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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 24.09.2009
Aktenzeichen: 8 B 1344/09.AK
Rechtsgebiete: VwGO, 9. BImSchV


Vorschriften:

VwGO § 80 Abs. 5 Satz 1
VwGO § 80 Abs. 5 Satz 3
VwGO § 80 a Abs. 1
VwGO § 80 a Abs. 3
9. BImSchV § 21 a
1. Der Antrag eines Vorhabenträgers, dass dem von einem Dritten gegen die Genehmigung (hier: immissionsschutzrechtliche Teilgenehmigung) eingelegten Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung zukommt, ist in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 5 Sätze 1 und 3 sowie § 80 a Abs. 1 und 3 VwGO zulässig.

2. Für die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs ist dann kein Raum, wenn der eingelegte Rechtsbehelf offensichtlich unzulässig ist, etwa weil der angefochtene Verwaltungsakt dem Kläger gegenüber - zweifelsfrei - unanfechtbar geworden ist.

3. Bei der Prüfung der Verwirkung einer Klage gegen eine - dem Kläger nicht zugestellte - Teilgenehmigung ist zu berücksichtigen, dass es dem Vorhabenträger, wenn er zeitnah an Rechtsklarheit über den Eintritt der Bestandskraft einer Genehmigung interessiert ist, möglich und zumutbar ist, gemäß § 21a der 9. BImSchV die öffentliche Bekanntmachung der Genehmigung zu beantragen, durch die die einmonatige Klagefrist in Gang gesetzt wird.


Tatbestand:

Die Antragstellerin begehrte im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Feststellung, dass die Klage des Beigeladenen gegen die 5. Teilgenehmigung betreffend die Errichtung des Steinkohlekraftwerks Datteln keine aufschiebende Wirkung hat. Nachdem der Rat der Stadt Datteln den Bebauungsplan Nr. 105 - E.ON Kraftwerk -, der einen ca. 76,5 ha großen Bereich im Südosten des Stadtgebiets erfasst und der die planungsrechtlichen Voraussetzungen für das Kraftwerk schaffen sollte, am 19.1.2007 bekannt gemacht hatte, erteilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin am 31.1.2007 den immissionsschutzrechtlichen Vorbescheid zur Errichtung und zum Betrieb eines Steinkohlekraftwerkes mit einer Feuerungswärmeleistung von 2.400 MW mit Nebenanlagen. Zugleich ordnete die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung des Vorbescheides an. Im Februar 2007 begann die Antragstellerin aufgrund der für sofort vollziehbar erklärten 1. Teilgenehmigung mit den Bauarbeiten. Der BUND, eine anerkannte Umweltorganisation, nahm einen am 14.2.2007 gestellten Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines am 9.2.2007 gegen den Vorbescheid und die 1. Teilgenehmigung erhobenen Widerspruchs (8 B 265/07.AK) später zurück. Zuvor hatten die Vertreter der Antragstellerin in einem Erörterungstermin vor dem Senat am 21.2.2007 erklärt, "dass sie sich für den Fall, dass eine Realisierung des Kraftwerkvorhabens aus genehmigungsrechtlichen Gründen endgültig scheitern sollte, gegenüber der Bezirksregierung Münster verpflichten, das in Rede stehende Baugelände wiederherzustellen und zu rekultivieren und für die beseitigten Gehölze mindestens in gleicher Größenordnung auf dem Gelände selbst (4 ha) und insgesamt in doppelter Größenordnung (also ggf. auch auf anderen Flächen) eine Kompensierung durch entsprechende Aufforstung zu schaffen, sofern die bereits vorbereitete Fläche nicht für ein anderes genehmigungsfähiges Projekt genutzt wird. Nachdem die Errichtung des Kraftwerks aufgrund weiterer Teilgenehmigungen fortgesetzt worden war, erhob der Beigeladene am 12.10.2007 gegen den Vorbescheid und die 1. Teilgenehmigung Klage (8 D 114/07.AK). Das OVG NRW erklärte mit Urteil vom 3.9.2009 den Bebauungsplan Nr. 105 - E.ON Kraftwerk - der Stadt Datteln auf Antrag des Beigeladenen, dessen Hofstelle ca. 1,3 km vom Plangebiet entfernt liegt, für unwirksam (10 D 121/07.NE). Unter Bezugnahme auf dieses Urteil erstreckte der Beigeladene am 11.9.2009 seine Klage im Verfahren 8 D 114/07.AK auf die 4. und 5. Teilgenehmigung, die er "am heutigen Tage erstmals per email von der Beklagten erhalten" habe.

