Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz
Urteil verkündet am 11.08.2006
Aktenzeichen: 10 A 10783/05.OVG
Rechtsgebiete: GG, AuslG 1990, AufenthG, AsylVfG, GFK, EU RL 20004/83 EG


Vorschriften:

GG Art. 16 a
AuslG 1990 § 51 Abs. 1
AuslG 1990 § 51
AufenthG § 60 Abs. 1
AufenthG § 60
AsylVfG § 73 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG § 73
GFK Art. 1 Abschnitt C Nr. 5 Satz 1
GFK Art. 1
EU RL 20004/83 EG
Der Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter und der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG ist für Schiiten irakischer Staatsangehörigkeit und arabischer oder persischer Herkunft aus dem Südirak grundsätzlich rechtmäßig.
OBERVERWALTUNGSGERICHT RHEINLAND-PFALZ IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

10 A 10783/05.OVG

In dem Verwaltungsrechtsstreit

wegen Asylrechts (Irak)

hat der 10. Senat des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz in Koblenz aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 11. August 2006, an der teilgenommen haben

Vizepräsident des Oberverwaltungsgerichts Steppling Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Falkenstett Richter am Oberverwaltungsgericht Hennig ehrenamtlicher Richter Chemotechniker Blaschka ehrenamtlicher Richter Sparkassenbetriebswirt Coßmann

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufungen der Kläger gegen die aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 27. April 2005 ergangenen Urteile des Verwaltungsgerichts Koblenz werden zurückgewiesen.

Die Kläger haben die Kosten der Berufungsverfahren zu tragen.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die im Jahre 1969 geborene Klägerin und der 1960 geborene Kläger, die nach religiösem Ritus getraut sind und in einer sog. Imanehe leben, sind irakische Staatsangehörige und muslimischen (schiitischen) Glaubens. Die Klägerin ist persischer Volkszugehörigkeit und in der Stadt Kerbala geboren, der Kläger ist arabischer Volkszugehörigkeit und stammt aus der Stadt Nadjaf. Sie wenden sich gegen den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 6. Oktober 2004, mit dem die Feststellung, dass bei ihnen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes vorliegen, widerrufen wurde.

Ihren Angaben zufolge sind sie Anfang April 2000 zusammen mit ihren beiden Kindern in Nadjaf, wo sie zuletzt gelebt haben, aufgebrochen. Sie haben sich mit dem Auto nach Suleimanyia begeben und von dort aus über die irakisch-iranische Grenze in den Iran. Einige Tage später haben sie die iranisch-türkische Grenze überquert und sind mit dem Bus nach Istanbul gefahren. Nach einem kurzen Aufenthalt dort sind sie aus der Türkei aus- und in die Bundesrepublik Deutschland eingereist.

Ihren alsbald gestellten Asylantrag begründete die Klägerin im Wesentlichen wie folgt: Sie sei im Irak geboren und auch irakische Staatsangehörige, sie sei aber persisch stämmig. Als sie acht Jahre alt gewesen sei, im Jahre 1977, hätten ihre Eltern mit ihr den Irak verlassen und seien in den Iran gezogen. Dort habe sie zehn Jahre lang die Schule besucht. Im Jahr 1988 habe sie den Kläger, der ebenfalls Iraker sei und sich einige Zeit im Iran aufgehalten habe, nach religiösem Ritus geheiratet. Sie beide seien dann 1989 in den Irak zurückgekehrt. Dort seien auch ihre beiden 1989 und 1992 geborenen Kinder zur Welt gekommen. Im Jahr 1993 sei sie mit der ganzen Familie in den Iran übergesiedelt. Dort seien sie wegen ihrer irakischen Staatsangehörigkeit benachteiligt worden und hätten im Jahr 1999 den Iran verlassen müssen. Sie seien in den Irak zurückgekehrt und hätten im Haus ihrer Schwiegermutter in Nadjaf gelebt. Dort sei sie sehr isoliert gewesen, weil sie anfangs nur Farsi gesprochen habe. Sie habe selten das Haus verlassen und wenn, dann sei sie als Perserin aufgefallen. Man habe sie für eine Spionin gehalten, deswegen habe sie auch Repressalien zu befürchten gehabt. - Diese Angaben bestätigte der Kläger und machte darüber hinaus geltend: Er habe in Nadjaf, wo seine Eltern gelebt hätten, die Schule besucht. Wehrdienst habe er nicht leisten müssen, weil er als untauglich gemustert worden sei. Seit 1990 sei er vom Rücken her total versteift, er könne sich kaum bewegen, Gehen sei ihm nur mit Schwierigkeiten möglich. Im Jahr 1999 hätten die Iraner sie aufgefordert, binnen 24 Stunden den Iran zu verlassen. Er sei dann mit seiner Familie zu seiner Mutter in das Haus in Nadjaf gezogen, sein Vater sei schon verstorben. Wegen der Herkunft der Klägerin habe man sie für Spione und Verräter gehalten, deswegen hätten sie auch Repressalien zu befürchten gehabt. Es sei hinzugekommen, dass sein Bruder wegen des Verkaufs bzw. Schmuggels von Waffen von den irakischen Sicherheitskräften gesucht worden sei. Immer wieder seien sie zu ihnen nach Hause gekommen und hätten sich nach dem verschwundenen Bruder erkundigt.

