im Zusammenhang mit ihrer Abschiebung die Gewährung politischen Asyls auch deshalb nicht, weil einem türkischen Asylbewerber nach unanfechtbarer Ablehnung seines Asylantrages zumutbar ist, sich einen türkischen Nationalpass ausstellen oder verlängern zu lassen und damit freiwillig auszureisen. Denn des Schutzes vor politischer Verfolgung im Ausland bedarf nicht, wer durch eigenes zumutbares Verhalten die Gefahr politischer Verfolgung abwenden kann. Jedenfalls in einem derartigen Fall besteht kein Verfolgungsrisiko bei der Einreise in die Türkei.
Zu diesem Aspekt BVerwG, Urteil vom 3. November 1992 - 9 C 21.92 -, BVerwGE 91, 150 (155).
3. Inländische Fluchtalternative
Selbst wenn derzeit der kurdischen Bevölkerung in Ostanatolien entgegen der Annahme des Senats eine regionale Gruppenverfolgung drohte, käme die Zuerkennung politischen Asyls an türkische Staatsangehörige allein wegen ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit nicht in Betracht, weil Kurden außerhalb Ostanatoliens vor politischer Verfolgung hinreichend sicher sind und ihnen dort auch keine anderen existentiellen Nachteile drohen. Eine inländische Fluchtalternative haben auch diejenigen, die zwar - vor allem durch asylerhebliche Übergriffe bei Dorfrazzien und Zwangsevakuierungen - politische Verfolgung erlitten haben, die aber dabei von den Sicherheitskräften nicht als eine des Separatismus verdächtige Person individualisiert oder registriert worden sind. Wer hingegen im Zuge derartiger Maßnahmen in einen individuellen Verdacht geraten ist, die militante kurdische Bewegung zu unterstützen, muss damit rechnen, auch in der Westtürkei bei routinemäßigen Personenkontrollen festgenommen und menschenrechtswidrig behandelt zu werden. Für diesen Personenkreis, der in der früheren Senatsrechtsprechung als "vorbelastet" bezeichnet worden ist, entfällt die inländische Fluchtalternative ebenso wie für individuell Vorverfolgte, die bei ihrer Rückkehr aus anderen Gründen politische Verfolgung befürchten müssen.
Eine inländische Fluchtalternative setzt voraus, dass dem Asylsuchenden in den in Betracht kommenden Gebieten keine politische Verfolgung droht und dass er dort auch nicht anderen existenziellen Gefahren, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht, ausgesetzt ist, sofern diese am Herkunftsort so nicht bestünden. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist hinsichtlich der Sicherheit vor politischer Verfolgung bei allen hier in Frage kommenden Fallgruppen der herabgestufte Prognosemaßstab anzuwenden, denn der Prüfung einer inländischen Fluchtalternative bedarf es nur, wenn der Asylsuchende bei Rückkehr von regionaler Gruppenverfolgung oder aus anderen Gründen von Verfolgung bedroht ist. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative gilt dieser Prognosemaßstab nur dann, wenn einem vor regionaler Verfolgung geflüchteten Ausländer im Zeitpunkt seiner Ausreise ein Ausweichen auf andere Landesteile gerade aus wirtschaftlichen Gründen unzumutbar war.
Zur inländischen Fluchtalternative einschließlich des Prognosemaßstabs vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25. Januar 2000 - 8 A 1292/96.A -, Rz 150 ff. m.w.N.; BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (342 ff.); BVerwG, Urteil vom 9. September 1997 - 9 C 43.96 -, BVerwGE 105, 204 (207 f., 211 f.).
a. Politische Sicherheit
In den Landesteilen außerhalb ihrer traditionellen Siedlungsgebiete (im Folgenden zur Vereinfachung: Westtürkei) sind Kurden vor politischer Verfolgung allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit hinreichend sicher; dies gilt auch dann, wenn es sich um Personen handelt, die in Ostanatolien in asylerheblicher Weise von Kollektivmaßnahmen der Sicherheitskräfte betroffen waren, ohne in einen individualisierten Verdacht geraten zu sein. Nach dem Maßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit genügt für die Bejahung einer Verfolgungsgefahr nicht bereits jeder auch entfernt liegende Zweifel an der künftigen Sicherheit des Verfolgten, sondern es müssen hieran mindestens ernsthafte Zweifel bestehen. Eine theoretische Möglichkeit, Opfer eines Übergriffs zu werden, reicht nicht aus; es ist erforderlich, dass objektive Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernt und damit als durchaus reale Möglichkeit erscheinen lassen.
BVerwG, Urteil vom 1. Oktober 1985 - 9 C 20.85 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 37; Urteil vom 9. April 1991 - 9 C 91.90 u.a. -, NVwZ 1992, 270 (271); Urteil vom 8. September 1992 - 9 C 62.91 -, NVwZ 1993, 191 (192); Urteil vom 18. Februar 1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97 (99).
Diese Voraussetzungen liegen bei in der Westtürkei lebenden oder dort hinzugewanderten Kurden, die sich für ihr Volkstum nicht politisch eingesetzt haben und deshalb bereits individuell in Verdacht geraten sind, nicht vor.
Ebenso VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 25. November 2004 - A 12 S 1189/04 -; Bayerischer VGH, Beschluss vom 31. Juli 1997 - 11 BA 96.33483 -; OVG Berlin, Urteile vom 14. Oktober 2003 - 6 B 7.03 - und vom 20. November 2003 - 6 B 11.03 -; OVG Bremen, Urteil vom 13. Juni 2001 - 2 A 17/95.A -; OVG Hamburg, Urteil vom 1. September 1999 - 5 Bf 2/92.A -; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. November 2001 - 3 L 9/95 -; OVG Niedersachsen, Urteil vom 11. Oktober 2000 - 2 L 4591/94 -; OVG Thüringen, Urteile vom 18. Dezember 2003 - 3 KO 275/01 - und vom 29. Mai 2002 - 3 KO 540/97 -, AuAS 2003, 120 (LS); OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 18. August 2000 - 10 A 10077/00 -; OVG Saarland, Beschluss vom 27. Oktober 2000 - 9 Q 56/00 -; Urteil vom 29. März 2000 - 9 R 3/99 -; OVG Sachsen, Urteile vom 27. Februar 1997 - A 4 S 293/96 -, S. 58 ff.; - A 4 S 434/90 -, S. 19; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 29. April 1999 - A 1 S 155/97 -, S. 7 ff.; Beschluss vom 8. November 2000 - A 3 S 657/98 -; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 4. März 2002 - 4 L 356/94 -; Hessischer VGH, Urteil vom 27. März 2000 - 12 UE 583/99.A -; Beschluss vom 14. Dezember 2001 - 6 UE 3681/98.A - und Urteil vom 4. März 2002 - 12 UE 2545/00.A -, zuletzt - nach Verneinung der Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung - offengelassen im Urteil vom 5. August 2002 - 12 UE 2982/00.A -.