Gründe:

1. Der Antrag ist in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 5 Sätze 1 und 3 sowie § 80 a Abs. 1 und 3 VwGO zulässig. Die Statthaftigkeit eines solchen Feststellungsantrags ist für die umgekehrte Fallgestaltung, dass der Rechtsbehelfsführer eine Entscheidung über die aufschiebende Wirkung seines Rechtsbehelfs begehrt, anerkannt.

Vgl. nur Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl. 2006, § 80 Rn. 164 und § 80a Rn. 36; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 80 Rn. 181, jeweils m.w.N.

Für den hier vorliegenden Fall, dass die Antragstellerin eine Entscheidung über die ihrer Auffassung nach nicht eingetretene aufschiebende Wirkung des von einem Dritten eingelegten Rechtsbehelfs begehrt, kann nichts anderes gelten. Da die Antragstellerin als Vorhabenträgerin davon ausgeht, dass sie von der ihr erteilten, nach ihrer Auffassung bestandskräftigen Genehmigung weiterhin Gebrauch machen darf, kann sie nicht darauf verwiesen werden, die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 a VwGO bei der Antragsgegnerin zu beantragen. Ein rechtlich erhebliches Feststellungsinteresse ergibt sich für sie daraus, dass die Antragsgegnerin mit ihrer Erklärung vom 16.9.2009 die Auffassung vertreten hat, dass die Klage gegen die 5. Teilgenehmigung aufschiebende Wirkung habe. Es kann der Antragstellerin nicht zugemutet werden, auf eine gerichtliche Erklärung zu verzichten und den Erlass einer behördlichen Stilllegungsverfügung zu riskieren.

2. Der Feststellungsantrag ist aber unbegründet.

a) Gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO haben Anfechtungsklagen aufschiebende Wirkung. Das gilt nach § 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO auch für Verwaltungsakte mit Doppelwirkung (§ 80 a VwGO). Ein Fall, in dem die aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO) entfällt, liegt hier nicht vor. Von der ihr durch § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO eingeräumten Befugnis, die sofortige Vollziehbarkeit im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden privaten Interesse eines Beteiligten anzuordnen, hat die Antragsgegnerin in Bezug auf die 5. Teilgenehmigung keinen Gebrauch gemacht.

Die aufschiebende Wirkung tritt unabhängig davon ein, ob der Rechtsbehelf begründet ist. Entsprechendes gilt grundsätzlich - vorbehaltlich gewisser, eng umgrenzter Ausnahmen - auch für einen unzulässigen Rechtsbehelf. Für eine aufschiebende Wirkung ist allerdings nach herrschender Auffassung, der sich der Senat anschließt, dann kein Raum, wenn der eingelegte Rechtsbehelf offensichtlich unzulässig ist, etwa weil der angefochtene Verwaltungsakt dem Kläger gegenüber - zweifelsfrei - unanfechtbar geworden ist.

Vgl. VGH Bad-Württ., Beschluss vom 3.6.2004 - 6 S 30/04 -, NJW 2004, 2690; Puttler, a. a. O., § 80 Rn. 32; Kopp/ Schenke, a. a. O., § 80 Rn 50; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann, VwGO, Stand: Okt. 2008, § 80 Rn. 62 ff., jeweils m.w.N.

b) Hiervon ausgehend ist der Feststellungsantrag nicht begründet. Die am 11.9.2009 erhobene Klage gegen die 5. Teilgenehmigung hat nach § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung. Eine offensichtliche Unzulässigkeit der Klage wegen Versäumung der Klagefrist oder Verwirkung des Klagerechts kann auf der Grundlage des gegenwärtigen Sach- und Streitstands nicht festgestellt werden.