Daraufhin stellte das Bundesamt mit Bescheid vom 4. September 2000 ein Abschiebungsverbot gemäß § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes fest. Diese Entscheidung wurde zunächst wegen ungeklärter Staatsangehörigkeit der Klägerin zurückgenommen. Auf ihre Klage hin hob das Verwaltungsgericht Koblenz den Rücknahmebescheid mit Urteil vom 28. August 2002 (8 K 277/02.KO) auf.

Im Juli 2004 leitete das Bundesamt sodann das Widerrufsverfahren unter Hinweis darauf ein, dass sich die politische Situation im Irak grundlegend geändert habe. Demgegenüber machten die Kläger geltend, ungeachtet dessen seien die Gründe für die Beendigung des Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht gegeben. Danach reiche eine rein physische Sicherheit für Leib und Leben im Herkunftsland nicht aus. Erforderlich seien darüber hinaus ein funktionsfähiger Regierungs- und Verwaltungsapparat und eine demokratisch gewählte Regierung. Daran fehle es im Irak aber bislang.

Mit Bescheid vom 6. Oktober 2004 widerrief das Bundesamt den Bescheid vom 4. September 2000. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Die Feststellung nach § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes sei zwingend zu widerrufen, weil sich die innenpolitischen Verhältnisse im Irak inzwischen so grundlegend geändert hätten, dass eine politische Verfolgung der Kläger durch das frühere Regime Saddam Husseins auszuschließen sei. Nach den Kampfhandlungen und der ersten Phase der Besatzung hätten die USA die Regierungsgewalt an eine irakische Übergangsregierung übergeben. Damit und durch die weitere Entwicklung seien die Weichen für eine demokratische Neugestaltung des Irak gestellt.

Mit ihren fristgerecht hiergegen erhobenen Klagen haben die Kläger ihr bisheriges Vorbringen wiederholt und ergänzend darauf hingewiesen, dass es seit langer Zeit Spannungen gebe zwischen den Arabern und den Nichtarabern, den Persern. Deswegen befürchteten sie bei einer Rückkehr in den Irak für sich und ihre Familie Drangsalierungen. Es komme hinzu, dass der Bruder des Klägers mit Waffen gehandelt und diese geschmuggelt habe. Nach ihm werde gesucht, deswegen habe man auch das Haus der Mutter überfallen und durchsucht sowie sie verhört.

Das Verwaltungsgericht hat die Klagen mit Urteilen aufgrund mündlicher Verhandlung vom 27. April 2005 abgewiesen und sich dabei der vom Bundesamt vertretenden Auffassung angeschlossen.

Mit der vom Senat zugelassenen Berufung verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Zur Begründung verweisen sie insbesondere darauf, dass die Widerrufsregelung über den Wortlaut des § 73 Abs. 1 Satz 1 des Asylverfahrensgesetzes hinaus auch an der "Wegfall der Umstände"-Klausel des Art. 1 C (5) Satz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention und an Art. 11 Abs. 1 e der Richtlinie des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG) zu messen sei. Danach sei ein Widerruf erst dann zulässig, wenn sich die Verhältnisse im Herkunftsland grundlegend und dauerhaft geändert hätten und aufgrund dieser Veränderungen sicher gestellt sei, dass die Betroffenen im Herkunftsstaat effektiven Schutz erlangen können. Diese Voraussetzungen lägen zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Irak aber nicht vor.