Zwar ist die Sicherheitslage auch im Westen der Türkei nicht befriedigend; es kam in der Vergangenheit und kommt, allerdings in stark verringertem Umfang, auch weiterhin zu ungeklärten Morden, zu Fällen von "Verschwindenlassen" und besonders in den Polizeiwachen der westlichen Großstädte - trotz insgesamt zurückgehender Häufigkeit von derartigen Übergriffen - zu Misshandlung und Folter, wenn auch im Verhältnis zur Bevölkerungsdichte nicht so häufig wie im Südosten der Türkei.
Oberdiek, Gutachten vom 25. April 2004 an VG Greifswald: Von 1.391 für das Jahr 2003 dokumentierten Vorfällen ereigneten sich 505 im Südosten.
Es liegen jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass die Opfer - soweit es sich überhaupt um Kurden handelt - allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit betroffen sind. Vielmehr ergibt eine Auswertung des vorliegenden Erkenntnismaterials, dass derartige Taten zum einen schon nicht durchweg einen politischen Hintergrund haben und zum anderen, falls dies der Fall ist, an konkrete Besonderheiten der Opfer über ihre Volkszugehörigkeit hinaus anknüpfen. Besonders gefährdet sind ebenso wie in Ostanatolien alle diejenigen, die zum politisch linken oder zum "kurdenfreundlichen" politischen Spektrum zählen - vor allem Funktionäre und Mitglieder der HADEP bzw. DEHAP - sowie Mitarbeiter der prokurdischen Medien und Menschenrechtsaktivisten. Die vorliegenden Berichte lassen insoweit keine regionalen Unterschiede erkennen.
Vgl. zunächst die oben A. IV. 1. a. (insbes. Abschnitte aa., dd., ee.) angegebenen Quellen; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 20. März 2002, S. 32 f. und 19 ff., und vom 19. Mai 2004, S. 30 f.; Graf (Schweizerische Flüchtlingshilfe), Türkei - Zur aktuellen Situation -, Juni 2003, S. 27 ff.
Dieser Personenkreis ist - wie bereits unter A.IV.1.a.dd. und ee. ausgeführt - durch Festnahmen und Misshandlungen bis hin zu Folter sowie durch Zensurmaßnahmen (Sendeverbote, Einziehung von Publikationen) und Strafverfahren wegen Meinungsdelikten gefährdet. Die HADEP wurde verboten, weil sie in den Augen der Sicherheitskräfte als verlängerter Arm der PKK galt; einem entsprechenden Verdacht sieht sich auch die Nachfolgepartei DEHAP ausgesetzt. Die Gefahr politischer Verfolgung ist auch mit einer Betätigung für regierungskritische, insbesondere kurdenfreundliche Medien verbunden, wenngleich nicht zu übersehen ist, dass die Anzahl der insoweit registrierten Repressionsmaßnahmen im Vergleich zu den Vorjahren abnimmt. Wurden nach Berichten türkischer Menschenrechtsorganisationen im Jahr 2001 noch Sendeverbote an insgesamt 3786 Tagen für 28 Fernseh- und 32 Rundfunkstationen verhängt, sank die Zahl der Sendeverbote im Jahr 2004 auf 296; betroffen waren 29 Sender.
IMK-Menschenrechtsinformationsdienst, 23. Dezember 2004 bis 23. Januar 2005, Nr. 238-239; TIHV, Jahresbe-richt 2001.
Nach Angaben des türkischen Verlegerverbandes wurden im Jahr 2003 43 Bücher verboten, 37 Schriftsteller und 19 Verleger vor Gericht gestellt; im ersten Halbjahr des Jahres 2004 wurden mindestens 18 Bücher verboten.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 40.
Die als kurdenfreundlich geltende Tageszeitung Özgür Politika (Freie Politik) - Nachfolgeblatt der verbotenen Zeitungen Özgür Gündem, Özgür Ülke und Yeni Politika - darf seit Ende 1996 nicht mehr in die Türkei eingeführt werden, und auch die Zeitung Günlük Evrensel tritt als Nachfolgeblatt für eine ganze Reihe verbotener Vorgängerzeitungen auf (Ülkede Gündem, Özgür Bakis, Yeni Gündem, Yeni Evrensel). Neben diesen, jedenfalls zum Teil asylerheblichen Maßnahmen, die eindeutig auf politisch missbilligte Aktivitäten zurückzuführen sind, gibt es weitere Vorfälle, bei denen dies nicht in jedem Einzelfall sicher festgestellt werden kann; dies betrifft insbesondere die nach wie vor, wenn auch nur noch selten, vorkommenden extralegalen Tötungen, Fälle von "Verschwindenlassen" nach Festnahme und Morde durch unbekannte Täter mit vermutetem politischen Hintergrund. Der türkische Menschenrechtsverein IHD hat für die Jahre 2002 und 2003 von je zwei Fällen von "Verschwundenen" berichtet; im Jahr 1999 waren es noch 36.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 36.
Das Dokumentationszentrum der türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV, die über Niederlassungen in allen Landesteilen verfügt, verzeichnete im Jahr 2004 - wiederum ohne die Vorfälle örtlich zuzuordnen - insgesamt 21 Todesfälle, die dort als extralegale Tötungen (Hinrichtungen, Schüsse der Sicherheitskräfte nach Stopp-Zeichen oder sonst willkürliche Erschießungen) eingeordnet wurden.
IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 238-239, 23. Dezember 2004 bis 23. Januar 2005.
