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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 02.02.2005
Aktenzeichen: 8 A 59/04.A
Rechtsgebiete: AufenthG


Vorschriften:

AufenthG § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG § 60 Abs. 7 Satz 2
1. Die (medikamentöse) Behandlung cerebraler Anfallsleiden (Epilepsie) ist in der Türkei grundsätzlich sichergestellt.

2. Wesentliche Unregelmäßigkeiten bei der Erteilung der "yesil kart", bei der Unterstützung durch den Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität sowie bei der kostenfreien Inanspruchnahme der staatlichen Gesundheitseinrichtungen in der Türkei sind regelmäßig nicht beachtlich wahrscheinlich.

3. Zu einem Einzelfall, in dem die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich eines zwölfjährigen Kindes, das an einem cerebralen Anfallsleiden bei geistiger und motorischer Behinderung leidet, in Bezug auf die Türkei verneint werden.


Tatbestand:

Die 1992 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie leidet an einem cerebralen Anfallsleiden bei schwerer geistiger Behinderung ohne Sprachentwicklung und einer Bewegungs- und Koordinationsstörung. Ihr auf Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (bisher § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) gerichtetes Begehren blieb in zwei Instanzen erfolglos.

Gründe:

Die Klägerin hat - bezogen auf die Türkei - keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, der mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes vom 30.7.2004 am 1.1.2005 an die Stelle von § 53 Abs. 6 AuslG getreten ist (1.). Der Klägerin droht im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben, denn sie kann die für ihre Erkrankung erforderliche medizinische Versorgung auch in der Türkei erhalten (2.).

1. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Vorschrift ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG, Art. 15 Abs. 3 Zuwanderungsgesetz) anwendbar. Abgesehen von einer die Rechtsfolge betreffenden Änderung ("soll" statt "kann"), die für die - gemäß § 24 Abs. 2 AsylVfG weiterhin vom beklagten Bundesamt zu treffende - lediglich auf die Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift bezogene Feststellung unerheblich ist, entspricht der Wortlaut des § 60 Abs. 7 AufenthG dem des § 53 Abs. 6 AuslG.

Ebenso wie § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG setzt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG voraus, dass für den Ausländer in dem Zielstaat der Abschiebung eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. (Wird ausgeführt)

Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann vorliegen, wenn dem Ausländer im Abschiebezielstaat erhebliche Gesundheitsgefahren drohen. Dies ist nicht zuletzt dann anzunehmen, wenn ein Ausländer bereits in der Bundesrepublik Deutschland an einer Krankheit leidet, die sich im Falle der Rückkehr in sein Heimatland verschlimmert, weil sie im Abschiebezielstaat nicht hinreichend behandelt werden kann. Dabei ist von einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben auszugehen, wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Konkret ist diese Gefahr, wenn die wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr ins Heimatland zu erwarten ist.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383, vom 27.4.1998 - 9 C 13.97 -, NVwZ 1998, 973, und vom 29.7.1999 - 9 C 2.99 -, juris.

Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Hinblick auf eine Erkrankung kann auch dann vorliegen, wenn die Krankheit im Abschiebezielstaat zwar grundsätzlich hinreichend behandelbar ist, der Ausländer die verfügbare medizinische Versorgung tatsächlich jedoch nicht erlangen kann.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 9.9.1997 - 9 C 48.96 -, InfAuslR1998, 125, Beschluss vom 29.4.2002 - 1 B 59.02 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60, Urteil vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 -, DVBl 2003, 463.

Grund dafür kann auch das Fehlen ausreichender finanzieller Mittel sein.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29.4.2002 - 1 B 59.02 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 8.3.2000 - 10 A 10344/00 -; OVG NRW, Beschluss vom 22.2.1999 - 1 A 636/99.A -.

Allerdings führen gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG solche Gefahren nicht zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist. (Wird ausgeführt)

Im Bereich der krankheitsbedingten Abschiebungshindernisse kommt das Vorliegen einer allgemeinen Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in Betracht bei Krankheiten, die nicht nur singulär auftreten oder wenig verbreitet sind, sondern an denen viele Menschen in dem Abschiebezielstaat leiden.

Vgl. zu § 53 Abs. 6 AuslG: BVerwG, Urteile vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383, vom 18.3.1998 - 9 C 36.97 -, juris, vom 27.4.1998 - 9 C 13.97 -, NVwZ 1998, 973 (zu Aids in der Demokratischen Republik Kongo), und vom 29.7.1999 - 9 C 2.99 -, juris (zu Diabetes mellitus im Kosovo); eine allgemeine Gefahr bejaht Nds. OVG, Urteil vom 20.3.2003 - 10 LA 30/03 -, AuAS 2003, 126 (zu HIV-Infektion in Ghana).