Die Kläger beantragen,

unter Abänderung der aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 27. April 2005 ergangenen Urteile den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 6. Oktober 2004 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt

die Berufungen zurückzuweisen.

Unter Hinweis auf die obergerichtliche und höchstrichterliche Rechtsprechung macht sie geltend, dass die Frage der Schutzgewährung wegen der allgemeinen instabilen Verhältnisse im Herkunftsland für die Frage des Widerrufs der Rechtsstellung eines politischen Flüchtlings unerheblich sei. Hierfür komme es lediglich auf das Entfallen der Gefahr politischer Verfolgung an. Der darüber hinausgehende Schutz werde durch ausländerrechtliche Duldungen nach § 60 Abs. 7 Satz 2 bzw. § 60 a des Aufenthaltsgesetzes gewährleistet.

Wegen des Sach- und Streitstandes in allen Einzelheiten wird auf die zu den Akten gereichten Schriftsätze und Schriftstücke Bezug genommen sowie auf die das Verfahren betreffenden Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes. Diese Vorgänge sowie die in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse lagen dem Senat vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufungen der Kläger sind zulässig, aber unbegründet.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage der Kläger gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. Oktober 2004, mit dem die Feststellung, dass die Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (heute: § 60 Abs. 1 AufenthG) hinsichtlich des Irak erfüllen, widerrufen wurde, zu Recht abgewiesen. Denn dieser Widerrufsbescheid ist rechtmäßig.

Ermächtigungsgrundlage für den Widerruf ist § 73 AsylVfG in der seit dem In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004 ab dem 1. Januar 2005 geltenden Fassung. Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr gegeben sind. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 -, NVwZ 2006, 707 = AuAS 2006, 92) ist das insbesondere dann der Fall, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Heimatstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht. § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG wird dabei vom Bundesverwaltungsgericht als inhaltlich dem Art. 1 Abschnitt C (5) 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK) entsprechend ausgelegt. Dieser sieht vor, dass der Betroffene nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Ob dem Ausländer wegen allgemeiner Gefahren im Herkunftsland (z.B. aufgrund von Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage) eine Rückkehr unzumutbar ist, ist beim Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 AsylVfG nicht zu prüfen, sondern im Rahmen der allgemeinen ausländerrechtlichen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes zu berücksichtigen.

Zugleich ist mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts die Frage nach der Bedeutung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie) für den Widerruf beantwortet. Denn wenn das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 1. November 2005 auch nicht ausdrücklich auf die Qualifikationsrichtlinie zu sprechen gekommen ist, so hat es darin doch eindeutig zu erkennen gegeben, dass daraus jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt das Widerrufsrecht nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht eingeschränkt ist.

Diesem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. November 2005 hat sich der Senat aus Gründen der Rechtssicherheit bereits in seinen Urteilen vom 19. Mai 2006 (10 A 10795/05.OVG u.a. [rechtskräftig]) sowie weiteren Urteilen vom 11. August 2006 (10 A 11042/05.OVG u.a. [nicht rechtskräftig]) angeschlossen. An dieser Rechtsprechung hält er auch hier fest.

Auf der Grundlage dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung liegen hier die Voraussetzungen für den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (§ 60 Abs. 1 AufenthG) vor. Es haben sich nämlich seit dem Erlass des Bescheides vom 22. Oktober 2001 die maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich verändert. Auch eine solche Änderung der Verhältnisse hat das Bundesverwaltungsgericht für das Herkunftsland Irak nach dem Sturz des seinerzeitigen Diktators Saddam Hussein bereits festgestellt (Urteil vom 25. August 2004, AuAS 2005, 5 [7]). Fast zwei Jahre nach dieser in einem Revisionsverfahren getroffenen Feststellung erweist sie sich auch zur Beurteilung der gegenwärtigen Situation als zutreffend. Zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) geht der Senat in Fortschreibung seiner Urteile vom 19. Mai 2006 (10 A 10795/05.OVG u.a.) und vom 11. August 2006 (10 A 11042/05.OVG u.a.) im Sommer 2006 von folgender allgemeinen Lage im Irak aus:

Auch im gegenwärtigen Zeitpunkt steht der Irak mehr als drei Jahre nach dem Beginn des Krieges der USA gegen das Regime Saddam Husseins (immer noch) "am Scheideweg" (vgl. dazu und zum Folgenden: Fürtig: "Zwischen Modelldemokratie und Staatszerfall: Irak am Scheideweg", in: Ratsch/Mutz/Schoch/Hauswedell/Weller [Hg.]: Friedensgutachten 2005, Münster 2005, S. 33 - 42 - künftig: Friedensgutachten 2005). Der Entwicklungsweg des Irak ist nach Ansicht Fürtigs, die der Senat sich zueigen macht, auch nach den Ereignissen in diesem Jahr noch offen. Die Bandbreite der Möglichkeiten reicht vom Gelingen der politischen Rekonstruktion auf demokratischer Grundlage, über die Restauration einer konfessionellen oder ethnischen Vorherrschaft, den Ausbruch eines Bürgerkriegs bis hin zu einem Irak als Schauplatz des "Krieges der Kulturen". Die beiden letztgenannten Varianten bergen zusätzlich das Risiko eines Auseinanderbrechens des Irak in sich. Dieses breite Spektrum der möglichen Varianten resultiert vor allem aus dem Widerspruch zwischen dem Anspruch, mit dem die US-Regierung den 3. Golfkrieg begann, und der Realität, die sich aus dem Krieg ergeben hat.

Als Rechtfertigung des Krieges wurden zunächst die Existenz von Massenvernichtungswaffen sowie Verbindungen zwischen Saddam Hussein und Osama bin Laden bezeichnet. Als sich beide Gründe nicht hinreichend belegen ließen, wurden als weiterer Kriegsgrund die Befreiung des Irak und die Schaffung von Freiheit und Demokratie für das irakische Volk und weitere Völker der arabischen Welt genannt. Am 20. März 2003 begann der 3. Golfkrieg mit Luftangriffen auf Bagdad. Während die US-Truppen relativ schnell auch Bagdad einnahmen, die Spitzen des Regimes Saddam Husseins flohen und damit die US-Streitkräfte einen relativ leichten Sieg errangen, fiel die Stabilisierung und die beabsichtigte demokratische Neugestaltung des Irak sehr viel schwerer - und ob sie gelingt, ist heute noch ungewisser als zu Beginn des Krieges.

Den ersten Versuch einer Stabilisierung unternahm eine amerikanische Zivilverwaltung unter Führung des demissionierten Generals Jay Garner (vgl. dazu und zum folgenden: Fürtig: Kleine Geschichte des Irak, 2. Aufl., 2004, S. 150 ff - künftig: Kleine Geschichte - sowie ders.: Irak 2003, in: Deutsches Orient-Institut. Hanspeter Mattes [Hg.]: Nahost Jahrbuch 2003, 2004, S. 81 ff [ 84 ff.] - künftig: Jahrbuch 2003). Vorgesehen war eine rasche Übertragung der Regierungsgeschäfte an proamerikanische einheimische Politiker. Indessen wurde Garner schon nach wenigen Wochen abberufen und durch den neuen Zivilverwalter Paul Bremer ersetzt. Ziel Bremers war die Direktverwaltung des Irak durch die USA. Er ging das Kriminalitätsproblem offensiv an und löste die Ba'athpartei sowie die irakische Armee auf. Dies schuf neue Probleme. Denn die Auflösung der Ba'athpartei trieb die Masse der Mitläufer in den Untergrund oder zumindest in die Opposition. Die Liquidierung der Armee brachte 400.000 Bewaffnete um Lohn und Brot und beraubte den Irak seiner Sicherheitskräfte (vgl. dazu: Der Spiegel vom 28. Juni 2004).