Auch soweit kulturelle Einrichtungen der Kurden oder einzelne prominente kurdische Persönlichkeiten (Intellektuelle, Gewerkschafter) im Westen der Türkei von staatlichen Stellen in asylerheblicher Weise unter Druck gesetzt werden, kann dies nicht als Indiz für eine allein an die Volkszugehörigkeit anknüpfende Gefährdung angesehen werden. Dies gilt auch für polizeiliche Durchsuchungen und Verhaftungen im Zusammenhang mit Hochzeits- und Beschneidungsfeiern, die am 27. November (Jahrestag der PKK-Gründung) oder 15. August (Jahrestag der Aufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK) stattfinden. Solche Veranstaltungen können ausdrücklich oder sinngemäß Solidaritätskundgebungen für die militante kurdische Bewegung in der Türkei sein, und dieser Einstellung gelten die polizeilichen Maßnahmen.
Kaya, Gutachten vom 14. Oktober 1997 an OVG Mecklenburg-Vorpommern, insbesondere S. 55 ff.; amnesty international, Gutachten vom 21. August 1997 an VG Berlin, S. 11 f.; Rumpf, Gutachten vom 1. Oktober 1995 an VG Aachen, S. 5 f.; Gutachten vom 10. Mai 1994 an VG Aachen, S. 31 ff.
Die Zahl der Fälle, in denen es zu von der Rechtsordnung nicht gedeckten polizeilichen Tötungen von Personen gekommen sein kann, ist allerdings hiervon unabhängig im Verhältnis zur Größe der hier in Rede stehenden Personengruppe nicht derart hoch, dass eine entsprechende Gefahrenlage für einen allein durch die ethnische Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden bestimmten Personenkreis anzunehmen wäre. Dasselbe gilt für die Fälle von Misshandlung und Folter im Polizeigewahrsam. Die Gefahr, Opfer derartiger Übergriffe zu werden, ist zwar gerade in zahlreichen Städten des Westens nicht ganz unerheblich, doch bestehen nicht zuletzt mit Blick auf den gegenwärtigen Reformprozess keine ernstlichen Anzeichen dafür, dass die Gefahr für einen beliebigen in der Westtürkei lebenden Kurden, von der Polizei gerade mit Blick auf sein Volkstum als Angehöriger oder Sympathisant einer "terroristischen" Vereinigung verhaftet und unter Folter verhört zu werden, mehr als eine nur theoretische Möglichkeit ist.
Zur rechtlichen und tatsächlichen Bewertung der Relation zwischen der Zahl der Vorfälle und der Größe der betroffenen Gruppe vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 1996 - 9 C 170.95 -, BVerwGE 101, 123 (131).
Eine hinreichende Verfolgungssicherheit der Kurden ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt der mittelbaren Staatsverfolgung zu verneinen. Eine nennenswerte Gefahr für Kurden in der Westtürkei, Opfer von - durch die türkische Staatsgewalt geduldeten - Übergriffen der türkischen Bevölkerungsmehrheit zu werden, besteht nicht. Erkenntnisse darüber, dass sich Ausschreitungen, wie sie sich vor allem Anfang der 90er Jahre zugetragen haben und türkischen Nationalisten, den Grauen Wölfen, zugeschrieben wurden, in jüngerer Zeit nochmals wiederholt hätten, liegen nicht vor.
Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; vgl. auch OVG Berlin, Urteil vom 14. Oktober 2003 - 6 B 7.03 -; zu den Ausschreitungen des Näheren OVG NRW, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 98 ff.
Eine inländische Fluchtalternative im Westen der Türkei steht auch denjenigen Kurden offen, die in Ostanatolien zwar von asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen betroffen waren - insbesondere im Zuge von kollektiven Maßnahmen wie Razzien und Dorfräumungen -, dabei aber nicht in einen auf ihre Person bezogenen individualisierten Verdacht der Unterstützung separatistischer Bestrebungen geraten sind. Zwar steht es außer Zweifel, dass die bei derartigen Kollektivmaßnahmen häufigen erheblichen Misshandlungen ebenso wie die Vernichtung der materiellen Existenzgrundlage durch Zerstörung der Häuser und Ernten sowie Vertreibung aus dem Heimatdorf asylerheblich und dass die hiervon Betroffenen deshalb Opfer (regionaler) politischer Verfolgung sind. Wer jedoch im Zuge derartiger Maßnahmen nicht in irgend einer Weise über die anonym gebliebene Zugehörigkeit zu der angegriffenen Gruppe - etwa der kurdischen Bevölkerung eines separatismusverdächtigen Dorfes - hinaus für die Sicherheitskräfte individuell auffällig ist und deshalb gesondert registriert wird, kann sich im Westen der Türkei ansiedeln, ohne befürchten zu müssen, dort allein auf Grund seiner Zugehörigkeit zu der von den erwähnten Maßnahmen betroffenen Gruppe erneut in asylerheblicher Weise verfolgt zu werden.
Wer hingegen bei einer Kollektivmaßnahme individuell auffällig geworden ist, so dass der zunächst nur pauschal gegen die gesamte (kurdische) Dorfbevölkerung gerichtete Verdacht sich zu einem seine Person individuell treffenden Separatismusverdacht verdichtet hat, muss davon ausgehen, dass seine Identität bei den Sicherheitskräften bekannt und registriert ist. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn ein Dorfbewohner zunächst nur als anonymes Mitglied der Dorfbevölkerung von einer Razzia oder der Aufforderung, das Amt des Dorfschützers zu übernehmen, betroffen ist, dann aber auf Grund seiner Reaktionen oder wegen einer Denunziation oder auch nur zufällig ins Blickfeld der Sicherheitskräfte gerät. Fehlt es an einer derartigen Individualisierung, so steht den Betroffenen eine inländische Fluchtalternative im Westen der Türkei offen, wo sie einer Wiederholungsgefahr in Bezug auf menschenrechtswidrige Eingriffe nicht ausgesetzt sind.
