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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 24.04.2007
Aktenzeichen: VerfGH 9/06
Rechtsgebiete: HG 2004/2005, HGrG, LHO


Vorschriften:

HG 2004/2005 § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
HGrG § 1 Satz 2
HGrG § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2
HGrG § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 lit. d
LHO § 13 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2
LHO § 18 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1
LHO § 25 Abs. 3
1. Von der in Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW normierten Regelverschuldungsgrenze darf grundsätzlich nur zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und darüber hinaus allenfalls zur Bewältigung exzeptioneller Sondersituationen abgewichen werden.

2. Eine derartige Sondersituation liegt nicht schon dann vor, wenn während des laufenden Haushaltsjahres ein Regierungswechsel erfolgt und die neue Landesregierung sich aufgrund der vorgefundenen Haushaltssituation nicht in der Lage sieht, die von ihr als zwingend notwendig erachteten Ausgaben ohne Überschreitung der Kreditgrenze zu tätigen.


Tatbestand:

Das Normenkontrollverfahren betraf Regelungen des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2005 (2. NHG 2005). Im Vordergrund stand die Frage, ob die dort erteilte Kreditermächtigung mit Art. 83 Satz 2 LV NRW vereinbar war. Die in den Haushaltsplan eingestellten Einnahmen aus Krediten überstiegen die Summe der veranschlagten Investitionen um 1,4251 Milliarden €. Nach Einschätzung des Gesetzgebers war die Einhaltung der in Art. 83 Satz 2 LV NRW normierten Regelkreditgrenze in Anbetracht der zwingenden Ausgabeverpflichtungen des Landes objektiv unmöglich.

Gründe:

Art. I Nr. 2 2. NHG 2005 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 HG 2004/2005 verstößt in dem in der Urteilsformel ausgesprochenen Umfang gegen Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW und ist nichtig.

Nach Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW dürfen die Einnahmen aus Krediten entsprechend den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in der Regel nur bis zur Höhe der Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen in den Haushaltsplan eingestellt werden. Die Regelung steht im Kontext mit Satz 1 der Vorschrift, der die Aufnahme von Krediten einem Gesetzesvorbehalt unterwirft und damit das in Art. 81 Abs. 1 LV NRW verankerte parlamentarische Bewilligungsrecht als Kern des Haushaltsverfassungsrechts ergänzt und sichert. Dieses beinhaltet, dass der Landtag durch Bewilligung der erforderlichen laufenden Mittel für die Deckung des Landesbedarfs sorgt. Eine Kreditaufnahme kommt als Finanzierungsmittel nur unter den Voraussetzungen des Art. 83 Satz 2 LV NRW in Betracht.

1. Die gemäß Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW im Regelfall einzuhaltende Verschuldungsgrenze wird durch die im Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2005 ausgesprochene Kreditermächtigung um 1.425,1 Mio. € überschritten.

a) Gegenstand der Begrenzungsregelung sind die "Einnahmen aus Krediten". Die Norm bezieht sich damit - anders als Art. 83 Satz 1 LV NRW - nicht auf das Gesamtvolumen der "Aufnahme von Krediten", sondern lediglich auf die Netto-Neuverschuldung. Daher bleiben Kreditaufnahmen, die der Umschuldung dienen, ebenso außer Betracht wie Kassenverstärkungskredite (vgl. Tettinger, in: Löwer/Tettinger, LV NRW, 2002, Art. 83, Rdn. 3 und 7; Geller/Kleinrahm, LV NRW, 3. Aufl. 1977, Art. 83, Anm. 3 b). Ausweislich des dem Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2005 anliegenden Kreditfinanzierungsplans beläuft sich die Netto-Neuverschuldung im Haushaltsjahr 2005 auf 7.388,7 Mio. EUR.

b) Schuldenbegrenzende Bezugsgröße ist die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten "Ausgaben für Investitionen". Eine abschließende Aufzählung derartiger Ausgaben enthält § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 des Gesetzes über die Grundsätze des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder (HGrG), der gemäß Art. 109 Abs. 3 GG, § 1 Satz 2 HGrG auch für das Landesverfassungsrecht verbindlich und in § 13 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 LHO inhaltsgleich übernommen worden ist. Die betreffenden Ausgaben werden nach den Verwaltungsvorschriften zur Haushaltssystematik des Landes Nordrhein-Westfalen (VV-HS) in den Hauptgruppen 7 und 8 des Gruppierungsplans dargestellt. Die sich hieraus ergebende Brutto-Investitionssumme wird zur Vermeidung von Doppelzählungen vermindert um Zuweisungen, Beiträge und sonstige Zuschüsse für Investitionen, die aus anderen öffentlichen Haushalten stammen und dort investiv berücksichtigt werden (Obergruppen 33 und 34). Hiervon ausgehend werden die Ausgaben für Investitionen in dem durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2005 geänderten Haushaltsplan mit 5.963,6 Mio. € veranschlagt.