aa) Die Klage gegen die 5. Teilgenehmigung vom 17.10.2008 ist nicht verspätet erhoben worden. Eine mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehene Ausfertigung des Bescheids wurde dem Beigeladenen nicht bekannt gegeben, so dass eine Frist für die Klageerhebung (§ 74 Abs. 1 VwGO) nicht in Lauf gesetzt wurde.

bb) Das hat aber nicht zur Folge, dass diese Teilgenehmigung zeitlich unbegrenzt anfechtbar wäre. Das nachbarliche Klagerecht kann vielmehr verwirkt werden. Die Annahme einer Verwirkung setzt nach den im Baurecht entwickelten Grundsätzen neben dem Verstreichen eines längeren Zeitraums seit der Möglichkeit der Geltendmachung eines Rechts besondere Umstände voraus, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Diese besonderen Umstände können sich insbesondere aus einem aktiven Tun des Nachbarn ergeben, beispielsweise Erklärungen, die der Bauherr als Einverständnis werten kann. Sie können aber auch aus einem bloßen Nichtstun des Nachbarn begründet sein, wenn der Nachbar aufgrund des bestehenden "nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses" nach Treu und Glauben verpflichtet ist, durch ein zumutbares aktives Handeln mitzuwirken, einen wirtschaftlichen Schaden des Bauherrn zu vermeiden oder den Vermögensverlust möglichst gering zu halten. Derartige "besondere Umstände" können vorliegen, wenn der Nachbar seine Pflicht zum Handeln verletzt hat, indem er nach Erkennen der Beeinträchtigung durch die Baumaßnahme nicht ungesäumt seine nachbarlichen Einwendungen geltend macht und seine Rechte erst wahrgenommen hat, als der Bauherr die - kostenaufwändigen - Bauarbeiten bereits beendet hatte.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 16.4.2002 - 4 B 8.02 -, BauR 2003, 1031.

Vorliegend fehlt es sowohl an dem Zeit- als auch an dem Umstandsmoment:

Es spricht Überwiegendes dafür, dass der Beigeladene von der 5. Teilgenehmigung erst deutlich nach der Antragstellerin, der die 5. Teilgenehmigung am 29.10.2008 zugestellt wurde, Kenntnis hatte bzw. hätte haben können. Anders als der BUND im Parallelverfahren (8 D 38/08.AK), der jedenfalls nachweislich durch die Klageerwiderung vom 27.2.2009 über den aktuellen Stand des Genehmigungsverfahrens - einschließlich der 5. Teilgenehmigung vom 17.10.2008 - informiert worden ist, hat der Beigeladene im Rahmen seines Klageverfahrens (8 D 114/07.AK) keine vergleichbare Mitteilung erhalten. Die zeitlich frühere Klageerwiderung vom 9.4.2008 in seinem Klageverfahren konnte sich noch nicht auf die zeitlich nachfolgende 5. Teilgenehmigung vom 17.10.2008 beziehen.

Die Erteilung der 5. Teilgenehmigung musste sich dem Beigeladenen auch nicht aufgrund von außen wahrnehmbarer Bauarbeiten, die objektiv erkennbar einer weiteren Teilgenehmigung zuzuordnen gewesen wären, aufdrängen. Dabei kann dahinstehen, ob der Beigeladene überhaupt gehalten war, sich mithilfe der von der Antragstellerin ins Internet gestellten Webcam-Aufnahmen über den Baufortschritt in gewissen - hier nicht näher zu bestimmenden - Zeitabständen zu informieren. Ungeachtet dessen spricht gegenwärtig jedenfalls nichts dafür, dass die Art der sichtbaren Bauarbeiten objektiv auf die Erteilung der 5. Teilgenehmigung schließen ließ. Aus den von der Beigeladenen vorgelegten Unterlagen ergibt sich, dass ab Sommer 2008 zunächst nur - aufgrund des vorzeitig zugelassenen Baubeginns - Gründungsmaßnahmen und die Erstellung von Bodenplatten in Angriff genommen worden sind. Wie ein außenstehender Dritter diese Arbeiten, soweit sie überhaupt über die Webcam zu sehen gewesen sein sollten, bestimmten Genehmigungen hätte zuordnen sollen, ist nicht ersichtlich. Die weiteren Bauarbeiten zur Realisierung der 5. Teilgenehmigung sind ohnehin nach den Angaben der Antragstellerin in der von ihr vorgelegten tabellarischen Übersicht erst wenige Tage vor der Klageerweiterung, nämlich am 8.9.2009, aufgenommen worden.

