Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 13.04.2005
Aktenzeichen: 9 A 4592/03
Rechtsgebiete: AGT zur AVwGebO NRW, OWiG


Vorschriften:

AGT zur AVwGebO NRW 30.3.1
OWiG § 107 Abs. 5
Tarifstelle 30.3.1 AGT zur AVwGebO NRW in der Fassung vom 11.6.2002 ist wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht nichtig, soweit darin eine Gebühr für die Versendung von Bußgeldakten zur Abwicklung zivilrechtlicher Ansprüche oder Interessen vorgesehen ist. § 107 Abs. 5 OWiG trifft insoweit als vorrangige bundesrechtliche Norm eine abschließende Regelung.
Tatbestand:

Die Kläger betreiben eine Rechtsanwaltskanzlei. Sie beantragten am 18.11.2002 für einen Haftpflichtversicherer die Übersendung einer bei der Beklagten entstandenen Bußgeldakte. Diese kam dem Begehren nach und setzte dafür durch Bescheid vom 20.11.2002 eine Verwaltungsgebühr von 15,-- € fest.

Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren wies das VG die Klage ab.

Die Berufung hatte Erfolg.

Gründe:

Die gegen die Kläger festgesetzte Gebühr von 15,-- € für die Übersendung der Bußgeldakte lässt sich nicht auf die landesrechtliche Regelung nach §§ 1 Abs. 1, 2 des Gebührengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen in der Fassung der Bekanntmachung vom 23.8.1999, GV. NRW. S. 524, i.V.m. § 1 der Allgemeinen Verwaltungsgebührenordnung (AVwGebO NRW) in der hier geltenden Fassung vom 11.6.2002, GV. NRW. S. 223, und der Tarifstelle 30.3.1 des Allgemeinen Gebührentarifs (AGT) zur AVwGebO NRW stützen. Danach wird für die "Versendung von Akten/Bußgeldakten zur Abwicklung zivilrechtlicher Ansprüche oder Interessen" eine Gebühr zwischen 10,00 € und 50,00 € erhoben. Die landesrechtliche Tarifstelle ist wegen Verstoßes gegen die bundesrechtliche Regelung des § 107 Abs. 5 OWiG nichtig, soweit sie die Versendung von Bußgeldakten betrifft.

Nach dieser durch das OLG-Vertretungsänderungsgesetz vom 23.7.2002 (BGBl. I S. 2850) mit Wirkung zum 1.8.2002 eingefügten Vorschrift werden im Verfahren der Verwaltungsbehörde nach dem Gesetz über Ordnungswidrig-keiten von demjenigen, der die Versendung von Akten beantragt, je durchgeführte Sendung pauschal 8,-- € als Auslagen erhoben. Diese Vorschrift verdrängt als bundesrechtliche Regelung die genannten landesrechtlichen Vorschriften, weil sie denselben Sachverhalt abschließend regelt. Denn sie gilt für jede Art der Übersendung von Bußgeldakten, unabhängig davon, in wessen Interesse und zu welchem Zweck die Aktenübersendung erbeten wird.

Dem Wortlaut des § 107 Abs. 5 OWiG kann eine Einschränkung etwa dahin, dass nur der Verteidiger des von einem Bußgeldverfahren Betroffenen herangezogen werden soll, nicht entnommen werden. Die offene und umfassende Formulierung, dass von jedem, der die Versendung von Akten beantragt, die Aktenversendungspauschale erhoben wird, spricht vielmehr dafür, dass alle Fälle der Aktenübersendung erfasst werden sollen.

Auch aus der Systematik der einzelnen Regelungen in § 107 OWiG ergibt sich, dass sich Absatz 5 auf jeden Fall der Aktenübersendung nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten erstrecken soll. Grundsätzlich bestimmt Absatz 3 der Vorschrift, welche Auslagen gegenüber einem von einem Bußgeldbescheid Betroffenen zusätzlich zu den Gebühren zu erheben sind. Hätte die Kostenpauschale für die Aktenübersendung nur die Fälle der Übersendung im Interesse des Betroffenen erfassen sollen, hätte es nahe gelegen, Absatz 3 entsprechend zu ergänzen und allenfalls eine Erweiterung in Bezug auf den Kostenschuldner vorzunehmen (auch der beantragende Rechtsanwalt sollte als Kostenschuldner herangezogen werden können). Wenn demgegenüber ein eigener Absatz 5 geschaffen wurde, der ganz allgemein von "demjenigen, der die Versendung von Akten beantragt" spricht, so wird daraus deutlich, dass jede Aktenübersendung nach dem Gesetz gemeint sein soll, gleichgültig, ob es sich um eine solche im Rahmen eines anhängigen Bußgeldverfahrens, nach Abschluss des Verfahrens oder für ein anderes Verfahren handelt.