Soweit die Antragsteller einen Nettoinvestitionsbegriff zugrundelegen wollen, ist dies nicht gerechtfertigt.

Wenn sie vortragen, entgegen der Staatspraxis sei im Rahmen von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW auf die Netto-Investitionen abzustellen, machen sie sich eine in Teilen der Literatur zu Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG vertretene Rechtsansicht zu eigen, der zufolge die Brutto-Investitionssumme um Abschreibungen und Erhaltungsinvestitionen zu kürzen ist (vgl. etwa Friauf, in: Isensee/Kirchhof Hrg., Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 1990, § 91, Rdn. 51). Diese Auffassung findet im Wortlaut von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW, der auf die veranschlagten Ausgaben für Investitionen abstellt, keine Stütze (ebenso zu der insoweit gleichlautenden Formulierung in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG Siekmann, in: Sachs Hrg., GG, 3. Aufl. 2003, Art. 115, Rdn. 42). Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift spricht gegen ein solches Verständnis. Nach der Vorstellung des verfassungsändernden Gesetzgebers ist der Begriff "Ausgaben für Investitionen" nicht auf Netto-Investitionen beschränkt, sondern umfasst unter anderem auch reine Erhaltungsinvestitionen (vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung, LT NRW-Drs. 7/617 vom 18.3.1971, S. 11). Zwar dürfte der Normzweck von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW (hierzu nachfolgend unter 2.b.cc) ein restriktives Verständnis des Investitionsbegriffs nahe legen. Dabei muss jedoch seine Operationalisierbarkeit gewahrt bleiben, da die Klarheit und Sicherheit der Berechnung notwendiges Element des verfassungsrechtlichen Kreditbegrenzungsgebots ist (ebenso Heintzen, in: Kunig Hrg., GG, 4./5. Aufl. 2003, Art. 115, Rdn. 14). Unter diesem Gesichtspunkt stellen die Netto-Investitionen keine geeignete Bezugsgröße dar, da eine entsprechende staatliche Vermögenszurechnung nicht vorliegt und eine sachgerechte Veranschlagung im Rahmen des kameralistischen Rechnungswesens nicht möglich ist (vgl. Heun, in: Dreier Hrg., GG, 2000, Art. 115, Rdn. 22; Heuer, Kommentar zum Haushaltsrecht, Art. 115 GG, Rdn. 12, Stand März 1996; Patzig, DÖV 1985, 293, 306). Auch die Antragsteller zeigen keine praktikable Möglichkeit zur Ermittlung der Netto-Investitionen auf. Ihre Bezugnahme auf die Haushaltspraxis der Freien Hansestadt Bremen gibt insoweit keinen näheren Aufschluss. Zwar ist in der zitierten Mitteilung des Senats zur Einbringung des Doppelhaushalts 2006/2007 (Bremische Bürgerschaft, Drs. 16/910 vom 7.2.2006) von den "Nettoinvestitionen" als Grenze der Kreditaufnahme die Rede. Wie sie sich errechnen, wird allerdings nicht ausgeführt. Im Übrigen definiert § 5 des Haushaltsgesetzentwurfs die "investiven Zwecke" unter Bezugnahme auf § 13 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 der Haushaltsordnung der Freien Hansestadt Bremen, der seinerseits textidentisch ist mit § 13 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 LHO NRW. Dies legt die Vermutung nahe, dass das Präfix "Netto" lediglich die - auch in Nordrhein-Westfalen praktizierte - Bereinigung der Brutto-Investitionssumme um solche Investitionszuschüsse bezeichnet, die aus anderen öffentlichen Haushalten stammen und dort investiv berücksichtigt werden.