Unter welchen Umständen die Annahme einer Individualisierung gerechtfertigt ist, hängt vom Einzelfall ab. Eine Hausdurchsuchung beim Betroffenen oder bei seiner Familie kann Ausdruck hinreichender Individualisierung sein, wenn von gleichartigen Maßnahmen nicht zugleich auch die gesamte übrige Dorfbevölkerung oder doch zumindest erhebliche Teile davon betroffen waren. Erst recht werden eine nicht nur kurzfristige Festnahme des Betroffenen und eine ihm im Polizeigewahrsam widerfahrene menschenrechtswidrige Behandlung in der Regel den Schluss auf eine Registrierung seiner Person und der gegen ihn vorliegenden Verdachtsmomente rechtfertigen. Anders kann es bei der Festnahme mehrerer hundert Personen liegen, von denen die meisten schon am Tag der Festnahme wieder freigelassen und nur einige wenige für mehrere Tage in Haft behalten werden, wenn der Betroffene zu den Freigelassenen zählt.
Differenziert ist die Lage derjenigen zu bewerten, die Repressalien erlitten haben wegen ihrer Weigerung, das Dorfschützeramt zu übernehmen. Wie bereits unter A.IV.1.a.cc. ausgeführt werden bereits seit dem Jahr 2000 keine Dorfschützer mehr rekrutiert; die Aufforderung zur Übernahme dieses Amtes hat damit ihre frühere Bedeutung als Loyalitätstest verloren. Aktuellen Erkenntnissen zufolge wird allerdings die Rückkehr der ehemaligen Bewohner zwangsgeräumter Dörfer in der Praxis häufig von deren Bereitschaft abhängig gemacht, freiwillige Dorfschützer zu stellen (vgl. A.IV.1.a.bb. und cc.). Vor diesem Hintergrund ist bei der Beurteilung der Frage, ob Personen, die mit einer solchen Aufforderung konfrontiert worden sind, eine inländische Fluchtalternative haben, zu unterscheiden zwischen denjenigen, bei denen die Aufforderung schon einige Jahre zurückliegt und denjenigen, die sich erst in jüngerer Zeit dieser Aufforderung ausgesetzt sahen.
Wer sich lediglich im Kollektiv mit der auf dem Dorfplatz versammelten Dorfbevölkerung - im Zuge der bis zum Jahr 2000 üblichen Operationen - geweigert hat, das Dorfschützeramt zu übernehmen, und deshalb misshandelt worden ist, ist deswegen noch nicht einem individuell gegen seine Person gerichteten PKK-Verdacht ausgesetzt. Wer jedoch seinerzeit im Gefolge derartiger Kollektivmaßnahmen festgenommen worden ist und sich dann im Polizeigewahrsam erneut (oder auch erstmalig) geweigert hat, das Dorfschützeramt zu übernehmen, ist im Regelfall in einen individualisierten PKK-Verdacht geraten und dauerhaft registriert worden. Dieser Verdacht ist auch nicht etwa deshalb entfallen, weil die türkische Regierung bestrebt ist, die Anzahl der Dorfschützer zu reduzieren und die Aufforderung zur Übernahme des Dorfschützeramtes ihre frühere Funktion verloren hat. Bei einer der nach wie vor, wenn auch nicht mehr so häufig wie früher stattfindenden Kontrollen etwa an den Zugangsstraßen zu von Kurden bewohnten Stadtvierteln in der Westtürkei oder in diesen Stadtvierteil selbst, vgl. hierzu Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen, lassen sich diese Daten abrufen; wird auf diese Weise bekannt, dass der von der Kontrolle betroffene Kurde schon in seiner Heimatregion als verdächtig registriert ist, besteht eine ernstliche Wahrscheinlichkeit für ein neuerliches Verhör, bei dem es auch zu Misshandlungen kommen kann. Anhaltspunkte dafür, dass dabei nach den Gründen, auf denen der jeweilige Verdacht der Heimatbehörden beruht, unterschieden wird, sind nicht ersichtlich, so dass nicht festgestellt werden kann, dass ein solchermaßen in seiner Heimatregion von asylerheblichen Maßnahmen Betroffener im Westen der Türkei vor - weiterer - Verfolgung hinreichend sicher wäre. Der Senat sieht daher auch in Ansehung der abweichenden obergerichtlichen Rechtsprechung, vgl. etwa VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 7. Mai 2002 - A 12 S 196/00 -; OVG Berlin, Urteil vom 14. Oktober 2003 - 6 B 7.03 -; Hessischer VGH, Urteil vom 5. Mai 1997 - 12 UE 500/96 -, S. 33 f.; OVG Niedersachsen, Urteil vom 26. November 1998 - 11 L 3099/96 -, S. 12 ff.; Sächs. OVG, Urteil vom 9. Oktober 2003 - A 3 B 4054/98 -; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 29. April 1999 - A 1 S 155/97 -, S. 15 ff., m.w.N; OVG Saarland, Urteil vom 14. Februar 2001 - 9 R 4.99 -, keinen Anlass, bezogen auf den Personenkreis derjenigen, die durch Ablehnung einer im Jahr 2000 oder früher individuell als Loyalitätstest ausgesprochenen Aufforderung zur Übernahme des Dorfschützeramtes unter Separatismusverdacht geraten sind, von seiner ständigen Rechtsprechung abzurücken, nach der für diesen Personenkreis eine inländische Fluchtalternative damals nicht bestanden hat. Dasselbe gilt für ehemalige Dorfschützer, die ihr Amt niedergelegt haben.
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 101 f.
Ist die Ausreise allerdings erst geraume Zeit nach der behaupteten Aufforderung, Dorfschützer zu werden, erfolgt, bedarf es sorgfältiger Prüfung, ob das Vorbringen, durch Ablehnung des Dorfschützeramtes unter Separatismusverdacht geraten zu sein, überhaupt zutreffen kann und ob die geltend gemachten Gründe für die Ausreise kausal waren.