Diese Abgrenzungsfrage ist auch zu prüfen, wenn ein Ausländer unter Hinweis auf die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im Abschiebezielstaat die Gefahr eine Verschlimmerung seiner Erkrankung mit der Begründung geltend macht, dass Behandlungsmöglichkeiten zwar grundsätzlich zur Verfügung stünden, aber für ihn mangels Krankenversicherungsschutzes und aufgrund fehlender finanzieller Mittel nicht erreichbar seien.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29.4.2002 - 1 B 59.02 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; Bay. VGH, Beschluss vom 10.10.2000 - 25 B 99.32077 -, juris; VG Schleswig, Urteil vom 29.10.2003 - 14 A 246/02 -, juris; VG Braunschweig, Urteil vom 30.6.2003 - 8 A 43/02 -, juris; VG Berlin, Urteil vom 13.10.2003 - 34 X 87.03 -, juris.

2. Nach diesen Maßstäben liegen bei der Klägerin die Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vor. Ihr droht im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine wesentliche oder sogar lebensbedrohliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes. Denn die Krankheit der Klägerin ist in der Türkei behandelbar (a). Für die Klägerin ist die erforderliche medizinische Versorgung in der Türkei auch erreichbar; sie muss aufgrund möglicher Unzulänglichkeiten des staatlichen Gesundheitssystems nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gravierende Verschlechterung ihrer Erkrankung befürchten (b).

a) Die Klägerin leidet seit ihrem ersten oder zweiten Lebensjahr an einem cerebralen Anfallsleiden, aufgrund dessen es mehrmals wöchentlich bis mehrfach täglich zu epileptischen Krampfanfällen von kurzer Dauer (mehrere Sekunden) kommt. Die Anfälle sind durch ruckartige Zuckungen der oberen Extremitäten und auch durch Hinstürzen gekennzeichnet. Darüber hinaus leidet die Klägerin an einer extremen geistigen Retardierung bei fehlender Sprachentwicklung, autistischen Zügen und einer Bewegungs- und Koordinationsstörung mit Spastik.

Sie wurde bereits in der Türkei vor ihrer Ausreise sowie nachfolgend in der Bundesrepublik Deutschland medikamentös behandelt, ohne dass Anfallsfreiheit erreicht werden konnte. Seit Juli 2003 wird die Klägerin mit dem Medikament Energyl mit dem Wirkstoff Valproinsäure behandelt. Aufgrund der guten Verträglichkeit dieses Medikaments hält der behandelnde Arzt unter Hinweis auf entsprechende Therapierichtlinien Routinelaborverlaufskontrollen für entbehrlich. Daneben wird von den Eltern der Klägerin als Notfallmedikament Diazepam eingesetzt. Darüber hinaus trägt die Klägerin einen Kopfschutz, um Kopfverletzungen bei Sturzanfällen zu vermeiden. Sie besucht eine Schule für Geistigbehinderte. Der behandelnde Arzt verweist darüber hinaus auf die Notwendigkeit einer krankengymnastischen Betreuung.

Das Krankheitsbild der Klägerin ist in der Türkei behandelbar. Nach den vorliegenden Erkenntnissen sind in der gesamten Türkei Antiepileptika in großer Auswahl erhältlich.

Vgl. Auskünfte der Deutschen Botschaft Ankara vom 28.11.2003 an das VG Kassel, vom 22.1.2002 an das Bundesamt, vom 24.9.2001 an das VG Bremen und vom 1.12.2000 an das VG Gelsenkirchen.

Eine stationäre Behandlung des Anfallsleidens ist in allen Krankenhäusern mit neurologischer Abteilung möglich.

Vgl. Auskünfte der Deutschen Botschaft Ankara vom 22.1.2002 an das Bundesamt, vom 24.9.2001 an das VG Bremen und vom 1.12.2000 an das VG Gelsenkirchen.

Darüber hinaus ist die Anfertigung eines Elektroenzephalogramms sowie die Durchführung von Laborkontrollen in den meisten Krankenhäusern möglich.

Vgl. Auskünfte der Deutschen Botschaft Ankara vom 22.1.2002 an das Bundesamt und vom 24.9.2001 an das VG Bremen.

Außerdem werden auch in der Türkei physiotherapeutische Programme angeboten und existieren Schulen für Geistigbehinderte.

Vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft Ankara vom 28.11.2003 an das VG Kassel.

b) Die in der Türkei grundsätzlich mögliche Behandlung des Krankheitsbildes der Klägerin ist für diese auch tatsächlich erreichbar.