Die Kritik der Antragsteller an der investiven Berücksichtigung der Kapitalzuführungen an den BLB NRW und die BVG NRW geht fehl. Hierbei handelt es sich um "Ausgaben für die Heraufsetzung des Kapitals von Unternehmen" im Sinne von § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 lit. d HGrG, die - nicht anders als sonstige Formen der Finanzinvestition - den Vermögensbestand des Landes positiv beeinflussen. Dem steht nicht entgegen, dass die Kapitalzuführungen mit der Maßgabe der Schuldentilgung erfolgen und somit aus Sicht der Landesunternehmungen faktisch den Charakter "durchlaufender Posten" haben. Denn § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 lit. d HGrG stellt nicht darauf ab, wie das heraufgesetzte Kapital anschließend verwendet wird; im Übrigen setzt sich der durch den Zufluss frischen Kapitals eintretende Vermögenszuwachs in der hierdurch ermöglichten Schuldentilgung in modifizierter Form fort. Die Entschuldung eines Landesunternehmens stellt eine zukunftsdienliche Investition im Sinne von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW dar, da sie dessen strategische Handlungsfähigkeit sichert und ausweitet und damit die Basis schafft für ein wirtschaftliches Gebaren, das den Zielen der Zukunftsgestaltung und dem Landeswohl verpflichtet ist. Entgegen der Ansicht der Antragsteller kommt es daher nicht darauf an, ob die Kapitalzuführungen an den BLB NRW und die BVG NRW bei diesen Unternehmungen zusätzliche Sachinvestitionen ermöglicht haben.

2. Die Überschreitung der Regelkreditgrenze ist nicht gerechtfertigt.

a) Die weitere Kreditaufnahme im Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2005 dient ausweislich der Begründung nicht der Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, sondern der Schließung einer im Verlauf des Haushaltsjahres 2005 aufgetretenen Deckungslücke.

b) Die Überschreitung der Kreditgrenze wird nicht dadurch gerechtfertigt, dass ihre Einhaltung nach Einschätzung des Haushaltsgesetzgebers objektiv unmöglich war. Die vom Landtag und von der Landesregierung vertretene gegenteilige Auffassung ist mit Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW nicht vereinbar. Die Auslegung dieser Vorschrift ergibt, dass von der durch sie normierten Regel grundsätzlich nur zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und darüber hinaus allenfalls zur Bewältigung - hier nicht in Rede stehender - exzeptioneller Sondersituationen abgewichen werden darf.

aa) Zwar besagt Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW nicht ausdrücklich, wann eine Ausnahme von der Verschuldungsgrenze in Betracht kommt. Insoweit unterscheidet sich der Wortlaut der Vorschrift von den entsprechenden Formulierungen in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 GG und § 18 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1 LHO, die gleichlautend bestimmen, dass Ausnahmen "nur" zulässig sind zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. In dieselbe Richtung deutet indes Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW mit der Wendung, dass die Verschuldungsgrenze "entsprechend den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in der Regel" einzuhalten ist. Die sprachliche Anknüpfung der Regelrechtsfolgenanordnung an die Zielvorgabe des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts indiziert, dass mögliche Ausnahmen von der Regel grundsätzlich auf konjunkturelle Störungssituationen beschränkt sind. Der Verzicht auf eine diese Eingrenzung eindeutig zum Ausdruck bringende Formulierung ("nur") lässt indes Raum für die Annahme, dass im Einzelfall auch eine anderweitig nicht steuerbare exzeptionelle Sondersituation eine übermäßige Kreditaufnahme rechtfertigen kann.

bb) Die Gebotenheit eines restriktiven Verständnisses des Ausnahmevorbehalts wird durch die Entstehungsgeschichte von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW bestätigt. Sie macht deutlich, dass der Verfassungsgeber die Möglichkeit einer Kreditgrenzenüberschreitung auf den Fall einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts beschränkt wissen wollte. Die Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung (LT NRW-Drs. 7/617 vom 18.3.1971, S. 11) führt insoweit aus: "Diese Grenze darf nur ausnahmsweise überschritten werden, dann nämlich, wenn (...) unter Einsatz kreditwirtschaftlicher Mittel das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht beeinflusst werden muss."

Darüber hinaus wird ausdrücklich festgestellt, dass Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW trotz sprachlicher Abweichung von Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG "dasselbe" meine.