Wenn die Aufforderung hingegen in jüngerer Zeit in Zusammenhang mit einer beabsichtigten Rückkehr in ein zwangsgeräumtes Heimatdorf erfolgt ist, begründet die Ablehnung des Dorfschützeramtes keinen individuellen Separatismusverdacht. Vielmehr handelt es sich um eine Maßnahme der vorbeugenden Gefahrenabwehr, die lediglich dazu dient, die Rückkehr solcher Binnenvertriebener abzuwehren, die zur Stellung freiwilliger Dorfschützer nicht bereit sind, deren Loyalität also nicht positiv feststeht. Berichte über darüber hinaus gehende Maßnahmen liegen nicht vor (vgl. oben A.IV.1.a.cc.). Das erscheint unter Berücksichtigung der insoweit maßgeblichen Sicht der türkischen Sicherheitskräfte auch plausibel, weil der Erkenntnisgehalt, den die Sicherheitskräfte aus dem Verhalten der Rückkehrwilligen ziehen, sich nicht von dem unterscheidet, der aus kollektiven Maßnahmen gegenüber der Dorfbevölkerung zu schließen ist. Zudem entspricht es der in den zurückliegenden zwei bis drei Jahren geänderten Polizeitaktik, nur noch dann gegen Personen vorzugehen, wenn gegen sie der Verdacht einer Straftat besteht. Die Ablehnung des Dorfschützeramtes, erst recht des freiwilligen Dorfschützeramtes, stellt indessen keine Straftat dar.
b. Wirtschaftliche Voraussetzungen
Eine inländische Fluchtalternative für Kurden in der Westtürkei ist grundsätzlich auch nicht wegen fehlender Existenzvoraussetzungen ausgeschlossen.
In Bezug auf die wirtschaftlichen Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative ist entscheidend, ob der von regionaler Verfolgung Bedrohte bei generalisierender Betrachtung auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum zu erwarten hat. Das ist bei erwerbsfähigen Personen grundsätzlich der Fall, wenn es ihnen trotz Bereitschaft zur Ausübung auch wenig attraktiver Tätigkeiten selbst längerfristig nicht gelingen wird, ein Einkommen zu erzielen, das, mag es auch im unteren Bereich des am Ort der Fluchtalternative Üblichen liegen, das wirtschaftliche Überleben gewährleistet.
BVerwG, Beschlüsse vom 25. Oktober 1999 - 9 B 167.99 und 9 B 168.99 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 25, und vom 9. Januar 1998 - 9 B 1130.97 -; Urteil vom 15. Juli 1997 - 9 C 2.97 -, BayVBl 1998, 250; Urteil vom 9. September 1997 - 9 C 43.96 -, BVerwGE 105, 204; Urteil vom 8. Februar 1989 - 9 C 30.87 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 104.
Nach diesen Maßstäben sind die wirtschaftlichen Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative für in die Westtürkei zuwandernde Kurden im Allgemeinen gegeben. Zwar weisen alle gebräuchlichen Indikatoren - Arbeitslosenquote, Pro-Kopf-Einkommen, Bruttosozialprodukt pro Kopf, Teuerungsrate, soziale Sicherungssysteme usw. - aus, dass die wirtschaftliche Lage der Türkei unverändert schlecht ist. Die türkische Wirtschaft hat die Folgen der zwei wirtschaftlichen Krisen aus den Jahren 1999 und 2001 noch nicht überwunden; das Wachstum fällt seit 1999 relativ gering aus. Die Beschäftigungsrate der Personen im arbeitsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) fiel von 50,8 % im Jahr 1999 auf 45,5 % im Jahr 2003; zugleich stieg die Arbeitslosenquote, die ein deutliches Stadt-Land-Gefälle aufweist, im Landesdurchschnitt von 7,7 % im Jahr 1999 auf 10,5 % im Jahr 2003. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt inzwischen sogar bei knapp über 20 %. Der Aufbau sozialer Sicherungssysteme beginnt erst langsam. So werden seit Anfang 2002 in begrenztem Maße Leistungen der im Jahr 1999 errichteten Arbeitslosenversicherungen gewährt; eine staatliche Sozialhilfe existiert hingegen bis heute nicht. Gleichwohl ist absolute Armut in der Türkei selten, was einerseits auf stark ausgeprägten familiären Bindungen und andererseits auf der weiten Verbreitung "informeller" Gelegenheitsarbeit beruht.
Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6. Oktober 2004, S. 58 ff. und 185 ff.; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 45 f.
Bei dieser insgesamt seit vielen Jahren unverändert schlechten Wirtschaftslage drängt es sich auf, dass nicht nur kurdische Zuwanderer es schwer haben, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Zudem drängen kurdische Zuwanderer im Westen der Türkei fast ausschließlich in solche Gebiete, die wegen ihres hohen kurdischen Bevölkerungsanteils ohnehin mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Nicht wenige der in den Westen abgewanderten Familien führen ein Leben an der Armutsgrenze; häufig müssen die Kinder zum Lebensunterhalt beitragen.
Zur Wirtschaftslage Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 20. März 2002, S. 32 f., 45 ff., und vom 19. Mai 2004, S. 45; Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; Moser/Weithmann, Die Türkei, 2002, S. 203 ff., 310 ff., 330 ff.
Insbesondere während der Geltung des Notstandsrechts haben zahlreiche Kurden aus Ostanatolien sich im Westen angesiedelt und dort trotz der schwierigen Verhältnisse unter mehr oder minder bescheidenen Verhältnissen ein Auskommen gefunden; die Zahl der im Westen der Türkei lebenden Kurden wird auf mindestens 7 bis 8 Millionen geschätzt. Verantwortlich hierfür ist nicht nur die über viele Jahre hinweg angespannte Sicherheitslage in Ostanatolien, sondern in erster Linie das auch weiterhin extreme wirtschaftliche West-Ost-Gefälle. Die wirtschaftlichen Bedingungen in Ostanatolien sind selbst vor dem Hintergrund der schlechten Wirtschaftslage im Westen der Türkei nochmals wesentlich schlechter als dort, so dass Kurden aus Ostanatolien nach einer Übersiedlung in die Westtürkei keinen wirtschaftlichen Nachteilen ausgesetzt sind, die in ihrer Heimatregion so nicht bestehen.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Mai 2004, S. 45 f.
Denn auch unabhängig von dem Umstand, dass mit 7 bis 8 Millionen Kurden schon mehr als die Hälfte dieser Bevölkerungsgruppe im Westen der Türkei lebt, sprechen alle maßgeblichen Indikatoren dafür, dass sich die wirtschaftliche Situation einer in den Westen zuwandernden Familie nach Anfangsschwierigkeiten im Vergleich zu ihrem Lebensstandard im Osten eher verbessern als verschlechtern wird.
Hierzu und zum Folgenden ausführlich und m.w.N. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25. Januar 2000 - 8 A 1292/96.A -, Rz 207 ff.