Das türkische Gesundheitssystem ist neben privaten Leistungsangeboten geprägt von einem Netz staatlicher Gesundheitseinrichtungen, die eine medizinische Grundversorgung bieten. Erwerbstätige und ihre Familienangehörigen sind in der staatlichen Krankenversicherung versichert, die eine unentgeltliche Inanspruchnahme der staatlichen Gesundheitseinrichtungen ermöglicht. Daneben können auch Inhaber der yesil kart Behandlungen in den staatlichen Krankenhäusern und Gesundheitszentren unentgeltlich in Anspruch nehmen. Allerdings ist die Übernahme der Kosten für Medikamente, die nicht im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthaltes verabreicht werden, durch die yesil kart nicht gewährleistet.

Vgl. Auskünfte der Deutschen Botschaft Ankara vom 2.9.2004, 22.10.2003, 21.7.2003 und 12.7.2001 an das Bundesamt, vom 28.11.2003 an das VG Kassel und vom 24.10.2003 an das VG Köln; Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei vom 19.5.2004, 12.8.2003 und 20.3.2002; Kaya, Gutachten vom 3.5.2004 an das VG Düsseldorf, vom 10.2.2001 an das VG Bremen.

Soweit das Auswärtige Amt in einer älteren Auskunft,

Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 14.11.2000 an das VG Freiburg,

mitgeteilt hat, bei chronischen Krankheiten würden durch die yesil kart auch die Kosten für die dauerhaft notwendigen Arztbesuche und Medikamente übernommen, hat es daran in späteren Auskünften nicht festgehalten.

Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei vom 19.5.2004 und 12.8.2003, Auskünfte vom 8.3.2004 und vom 22.10.2003 an das Bundesamt; ferner ärztliche Stellungnahme des Vertrauensarztes der Deutschen Botschaft Ankara vom 25.11.2003 an das VG Kassel.

Eine derartige umfassende Kostenübernahme kann auch dem Text des Gesetzes Nr. 3816 über die Übernahme der Behandlungskosten von mittellosen Staatsangehörigen durch Ausstellung der yesil kart vom 18.6.1992 nicht entnommen werden. Einzelne Auskünfte sind allerdings wohl dahin zu verstehen, dass chronisch Kranke bei einer ambulanten Behandlung in einem staatlichen Krankenhaus auch Medikamente über die yesil kart erlangen können.

Vgl. Botschaftsbericht vom 9.5.2001; Stellungnahme des Vertrauensarztes der Deutschen Botschaft in Ankara vom 7.4.2004 an das VG Düsseldorf (für Insulin).

Allerdings können auf Antrag Medikamentenkosten sowie auch sonstige Kosten der medizinischen Versorgung, die weder durch eine Sozialversicherung noch über die yesil kart übernommen werden, vom Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität (Sosyal Yardimlasma Vakfi) getragen werden, wenn der Antragsteller bedürftig ist.

Vgl. Deutsche Botschaft Ankara, Auskünfte vom 2.9.2004, 22.10.2003, 21.7.2003 und 12.7.2001 an das Bundesamt, vom 28.11.2003 an das VG Kassel und vom 24.10.2003 an das VG Köln; Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei vom 19.5.2004, 12.8.2003 und 20.3.2002, Auskunft vom 6.2.2002 an das VG Gelsenkirchen; Kaya, Gutachten vom 3.5.2004 an das VG Düsseldorf, vom 10.2.2001 an das VG Bremen.

Die yesil kart wird nach dem Gesetz Nr. 3816 auf Antrag von den regionalen Behörden des Wohnsitzortes Personen erteilt, die nicht Mitglied einer Krankenversicherung sind und deren Einkommen ein Drittel des nach dem Arbeitsgesetz Nr. 1457 vorgesehenen Mindestlohnes nicht übersteigt. Der Antrag löst ein umfangreiches Überprüfungsverfahren aus, in dem durch Nachfrage bei zahlreichen Verwaltungsstellen die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Antragstellers geklärt werden. Nach ständiger Auskunft der Deutschen Botschaft Ankara und des Auswärtigen Amtes kann aufgrund dessen mit der Ausstellung der yesil kart ca. drei bis acht Wochen nach Antragstellung gerechnet werden; bei Fehlen von Unterlagen kann sich das Prüfungsverfahren noch verlängern.

Vgl. Deutsche Botschaft Ankara, Auskünfte vom 23.4.2004 an das VG Düsseldorf, vom 27.8.2002 an das Bundesamt, vom 9.5.2001 und vom 21.2.2001 an das VG Bremen; Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei vom 19.5.2004, 12.8.2003, 20.3.2002, 24.7.2001 und 22.6.2000.