In dieser Sichtweise kommt die der Finanzverfassungsreform zugrunde liegende konzeptionelle Neuorientierung zum Ausdruck. Durch die Änderung von Art. 83 LV NRW ist der bisherige objektbezogene Deckungsgrundsatz (Kredite nur bei außerordentlichem Bedarf und in der Regel nur für Investitionsausgaben) aufgegeben und durch einen situationsbezogenen - an den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts orientierten - Deckungsgrundsatz ersetzt worden. Dem liegt ein grundlegend gewandeltes Verständnis der Budgetfunktionen zugrunde. Ausgehend von der Erkenntnis, dass das staatliche Finanzwesen in erheblichem Umfang auf den allgemeinen Wirtschaftsablauf einwirkt, wird die Funktion des öffentlichen Haushalts nicht mehr auf die reine Bedarfsdeckung reduziert, sondern vorrangig ordnungsfinanzpolitisch definiert (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung, a.a.O., S. 5).

Als zentrales Element der Haushaltsrechtsreform kann dieser Paradigmenwechsel bei der Auslegung von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW nicht außer Betracht bleiben. Er legt es nahe, die ordnungsfinanzpolitische Intention der Vorschrift auch bei der Interpretation der Wortfolge "in der Regel" zur Geltung zu bringen und dementsprechend eine Ausnahme von der Regelkreditgrenze grundsätzlich nur zuzulassen, wenn sie der Bekämpfung einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts dient.

Hierfür spricht auch, dass die Neufassung von Art. 83 LV NRW die Kreditaufnahme nicht mehr an das Vorliegen eines "außerordentlichen Bedarfs" bindet. Dieses Tatbestandsmerkmal wirkte einerseits begrenzend, indem es eine Kreditfinanzierung des laufenden Verwaltungsbedarfs ausschloss. Andererseits bot es möglicherweise Raum für eine Kreditaufnahme aus Anlass einer außerordentlich schlechten Finanzlage (so für die entsprechend formulierten Regelungen in den dortigen Landesverfassungen: Hess. StGH, NVwZ-RR 2006, 657, 663; Saarl. VerfGH, AS RP-SL 11, 164, 171). Mit der konzeptionellen Neuausrichtung des Rechts der Staatsverschuldung ist das Merkmal des "außerordentlichen Bedarfs" als normatives Regulativ der Kreditaufnahme entfallen und durch das Gebot ihrer Kompatibilität mit den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ersetzt worden. Damit ist auf der einen Seite die Möglichkeit eröffnet, auch Ausgaben des laufenden Verwaltungsbedarfs durch Kredite zu finanzieren. Auf der anderen Seite kommt einer - wie auch immer zu bestimmenden - außerordentlich schlechten Finanzlage für sich genommen keine kreditermächtigende Relevanz mehr zu. Diesem letztgenannten Aspekt würde es tendenziell zuwider laufen, wenn eine derartige Finanzsituation als Ausnahme von der Kreditbegrenzungsregel des Art. 83 Abs. 2 Hs. 1 LV NRW qualifiziert würde.

cc) Zu diesem Ergebnis gelangt auch die teleologische Auslegung von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW. Die Vorschrift bezweckt den Schutz künftiger Generationen vor unbeschränkter Vorwälzung staatlicher Lasten. Bürger und Parlamente der Zukunft sollen davor bewahrt werden, den zur Bewältigung dann anstehender Probleme nach ihren Maßstäben benötigten finanziellen Spielraum zu verlieren. Dieser Schutz soll erreicht werden im Wege einer Kompensation zukunftsbelastender Einnahmen durch zukunftsbegünstigende Ausgaben (vgl. VerfGH NRW, OVGE 49, 278, 284 = NWVBl. 2003, 419, 423). Der mit der Kreditbegrenzungsregelung verfolgte Schutzzweck gründet in dem Prinzip der Generationengerechtigkeit und ist zugleich Ausdruck des Respekts vor der Gestaltungsbefugnis künftiger Gesetzgeber. Der hohe Rang dieser Schutzgüter legt ein restriktives Verständnis der Vorschrift nahe und spricht daher dafür, dass von dem Kreditbegrenzungsgebot des Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW grundsätzlich nur zur Abwehr einer Störung des dort ausdrücklich angesprochenen gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und darüber hinaus allenfalls zur Bewältigung einer exzeptionellen Sondersituation abgewichen werden darf.