In den Westen der Türkei zuwandernde oder zurückkehrende Kurden finden dort - regelmäßig mit anfänglicher Unterstützung durch Angehörige oder Freunde - im Allgemeinen eine Existenzmöglichkeit, wenn auch auf äußerst niedrigem Niveau und in erheblicher wirtschaftlicher Unsicherheit. Die Zuwanderer siedeln sich in aller Regel in vorhandenen kurdisch geprägten Stadtvierteln an, meist in gar nicht oder nur unzureichend an die Strom- und Wasserversorgung angeschlossenen und ohne behördliche Genehmigung errichteten "Gecekondu"-Siedlungen in den Vorstädten, daneben auch in stark abgewohnten Innenstadtquartieren, in deren Erhaltung nicht mehr investiert wird, doch sind sie weit überwiegend nicht darauf angewiesen, in Zelten oder ähnlichen Notunterkünften zu leben.
Zu den Wohnverhältnissen Rumpf, Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 102 ff.; Oberdiek, Gutachten vom 27. April 2000 an OVG Hamburg; Gutachten vom 20. Dezember 1996 an OVG Schleswig, S. 73 ff., 96 ff.; Kaya, Gutachten vom 15. September 1997 an OVG Schleswig-Holstein, S. 45 ff. und vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; kritisch amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
In dieser Umgebung haben die Zuwanderer, wenn sie nicht über ein außergewöhnliches Bildungs- und Ausbildungsniveau verfügen, zwar nur eine geringe Chance, einen dauerhaften und sicheren Arbeitsplatz mit Kranken- und Rentenversicherungsschutz zu finden. Abhängig von saisonalen und anderen Einflüssen besteht jedoch ein Markt für ungelernte Arbeitskräfte u.a. im Baugewerbe, im Gastronomie- und Tourismussektor sowie in der Landwirtschaft; diese Tätigkeiten werden tageweise auf dem so genannten "Arbeitermarkt" oder für längere Zeiträume vergeben. Schließlich verdient ein zahlenmäßig nicht unerheblicher Teil der Zuwanderer seinen Lebensunterhalt auf dem Marginalsektor (Straßenverkauf ohne gewerbliche Lizenz, Dienstleistungen auf der Straße wie Schuhputzer, Lastträger, Parkplatzwächter usw.). Dies stellt keine lukrative oder gar sichere Möglichkeit dar, den Lebensunterhalt für eine oder mehrere Personen zu erzielen, zumal gerade die Tätigkeiten auf dem Marginalsektor durch Polizei oder Verwaltung behindert werden können. Dennoch lässt sich den vorliegenden Quellen - die teilweise auf Umfragen beruhen - entnehmen, dass der Arbeitslosenanteil unter den Zuwanderern nicht signifikant höher ist als im Landesdurchschnitt.
Kaya, Gutachten vom 14. Oktober 1997 an OVG Mecklenburg-Vorpommern, S. 36 ff., 40 ff., 79 ff.; Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997 an OVG Mecklenburg-Vorpommern, S. 11 ff.; Oberdiek, Gutachten vom 20. Dezember 1996 an OVG Schleswig, S. 63, 73 ff., 79 ff.; vgl. noch BVerwG, Beschluss vom 9. Januar 1998 - 9 B 1130.97 -; Urteil vom 8. Februar 1989 - 9 C 30.87 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 104.
Diese Feststellungen stützen die Annahme, dass die in Ostanatolien beheimateten Kurden nach einer Übersiedlung in die Westtürkei im Allgemeinen dort eine - wenn auch unsichere - wirtschaftliche Existenz auf niedrigem Niveau finden können. Die Zuwanderer sind in der Lage, nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten, welche zumeist durch Hilfe von Verwandten oder den Einsatz von Ersparnissen überbrückt werden, ihren Lebensunterhalt durch selbstständige oder unselbstständige Erwerbsarbeit zu sichern; es gibt weder Hungersnot noch eine sonstige generelle Existenzbedrohung.
Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn die Umsiedlung oder Rückkehr allein stehender Frauen - ggf. mit minderjährigen Kindern - in den Westen der Türkei in Rede steht, ohne dass diese dort die Möglichkeit vorfinden, bei Verwandten Schutz und Hilfe zu finden. In solchen Ausnahmefällen ist genau zu prüfen, ob die betreffende Asylsuchende voraussichtlich in der Lage sein wird, insbesondere die Angebote des Arbeitsmarktes, aber auch staatlicher Stellen oder wohltätiger Stiftungen in Anspruch zu nehmen. Anlass hierzu besteht vor allem dann, wenn es um Arbeitsstellen geht, die aus körperlichen Gründen, weil ein Kind oder Kinder zu versorgen sind oder wegen der in den kurdischen Wohngebieten häufig anzutreffenden traditionellen und religiös geprägten Vorstellungen über die Rolle der Frau in der Gesellschaft von allein stehenden Frauen nicht wahrgenommen werden können. Eine derartige Prüfung muss alle Umstände des Einzelfalles - Alter und familiäre Situation der Frau, ihren Bildungs- und Ausbildungsstand, insbesondere türkische Sprachkenntnisse, Anzahl und Alter der Kinder - sorgfältig würdigen und gewichten, ohne dass sich im Übrigen weitergehende allgemeine Leitlinien dafür aufstellen lassen.
amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; Auskünfte an OVG Hamburg von Oberdiek (27. April 2000), Kaya (29. April 2000), Taylan (13. Mai 2000) und Auswärtigem Amt (5. Juni 2000) für den Fall einer Mutter mit drei Töchtern; daneben Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24. November 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen; Auskunft vom 24. Februar 1998 an VG Bremen; Auskunft vom 8. Juli 1998 an VG Mainz. Vgl. im Übrigen zu vergleichbaren Fragestellungen für Ostanatolien: Kaya, Gutachten vom 13. Juli 1999 an VG Schleswig, S. 4 f.; Oberdiek, Gutachten vom 23. Juni 1999 an VG Schleswig, S. 4 f.