Demgegenüber beziffert der Gutachter Kaya die Dauer des Ausstellungsverfahrens einer yesil kart in seinem Gutachten vom 12.1.2000 an das VG Saarlouis auf insgesamt ca. drei Monate, während nach seinen Ausführungen im Gutachten vom 3.5.2004 die angestellten Nachforschungen bis zu sechs Monate dauern können. Auch der Gutachter Taylan spricht in seinem Gutachten vom 13.5.2000 an das VG Hamburg von einer Prüfungsdauer von mehreren Monaten, in Einzelfällen von einem bzw. zwei Jahren. Für die Zeit bis zur Erteilung der yesil kart verweist das Auswärtige Amt in seinen Lageberichten darauf, dass nach Auskunft des Gesundheitsministeriums bzw. der Landratsämter bei Mittellosigkeit und Vorliegen akuter bzw. lebensgefährlicher Erkrankungen medizinische Hilfe in den staatlichen Krankenhäusern nicht verweigert werde. Dies wird von Taylan in seinem Gutachten vom 13.5.2000 zumindest für akute Verletzungen bestätigt. Auch Kaya gibt in seinem Gutachten vom 10.2.2001 die Angaben von Krankenhausärzten wieder, dass mittellose Personen, die zumindest einen Antrag auf Ausstellung der yesil kart oder beim Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität gestellt haben, in den staatlichen Krankenhäusern notwendige, nicht aufschiebbare Behandlung erhalten. Zugleich berichtet er jedoch von gegenteiligen Meldungen in Presse und Fernsehen. Weiter weist er auf die Möglichkeit hin, auch für die Zeit bis zur Ausstellung der yesil kart einen Antrag auf Kostenübernahme durch den Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität zu stellen. Allerdings geht er in seinem neueren Gutachten vom 3.5.2004 davon aus, dass die Bearbeitung dieses Antrages, dem ein ärztliches Attest und ein Armutszeugnis beigefügt werden muss, wegen der Überprüfung der Mittellosigkeit ebenfalls ein bis drei Monate dauern kann. Demgegenüber gibt das Bundesamt in seinem Online-Loseblattwerk Türkei, 8. Sozialwesen, den Vorsitzenden des Förderfonds mit der Aussage wieder, die Überprüfung der Mittellosigkeit eines Antragstellers dauere ca. fünf Tage. Zur Überbrückung dieser Zeit werde jedoch bereits eine Geldzahlung in einem Umfang von umgerechnet ca. 60,00 € geleistet.

Darüber hinaus beklagt Frau Dr. Penteker, Mitglied des Vereins Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, Ärzte in sozialer Verantwortung, pauschal die willkürliche Erteilung der yesil kart. Kurdischen Flüchtlingen in den türkischen Großstädten würde meist keine yesil kart ausgestellt.

Auskunft vom 8.7.1998 an das VG Braunschweig, Bericht über die 6. IPPNW-ÄrztInnen-Delegationsreise in die Türkei vom 12. bis 21.3.2001, Mai 2001.

Der Gutachter Oberdiek spricht in seinem Gutachten vom 27.4.2000 im Hinblick auf den erheblichen bürokratischen Aufwand von Ungerechtigkeiten. Auch die Schweizer Flüchtlingshilfe erwähnt in ihrem Papier 'Die medizinische Versorgungslage in der Türkei' vom 13.8.2003 Schwierigkeiten bei der Erlangung der yesil kart für politisch aktive Personen. Kaya führt in den genannten Gutachten die unterschiedliche Dauer des Ausstellungsverfahrens auch auf Bevorzugungen bzw. Benachteiligungen zurück.

Auch hinsichtlich der Hilfeleistungen seitens des Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität verweist Kaya in seinen Gutachten vom 10.2.2001 und 3.5.2004 darauf, dass die Kostenübernahme eines Antragsverfahrens bedürfe, sie letztlich im Ermessen der örtlichen Regierungsvertreter stehe und nicht immer alle entstandenen Kosten erstattet würden. Ausweislich der in dem Online-Loseblattwerk Türkei des Bundesamtes, 8. Sozialwesen, zusammengetragenen Informationen wird der Handlungsspielraum des Förderfonds auch durch personelle und finanzielle Vorgaben beschränkt.