Unter Berücksichtigung des Schutzzwecks von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW kommt eine derartige Sondersituation etwa in Betracht im Falle einer schweren Naturkatastrophe oder eines sonstigen Unglücksfalles mit sehr weitreichenden und kurzfristig regelungsbedürftigen Schadensfolgen. Sie liegt hingegen nicht schon dann vor, wenn während des laufenden Haushaltsjahres ein Regierungswechsel erfolgt und die neue Landesregierung sich aufgrund der vorgefundenen Haushaltssituation nicht in der Lage sieht, die von ihr als zwingend notwendig erachteten Ausgaben ohne Überschreitung der Kreditgrenze zu tätigen. Wahlperiode und Haushaltszyklus fallen nicht zusammen. Jeder neu gewählte Haushaltsgesetzgeber ist - unabhängig davon, ob sich die politischen Mehrheiten geändert haben oder nicht - mit der Notwendigkeit konfrontiert, von den jeweils konkret für ihn gegebenen Bedingungen auszugehen und sein Handeln danach einzurichten. Dies muss selbst dann gelten, wenn ein neu gewählter Haushaltsgesetzgeber eine Haushaltssituation vorfindet, die ihm keinen finanziellen Gestaltungsspielraum lässt. Gibt es Versäumnisse früherer Haushaltsgesetzgeber, muss er mit deren Folgen leben (BVerfGE 79, 311, 340). Sie sind kein Freibrief für eine beliebige Berufung auf den Ausnahmetatbestand von der Regelkreditgrenze (BerlVerfGH, NVwZ 2004, 210, 212). Die durch die vorgefundene Haushaltssituation bedingten temporären Einschränkungen stellen die politischen Gestaltungsmöglichkeiten des neu gewählten Parlaments nicht völlig in Frage. Denn diese werden durch das geltende Verfassungsrecht begrenzt, zu dem auch die restriktive Kreditbegrenzungsregelung des Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW gehört. Die Vorschrift ist haushaltsverfassungsrechtlicher Ausdruck des Demokratieprinzips. Indem sie den finanziellen Handlungsspielraum des aktuellen Gesetzgebers beschränkt, sichert sie die Handlungsfähigkeit künftiger Gesetzgeber. Sie trägt damit dem demokratischen Anliegen in generationenübergreifender Weise Rechnung. Die Verwurzelung der Kreditbegrenzungsregelung im Demokratieprinzip schließt es aus, ihre Verbindlichkeit unter Berufung auf ebendieses Prinzip für den Fall eines Regierungswechsels während des laufenden Haushaltsjahres zu relativieren. Die Periodizität der Legitimationserneuerung im Wege der Wahl bei gleichzeitiger Kontinuität der anstehenden Sach- und Finanzprobleme ist dem demokratischen Prinzip wesensimmanent. Entsprechendes gilt für die hiermit zwangsläufig einhergehende anfängliche Einschränkung der Gestaltungsmöglichkeiten des neu gewählten Parlaments. Das - politisch nachvollziehbare - Anliegen, diese zu erweitern und den hierfür erforderlichen finanziellen Spielraum bereits im Jahr der Neuwahl zu erschließen, rechtfertigt nicht eine Hintanstellung des Schutzes künftiger Generationen vor unbeschränkter Vorwälzung staatlicher Lasten. Dies gilt auch insoweit, als die Beengtheit des vorgefundenen finanziellen Spielraums auf Mindereinnahmen beruht, die ihrerseits Folge von unrealistisch hohen Einnahmeansätzen im Stammhaushalt sind. Soweit dieserhalb trotz gehöriger Sparanstrengungen eine zusätzliche Kreditaufnahme im Haushaltsvollzug erforderlich wird, ist ein sich hieraus ergebender Fehlbetrag in den Haushaltsplan des nächsten bzw. zweitnächsten Haushaltsjahres einzustellen (vgl. § 25 Abs. 3 Satz 1 LHO).