B. § 60 Abs. 1 AufenthG
Das Begehren des Klägers auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG ist ebenfalls unbegründet. Diese Vorschrift ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG; Art. 15 Abs. 3 Zuwanderungsgesetz) anwendbar. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift umfasst den des Art. 16a Abs. 1 GG, zu § 51 Abs. 1 AuslG: BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1992 - 9 C 59.91 -, DVBl 1992, 843; zur Deckungsgleichheit von Art. 16a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG mit dem Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention: BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 1993 - 9 C 50.92 u.a. -, NVwZ 1994, 500 (503); Urteil vom 18. Januar 1994 - 9 C 48.92 -, NVwZ 1994, 497 (498 ff.), und geht darüber hinaus, indem - nach Maßgabe des § 28 AsylVfG - auch selbst geschaffene Nachfluchtgründe und gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, etwa in Bürgerkriegssituationen, in denen es an staatlichen Strukturen fehlt, ein Abschiebungsverbot begründen. Ferner stellt § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG klar, dass eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn Anknüpfungspunkt allein das Geschlecht ist.
Vgl. Huber, Das Zuwanderungsgesetz, NVwZ 2005, 1 (6, 10).
Der Tatbestand des § 60 Abs. 1 AufenthG ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Wie sich aus den vorstehenden Ausführungen zum Asylanerkennungsanspruch ergibt, droht dem Kläger in der Türkei keine politische Verfolgung; soweit der Schutzbereich des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG über den des Art. 16a GG hinausgeht, liegen die hierfür maßgeblichen Voraussetzungen im vorliegenden Fall ersichtlich nicht vor.
C. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn ihm in dem Staat, in den er abgeschoben werden soll, landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter, Todesstrafe oder sonst menschenrechtswidrige Behandlung droht (§ 60 Abs. 2, 3 und 5 AufenthG); er soll nicht abgeschoben werden, wenn für ihn in dem Staat eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG). § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG erfasst nicht nur verfolgungsunabhängige, sondern auch verfolgungstypische Gefahren, die in den Anwendungsbereich des Art. 16a GG und des § 60 Abs. 1 AufenthG fallen. Für den Fall, dass der Ausländer schon vor seiner Ausreise einer derartigen Gefahr ausgesetzt war, ist nicht der herabgestufte, sondern der allgemeine Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anwendbar.
Zu § 53 AuslG: BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 15.95 -, BVerwGE 99, 331 (333 ff.); Urteil vom 15. April 1997 - 9 C 38.96 -, BVerwGE 104, 265 (269); Urteil vom 4. Juni 1996 - 9 C 134.95 -, InfAuslR 1996, 289; zur Anwendung auf verfolgungsabhängige Gefahren: BVerfG, Beschluss vom 3. April 1992 - 2 BvR 1837/91 -, NVwZ 1992, 660; BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 (329); Urteil vom 30. März 1999 - 9 C 31.98 -, NVwZ 1999, 1346 ff.
Die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG wird weder durch den Terrorismusvorbehalt bzw. durch § 60 Abs. 8 AufenthG, vgl. zu § 53 AuslG: BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81, 142 (155); BVerwG, Urteil vom 30. März 1999 - 9 C 31.98 -, BVerwGE 109, 1 (5) m.w.N., noch durch § 28 Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen.
Der Abschiebung des Klägers in die Türkei steht weder die Gefahr von Folter oder Todesstrafe (§ 60 Abs. 2 und 3 AufenthG) noch die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, EMRK) entgegen. Da die Türkei Vertragsstaat der EMRK ist, besteht eine gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG relevante Mitverantwortung des deutschen Staates, den menschenrechtlichen Mindeststandard im Zielstaat der Abschiebung zu wahren, nur dann, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung in die Türkei Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohen und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen ist.
BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 2004 - 1 C 14.04 -.
Davon abgesehen drohen dem Kläger keine Gefahren der vorgenannten Art. Dies ergibt sich im einzelnen aus den Ausführungen zur Verfolgungsprognose (oben A.IV.); die Todesstrafe ist in der Türkei im Übrigen abgeschafft. Auch soweit eine Einziehung zum Wehrdienst, eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung oder die Behandlung von Wehrpflichtigen während des Wehrdienstes in Rede stehen sollten, besteht kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 und Art. 9 EMRK. Denn weder ist ein Menschenrecht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen völkerrechtlich universell anerkannt noch ist erkennbar, dass bei der Bestrafung von Wehrdienstentziehung und Behandlung von kurdischen Wehrpflichtigen in der Türkei der für die Annahme einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK erforderliche besondere Schweregrad überschritten wird.
Schließlich ist auch der Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht gegeben. Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers besteht in der Türkei nicht. Im Unterschied zum Asylrecht unterscheidet zwar § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird. Doch ist der Begriff der Gefahr im Sinne dieser Vorschrift kein anderer als der im asylrechtlichen Prognosemaßstab der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit" angelegte. Allerdings statuiert das Element der "Konkretheit" der Gefahr für "diesen" Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation.
BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 (330); Urteil vom 29. März 1996 - 9 C 116.95 -, DVBl 1996, 1257; Beschluss vom 18. Juli 2001 - 1 B 71.01 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 46.
Dabei kommen nur solche Gefahren in Betracht, die dem Ausländer landesweit drohen, denen er sich also nicht durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann.
BVerwG, Beschluss vom 4. Februar 2004 - 1 B 291.03 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 75.
Bei alledem erfasst § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind. Gefahren, die sich allein als Folge oder im Zusammenhang mit der Abschiebung ergeben, fallen nicht in den Zuständigkeitsbereich des Bundesamtes, sondern sind von der Ausländerbehörde im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens zu berücksichtigen.
Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 -, DVBl 2003, 463; Urteil vom 21. September 1999 - 9 C 8.99 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 21 = NVwZ 2000, 206; Urteil vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383 (384 ff.); Urteil vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 -, BVerwGE 105, 322 (324 ff.).
Die wirtschaftliche Lage in der Türkei rechtfertigt im Allgemeinen die Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Rückkehrer - wenn auch in vielen Fällen nicht ohne anfängliche Schwierigkeiten - den notwendigen Lebensunterhalt, insbesondere Unterkunft, Ernährung und Grundversorgung, finden können. Vor allem in den ersten Monaten werden sie auf die Hilfe der Großfamilie, aber auch von Freunden, Bekannten und Menschen aus ihrer Heimatregion zählen können. Es ist diese Solidarität innerhalb der Großfamilie, aber auch von Seiten sonstiger Bezugspersonen im Sinne des in der Türkei geltenden weiten Verwandtenbegriffs, die es in den allermeisten Fällen verhindert, dass die unzähligen - aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen - zur Migration innerhalb der Türkei gezwungenen Menschen Schaden an Leib und Leben nehmen. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Lage zurückkehrender Asylbewerber anders darstellt als diejenige der sonstigen Migranten, die jene an Zahl weit übertreffen, bestehen nicht; auf die Ausführungen zur inländischen Fluchtalternative unter A.IV.3.b., die insoweit entsprechend gelten, wird Bezug genommen.