Nach dieser Auskunftslage ist davon auszugehen, dass auch mittellose Personen in der Türkei grundsätzlich Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung haben, deren Erlangung jedoch mit nicht unerheblichem bürokratischen Aufwand verbunden ist, und dass dabei Unregelmäßigkeiten nicht ausgeschlossen werden können. Dass es gerade im Fall der Klägerin bzw. ihrer Eltern zu derartigen Unregelmäßigkeiten kommen wird, ist - da hierfür keine konkreten Anhaltspunkte vorliegen - nicht beachtlich wahrscheinlich. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, erwächst der Klägerin daraus keine beachtliche Gefahr einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung.

Die Klägerin ist in erster Linie auf eine regelmäßige medikamentöse Behandlung angewiesen. Die Kosten dafür belaufen sich nach Auskunft der behandelnden Ärzte in der Bundesrepublik Deutschland auf 35,00 € monatlich; darüber hinaus wird zur Notfallmedikation Diazepam vorgehalten, wovon 10 mg in der Bundesrepublik Deutschland 21,18 € kosten. Regelmäßige Laboruntersuchungen sind bei der aktuellen Medikamentierung nach Einschätzung des behandelnden Arztes nicht erforderlich. Ebenso wenig ergibt sich aus den vorliegenden Arztberichten die Notwendigkeit regelmäßiger stationärer Behandlungen.

Nach ausdrücklicher Zusage der Ausländerbehörde wird für den Fall der Rückkehr der Klägerin in die Türkei die Finanzierung der fortlaufenden Versorgung mit den erforderlichen Medikamenten jedenfalls für die Dauer von drei Monaten sichergestellt. Eine Unterbrechung der medikamentösen Behandlung der Klägerin im Zuge der Rückkehr in die Heimat und damit möglicherweise verbundener Orientierungsschwierigkeiten ist deshalb auszuschließen.

Geht man angesichts der ungünstigen Arbeitsmarktlage in der Türkei und der bisherigen Tätigkeit des Vaters der Klägerin in der Landwirtschaft davon aus, dass die Eltern nicht kurzfristig Arbeit finden und deshalb nicht in der staatlichen Krankenversicherung versichert sein werden, ist die Klägerin wegen der Übernahme der laufenden Medikamentenkosten auf die Möglichkeit einer Antragstellung beim Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität und im Übrigen auch auf die Beantragung einer yesil kart zu verweisen. Nach der oben dargestellten Erkenntnislage ist davon auszugehen, dass jedenfalls das Antragsverfahren beim Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität innerhalb von drei Monaten abgeschlossen sein wird. Dies würde der Klägerin auch weitere Behandlungsmöglichkeiten einschließlich stationärer Behandlungen eröffnen, sollte sich die Ausstellung der yesil kart länger als drei Monate verzögern. Konkrete Anhaltspunkte für die Annahme, der Klägerin würde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine yesil kart erteilt, sind auch unter Berücksichtigung der von Frau Dr. Penteker geäußerten Zweifel an der Regelmäßigkeit des Erteilungsverfahrens nicht erkennbar. Auch der Umstand, dass Unregelmäßigkeiten sowohl bei der Bearbeitung der Anträge auf Kostenerstattung durch den Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität und auf Erteilung einer yesil kart als auch bei der eigentlichen Leistungserbringung nicht vollkommen auszuschließen sind, rechtfertigt nicht die Annahme, die medizinische Versorgung der Klägerin sei in der Zukunft mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nicht durch die staatlichen Gesundheitseinrichtungen und die caritativen Hilfsangebote sichergestellt.

Ungeachtet dessen müsste sich die Klägerin, falls im Einzelfall kostenlose medizinische Versorgung nicht zu erlangen wäre, zur Abwehr von Gefahren für ihren Gesundheitszustand zunächst auf die Ausschöpfung sämtlicher eigener Finanzierungsmöglichkeiten verweisen lassen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin nach den Angaben ihrer Eltern sowohl in der Türkei als auch in der Bundesrepublik Deutschland über zahlreiche Verwandte verfügt. (Wird ausgeführt)

Zudem vermag der Senat bei Auswertung der umfangreich vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen nicht festzustellen, dass etwa zeitweilige Unterbrechungen oder Unregelmäßigkeiten der Behandlung der Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer wesentlichen oder gar lebensbedrohlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes führen würden. (Wird ausgeführt)

Liegen demnach schon die Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Klägerin nicht vor, kann die Frage offen bleiben, ob es sich bei den von der Klägerin geltend gemachten Unzulänglichkeiten des türkischen Gesundheitssystems insbesondere für mittellose Personen um eine allgemeine Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthaltsG handelt mit der Folge, dass wegen des Fehlens eines entsprechenden Abschiebestopperlasses Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthaltG nur unter erhöhten Voraussetzungen gewährt werden könnte.



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