Die Anerkennung der von Landtag und Landesregierung postulierten Ausnahmebefugnis zur Überschreitung der Verfassungskreditgrenze liefe dem Schutzzweck von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW auch deshalb zuwider, weil die Einschätzung des Haushaltsgesetzgebers, er sei trotz Beschränkung der Ausgabenseite auf das unbedingt Notwendige zur Einhaltung der Kreditgrenze nicht in der Lage, nur in eingeschränktem Umfang gerichtlich überprüft werden könnte. Die Landesverfassung gibt nämlich nicht im Einzelnen vor, welche Ausgaben wann und in welcher Höhe zu leisten sind. So lässt sich etwa der in Art. 8 Abs. 3 Satz 1 LV NRW normierten staatlichen Schulförderungspflicht nicht entnehmen, ob und gegebenenfalls wie viele neue Lehrerstellen im Haushaltsjahr 2005 zu schaffen waren. Ebenso wenig kann aus Art. 8 Abs. 4 LV NRW i.V.m. Art. 7 Abs. 4 GG die exakte Höhe einer etwa erforderlichen Ersatzschulfinanzierung hergeleitet werden. Bezüglich derartiger Fragen steht dem Haushaltsgesetzgeber als Ausfluss seines politischen Handlungsermessens ein Beurteilungsspielraum zu, der es ausschließt, dass das Verfassungsgericht jeden einzelnen Haushaltsansatz unter dem Gesichtspunkt seiner verfassungsrechtlichen Unabdingbarkeit bewertet. Eine nur in eingeschränktem Umfang verfassungsgerichtlich überprüfbare Einschätzung des Haushaltsgesetzgebers bezüglich der Notwendigkeit von Ausgaben kann jedoch nicht über die Geltungsreichweite der Verfassungskredit-grenze entscheiden. Andernfalls würde die Ordnungs-, Steuerungs- und Kontrollfunktion dieses "hochrangigen Verfassungsgrundsatzes" (so BVerfGE 99, 57, 67 zur entsprechenden Vorschrift im schleswig-holsteinischen Landesverfassungsrecht) weitgehend obsolet.

Entgegen der Ansicht der Landesregierung lässt sich die Gefahr einer "Aushebelung" der Kontrollfunktion von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit nicht dadurch bannen, dass die Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers über die Notwendigkeit von Ausgaben am Maßstab der "Evidenz" überprüft wird. Denn zum einen ist unklar, nach welchen Kriterien die Evidenz ihrerseits zu bestimmen sein soll. Zum anderen schränkt dieses Kriterium den gesetzgeberischen Beurteilungsspielraum allenfalls graduell ein, lässt ihn - und damit die mangelnde Justiziabilität der postulierten Ausnahme vom Kreditbegrenzungsgebot - im Kern jedoch unberührt.

Eine Überschreitung der Kreditgrenze wegen "objektiver Unmöglichkeit" ihrer Einhaltung ist mit dem Schutzzweck von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW auch dann nicht vereinbar, wenn - wie vorliegend - die Landesregierung in dem betreffenden Haushaltsjahr die Erarbeitung eines Haushaltssanierungskonzepts in Angriff nimmt. Hierbei handelt es sich um ein Planungsprogramm, das Auskunft darüber gibt, innerhalb welchen Zeitfensters und durch welche Maßnahmen die Haushaltswirtschaft in eine Normallage zurückgeführt werden soll. Eine solche Planung hat jedoch keinen Einfluss auf die verfassungsrechtliche Beurteilung der Kreditgrenzenüberschreitung. Denn ein Zustand, der einer verfassungsrechtlichen Regel zuwiderläuft, ist nicht deshalb ausnahmsweise verfassungskonform, weil die Landesregierung bzw. der Gesetzgeber ihn für die Zukunft abzustellen beabsichtigt. Die in Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW vorgesehene Möglichkeit einer Ausnahme von der Regelkreditgrenze honoriert nicht schon das Bemühen um ihre künftige Einhaltung.

dd) Die systematische Auslegung von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW führt zu keinem anderen Ergebnis.