Vgl. Rebmann/Roth/Herrmann, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, Kommentar, 3. Aufl. (Stand 2004), § 107 Rdnr. 23 a.

Regelungen betreffend Aktenübersendung als besondere Ausgestaltung des Akteneinsichtsrechts sieht das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten nicht nur für den Verteidiger des von einem Bußgeldverfahren Betroffenen vor (§ 46 Abs. 1 OWiG, § 147 Abs. 4 StPO), sondern auch für den Rechtsanwalt eines durch eine Ordnungswidrigkeit Verletzten (§ 46 Abs. 3 Satz 2 2. Halbsatz OWiG, § 406 e Abs. 3 Satz 1 StPO) und ebenso für einen Rechtsanwalt, der - wie hier - die Übersendung der Bußgeldakte lediglich zur Regulierung zivilrechtlicher Ansprüche beantragt hat. Seit der Einfügung von § 475 StPO durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 vom 2.8.2000, BGBl. I S. 1253, können dem Rechtsanwalt einer Privatperson oder einer sonstigen Stelle, soweit ein berechtigtes Interesse dargelegt wird, auf Antrag nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 475 Abs. 3 Satz 2 StPO die Akten mit Ausnahme der Beweisstücke in seine Geschäftsräume oder seine Wohnung mitgegeben werden, soweit Akteneinsicht nach § 475 Abs. 2 StPO gewährt wird und nicht wichtige Gründe entgegenstehen. Davon wird auch die Versendung der Akten erfasst.

Zudem entspricht das umfassende Verständnis von § 107 Abs. 5 OWiG auch dem Willen des Gesetzgebers, wie er sich aus den Materialien erschließt. Mit der Einführung der Regelung sollte in Bußgeldverfahren vor den Verwaltungsbehörden eine Anpassung an die bereits im gerichtlichen Verfahren bestehende sogenannte Aktenübersendungspauschale nach Nr. 9003 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (KostVerzGKG) erfolgen, weil sachliche Gründe für eine unterschiedliche Regelung der beiden Verfahrensarten nicht bestünden.

Vgl. BT-Drucks. 14/3204.

Nach Nr. 9003 KostVerzGKG wird die Aktenversendungspauschale sowohl in Angelegenheiten der Rechtspflege als auch der Justizverwaltung erhoben.

Vgl. Hartmann, Kostengesetze, 32. Aufl. 2003, Nr. 9003 KV, Rdnr. 2.

Angelegenheiten der Justizverwaltung sind aber auch solche, in denen einem Dritten die Einsicht in Akten gestattet wird und ihm diese übersandt werden.

Der Bundesgesetzgeber ist zu einer solchen Regelung auch berechtigt gewesen. Denn er hat mit der Einführung des § 107 Abs. 5 OWiG von seiner Kompetenz im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Grundgesetz (GG), zu dem auch das Ordnungswidrigkeitenrecht zählt, vgl. Kunig in von Münch/Kunig, Grundgesetzkommentar 5. Aufl. 2003, Art. 74, Rdnr. 12 m.w.N., Gebrauch gemacht und damit eine gegenüber dem Landesrecht abschließende Regelung bezüglich der Kosten für Aktenübersendungen in Ordnungswidrigkeitenverfahren vor der Verwaltungsbehörde getroffen.

Rebmann/Roth/Herrmann a.a.O., § 107, Rdnr. 1.

Denn nach Art. 72 GG haben die Länder im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung die Befugnis zur Gesetzgebung nur, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat.

Die Tarifstelle 30.3.1 AGT zur AVwGebO NRW ist dementsprechend, soweit sie eine Gebührenregelung für die Versendung von Bußgeldakten trifft, wegen des Vorrangs der bundesrechtlichen Regelung (Art. 31 GG) nichtig. Zur Feststellung der Nichtigkeit ist der Senat auch berechtigt, weil es sich bei der Tarifstelle um eine untergesetzliche Rechtsvorschrift handelt.

Ende der Entscheidung

Zurück