Damit kommt als Anknüpfungspunkt für ein Kennenmüssen allenfalls die Bekanntmachung der Öffentlichkeitsbeteiligung für die 6. Teilgenehmigung im Amtsblatt der Antragsgegnerin vom 30.1.2009 in Betracht. Ob die nachbarlichen Pflichten jedoch derart weit reichen, ist zweifelhaft. Zudem läge bis zur Klageerweiterung am 11.9.2009 kein "längerer Zeitraum" im Sinne der Verwirkungsrechtsprechung vor.

Jedenfalls wäre ein etwaiges Vertrauen der Antragstellerin darauf, dass der Beigeladene von einer Klageerhebung absehen würde, im vorliegenden Fall nicht schutzwürdig. Der Beigeladene hat weder durch aktives Tun noch dadurch, dass er von einer Klageerhebung bislang abgesehen hat, Anlass zu der Annahme gegeben, er würde von seinem Klagerecht keinen Gebrauch machen. Die Antragstellerin war bereits aufgrund des Normenkontrollverfahrens 10 D 121/07.NE und der anhängigen Klage 8 D 114/07.AK darüber informiert, dass der Beigeladene das Kraftwerksprojekt als solches und vor allem aufgrund der Nähe zu seiner landwirtschaftlichen Hofstelle an diesem konkreten Standort ablehnt. Die gegen den Standortvorbescheid und die 1. Teilgenehmigung gerichtete Klage hat er trotz des für ihn erkennbaren Baufortschritts fortgeführt. Ebenso hat er an dem parallel geführten weiteren Klageverfahren 11 D 27/08.AK (Neubau einer 380-kV-Hochspannungs-freileitung) festgehalten. Vor diesem Hintergrund konnten bei objektiver Betrachtung durchaus Kostengründe dafür sprechen, nicht jede einzelne Teilgenehmigung anzufechten. Darüber, dass er das Gesamtprojekt mit rechtlichen Mitteln verhindern möchte, hat der Beigeladene die Antragstellerin zu keinem Zeitpunkt im Unklaren gelassen.

Der Beigeladene muss sich auch nicht entgegen halten lassen, dass er der Antragstellerin mit der späten Klageerhebung einen anderenfalls nicht drohenden wirtschaftlichen Schaden zugefügt hätte. Die Beteiligten sind sich vielmehr darüber einig, dass die Verwirklichung des Gesamtvorhabens - jedenfalls in der jetzt genehmigten Form - maßgeblich davon abhängt, ob der Vorbescheid und die 1. Teilgenehmigung, die Gegenstand des anhängigen Verfahrens 8 D 114/07.AK sind, einer rechtlichen Überprüfung standhalten. Beide Entscheidungen der Genehmigungsbehörde setzen ein vorläufiges positives Gesamturteil (vgl. §§ 8 und 9 BImSchG) voraus, das der Beigeladene mit seiner Klage in Frage stellt.

Bei dieser Sachlage wäre es der Antragstellerin, wenn sie zeitnah an Rechtsklarheit über den Eintritt der Bestandskraft der 5. Teilgenehmigung interessiert war, möglich und zumutbar gewesen, gemäß § 21a der 9. BImSchV die öffentliche Bekanntmachung der Genehmigung zu beantragen, durch die die einmonatige Klagefrist in Gang gesetzt worden wäre.

Ende der Entscheidung

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