Auch bei allein stehenden Frauen und minderjährigen Kindern kommt die Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nach 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG allein aufgrund Fehlens einer Versorgungsperson nicht ohne weiteres in Betracht. Bei diesem Personenkreis ist davon auszugehen, dass sie in die Gemeinschaft derjenigen zurückkehren, die bereits vor der Ausreise ihre Versorgung sichergestellt haben.
amnesty international, Gutachten vom 17. Dezember 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen.
Der Senat teilt nicht die nicht weiter begründete Annahme im Länderbericht der schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 21. Juni 2003, S. 43, eine Ansiedlung von Kurden im Westen der Türkei sei geradezu unmöglich; der Bericht setzt sich nicht mit den vorhandenen Erkenntnisquellen auseinander und berücksichtigt insbesondere nicht, dass nach wie vor allein nach Istanbul täglich mehrere Hundert Menschen aus wirtschaftlichen Gründen zuwandern. Allerdings können substantiiert vorgetragene Umstände im Einzelfall eine genaue Prüfung der Frage erfordern, ob ausnahmsweise die Annahme einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Betracht kommt; diese Prüfung muss alle Aspekte des einzelnen Falles ausschöpfen, ohne dass dies einer verallgemeinernden Formulierung von Prüfungsmaßstäben zugänglich wäre.
Zu den Anforderungen an eine solche Prüfung vgl. Auskünfte an OVG Hamburg von Oberdiek (27. April 2000), Kaya (29. April 2000), Taylan (13. Mai 2000) und Auswärtigem Amt (5. Juni 2000) für den Fall einer Mutter mit drei Töchtern. Vgl. im Übrigen oben IV.3.b. und Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28. Februar 1997 an OVG Schleswig-Holstein (Zuwanderung von täglich etwa 500 Personen allein nach Istanbul); Sen/Akkaya/Özbek, Länderbericht Türkei, 1998, S. 213 (jährliche Zuwanderung nach Istanbul bis 1997: 400.000 Personen).
Ebenso wenig kann im Allgemeinen eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen einer bei Rückkehr notwendig werdenden medizinischen Behandlung angenommen werden. Die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung ist durch das öffentliche Gesundheitssystem und den sich ausweitenden Sektor privater Gesundheitseinrichtungen - wenn auch nicht auf hohem Niveau - grundsätzlich sichergestellt. Wenn ein Asylbewerber jedoch substantiiert geltend macht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei schwerwiegende Gesundheitsgefahren drohen, die auf unzureichende medizinische Behandlungsmöglichkeiten zurückzuführen sind, ist eine auf den Einzelfall bezogene detaillierte Sachverhaltsaufklärung erforderlich, die über die zur medizinischen Versorgung in der Türkei allgemein vorliegenden Erkenntnisse hinausgeht. In einem solchen Fall kann ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
BVerwG, Urteil vom 27. April 1998 - 9 C 13.97 -, NVwZ 1998, 973; Urteil vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 20. März 2002, S. 46 f. und Anhang zur medizinischen Versorgung psychisch kranker Menschen, sowie vom 19. Mai 2004, S. 46 f.; kritisch Graf (Schweizerische Flüchtlingshilfe), Türkei - Zur aktuellen Situation -, Juni 2003, S. 43 f.
Eine nähere Sachverhaltsaufklärung ist allerdings im Allgemeinen nicht allein deshalb erforderlich, weil ein Asylbewerber vorträgt, die Kosten einer medizinischen Behandlung in der Türkei nicht tragen zu können. Denn bei Mittellosigkeit besteht die Möglichkeit, sich von der Gesundheitsverwaltung die "Grüne Karte" (yesil kart) ausstellen zu lassen, die zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem berechtigt. Während des Zeitraums bis zur Ausstellung der Grünen Karte, der mehrere Wochen bis zu wenigen Monaten dauern kann, ist eine sofortige Behandlung akut erkrankter Personen im staatlichen Gesundheitssystem möglich; die "Stiftung für Sozialhilfe" kann zudem eintreten, wenn und soweit die Kosten medizinischer Versorgung durch die "yesil kart" nicht gedeckt sind. Etwas anderes kann in Einzelfällen gelten, wenn substantiiert vorgetragen ist, dass mit Hilfe der Grünen Karte, des Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität oder religiöser Stiftungen eine medizinisch erforderliche Behandlung nicht, nicht rechtzeitig oder nicht im erforderlichen Umfang sichergestellt werden kann und der Betroffene auch unter Berücksichtigung denkbarer Hilfen durch Familie oder Freunde hierzu wirtschaftlich voraussichtlich nicht in der Lage sein wird. Dasselbe kann in seltenen Ausnahmefällen gelten, wenn dem Betroffenen die Inanspruchnahme des staatlichen oder privatwirtschaftlichen Gesundheitssystems aus medizinischen Gründen - etwa wegen einer dadurch zu befürchtenden Verschlimmerung psychischer Leiden - nicht zuzumuten ist. Allerdings ist auch die Behandlung psychischer Erkrankungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen, paranoider Psychosen und Schizophrenien grundsätzlich möglich.
Ausführlich zur medizinischen Versorgung in der Türkei OVG Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 18. Januar 2005 - 8 A 1242/03.A - (psychische Erkrankung) und vom 2. Februar 2005 - 8 A 59/04.A - (Epilepsie).
Hinweise auf eine erhebliche konkrete Gefahr wegen einer bei Rückkehr notwendig werdenden medizinischen Behandlung sind für den Kläger weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
D. Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung
Die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung in Ziffer 4 des angefochtenen Bescheides vom 10. Januar 2002 sind nicht zu beanstanden. Sie finden ihre Rechtsgrundlage in §§ 34, 38 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 50 AuslG, nunmehr § 59 AufenthG.
Ende der Entscheidung
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