Entgegen der Annahme des Haushaltsgesetzgebers erfährt das Kreditbegrenzungsgebot keine "Korrektur" durch Art. 109 Abs. 1 GG i.V.m. dem finanzverfassungsrechtlichen Gebot des Grundgesetzes, dass die Länder in die Lage versetzt sein müssen, ihre verfassungsrechtlichen Aufgaben zu erfüllen (vgl. die Begründung zu Art. I des Entwurfs eines Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2005 in Anlage 5 des Gesetzentwurfs der Landesregierung, LT NRW-Drs. 14/300 vom 4.10.2005, S. 9 f., sub B.II). Diese Rechtsauffassung, die an entsprechende Erwägungen des BerlVerfGH (NVwZ 2004, 210, 213) anknüpft, vermag von ihrem Ansatz her nicht zu überzeugen. Denn die Möglichkeit einer Fruchtbarmachung von Bundesverfassungsrecht im Rahmen der systematischen Auslegung von Landesverfassungsrecht setzt einen parallelen thematischen Bezug voraus. Hieran fehlt es bei den in Rede stehenden Bestimmungen. Art. 109 Abs. 1 GG betrifft die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern und steht in keinem inhaltlichen Zusammenhang mit dem Staatsschuldenrecht der Länder. Das Gebot einer hinreichenden Finanzausstattung der Länder betrifft deren Ausgleichsansprüche untereinander und im Verhältnis zum Bund und enthält ebenfalls keine Aussage über die vom Landeshaushaltsgesetzgeber zu beachtende Kreditobergrenze (in diesem Sinne kritisch auch Pestalozza, LKV 2004, 63, 65; Rossi, DVBl. 2005, 269, 274).

Ebenfalls nicht durchgreifend ist die weitere Erwägung des Haushaltsgesetzgebers, das Kreditbegrenzungsgebot stehe in einem "Zielkonflikt" mit "bundesgesetzlichen Vorgaben sowie landesverfassungsrechtlich statuierten Aufgabenstellungen und -gewährleistungen", der im Wege einer "Abwägungsentscheidung" zu lösen sei (a.a.O., S. 14 f., sub B.II.4). Denn der postulierte "Zielkonflikt" ist nicht auf normativer, sondern auf faktischer Ebene angesiedelt. Es geht also nicht darum, dass die Geltungsansprüche zweier Normen in einem abstrakten Konkurrenzverhältnis zueinander stünden, das im Wege der Auslegung aufzulösen wäre. Vielmehr ergibt sich das geltend gemachte Dilemma erst aus der konkret gegebenen angespannten Haushaltssituation des Landes. Diese ist maßgeblich bedingt durch die hohe Staatsverschuldung, der die Kreditbegrenzungsregelung gerade entgegenwirken soll. Dies spricht gegen eine Relativierung ihrer Verbindlichkeit im Wege eines systematischen Auslegungsrekurses auf ausgabeninduzierende Rechtsvorschriften. Der Haushaltsgesetzgeber war hierdurch nicht gehindert, seiner Auffassung nach bestehenden verfassungswidrigen Zuständen - etwa im Bereich der Ersatzschulfinanzierung - durch Bewilligung von Nachtragshaushaltstiteln abzuhelfen. Er war allerdings gehalten, die hierfür erforderlichen Mittel durch anderweitige Einsparungen zu erwirtschaften oder den entsprechenden Fehlbetrag gemäß § 25 Abs. 3 LHO in den Haushaltsplan des Jahres 2006 bzw. 2007 einzustellen.

Im Übrigen fehlt es hinsichtlich der vom Haushaltsgesetzgeber in seine "Abwägung" eingestellten "landesverfassungsrechtlich begründete(n) Leistungspflichten" an einer näheren Konkretisierung ihrer normativen Grundlagen. In Betracht kommen Grundrechtsbestimmungen, Staatszielregelungen oder auch Verfassungsaufträge (vgl. Pestalozza, LKV 2004, 63, 65; Rossi, DVBl. 2005, 269, 274). Ihnen allen ist gemein, dass sie ein weitgehend unbestimmtes Normprogramm beinhalten und keine unmittelbaren Leistungspflichten begründen. Aufgrund ihres eher globalen Charakters sind diese Bestimmungen strukturell ungeeignet, die präzisen normativen Vorgaben des Kreditbegrenzungsgebots zu relativieren.

Der von Landtag und Landesregierung angeführte allgemeine Rechtsgrundsatz, dem zufolge Unmögliches nicht verlangt werden kann, mag auch im Haushaltsrecht grundsätzlich Geltung beanspruchen. Er berührt jedoch nicht die Verbindlichkeit des Kreditbegrenzungsgebots, sondern mag im Falle einer - etwaigen - Unmöglichkeit seiner Einhaltung die Entscheidungsträger von einer persönlichen Verantwortung freistellen.

Ende der Entscheidung

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