Die Direktverwaltung trug dazu bei, dass die Mehrheit der irakischen Bevölkerung die US-Soldaten und die anderen Koalitionsstreitkräfte immer weniger als Befreier und immer mehr als Besatzer wahrnahm. Sie beteiligte sich zwar nicht am Widerstand und Terror, nahm ihn aber billigend hin. Der Irak kam nicht zur Ruhe, durchschnittlich starben nach Bremers Amtsübernahme täglich mindestens ein bis zwei Besatzungssoldaten. Bereits am 17. Juli 2003 sprach der CENTCOM-Kommandeur John Abizaid von einem regelrechten Guerillakrieg. Schon damals - im August 2003 - zeigte sich ein Phänomen, das in der Folgezeit immer wieder festzustellen war: Fahndungserfolge und Schläge gegen das frühere Regime und seine Repräsentanten führten nicht zum Abflauen des Terrors. Nachdem die Söhne Saddam Husseins, Uday und Qusay, bei einem Feuergefecht in Mossul am 22. Juli 2003 getötet worden waren, war der folgende Monat, der August 2003, der blutigste seit dem Ende der offiziellen Kampfhandlungen. Die alsbald ernannte provisorische Regierung war nach einem ethnisch-konfessionellen Proporz besetzt und brachte keine Stabilisierung. Rasch entstand die Wahrnehmung, dass die irakische Regierung von amerikanischen Beratern betrieben werde. Der Terror hielt unvermindert an. Im Oktober 2003 hatten die Besatzungstruppen mit 75 Toten die höchsten Verluste seit dem Kriegsende zu beklagen. Sogar der stellvertretende US-Verteidigungsminister Wolfowitz entkam nur knapp einem Anschlag.

Damit war wiederum ein Plan der USA zur Stabilisierung des Irak gescheitert und US-Präsident Bush erklärte seine Absicht, "die Iraker intensiver in die Regierung ihres Landes einzubeziehen". Daraufhin kam es zum sog. Bagdadabkommen. Danach wurde ein verbindlicher Zeitplan für die Übernahme der Regierungsgewalt durch einheimische Politiker aufgestellt, bis Ende Februar 2004 sollte eine Übergangsverfassung vorgelegt werden und bis Ende Mai 2004 sollte sich die provisorische Nationalversammlung konstituiert haben. Ein Markstein war das Datum des 30. Juni 2004. Zu diesem Zeitpunkt wollte man die Souveränität des Irak wiederhergestellt haben. Ein nächster Fixpunkt war der 15. März 2005. An diesem Tag sollten direkte Wahlen zu einer Verfassung gebenden Versammlung abgehalten werden. Als letzter Schritt war für den Dezember 2005 deren Ratifizierung durch einen Volksentscheid vorgesehen. Auf dieser Grundlage sollten dann allgemeine Wahlen zu einer neuen Regierung möglich sein (vgl. Fürtig, Friedensgutachten 2005, S. 35 sowie, Jahrbuch 2003, S. 87). Die Voraussetzungen für die Realisierung dieses ambitionierten Planes schienen gut, vor allem nachdem es den USA unter entscheidender Mithilfe der Kurden gelungen war, Saddam Hussein am 13. Dezember 2003 in der Nähe von Tikrit gefangen zu nehmen. Aber auch dies brachte nicht die allgemein erwartete Stabilisierung der innenpolitischen Verhältnisse.

Die folgenden 2 3/4 Jahre bis heute sind gekennzeichnet einerseits dadurch, dass die wesentlichen Bestimmungen des Bagdadabkommens erfüllt wurden - wenn auch nicht immer zum vorgesehenen Datum -, andererseits durch eine Fülle von Terroranschlägen, Entführungen, Sabotage und Instabilität.

Der politische Prozess zum Wiederaufbau politischer Institutionen kam besser voran, als man ursprünglich erwartet hatte. Im März 2004 wurde die Übergangsverfassung angenommen, Ende Juni 2004 kam es zur formalen Übergabe der Souveränität und im August 2004 trat die Provisorische Nationalversammlung zusammen (allerdings einige Monate später als geplant, zudem wurden die Mitglieder nicht gewählt, sondern per Akklamation bestätigt). Mit den Wahlen am 30. Januar 2005 für die nationale Übergangsversammlung gelang es, einen Markstein auf dem Weg zur demokratischen Neugestaltung termingerecht zu setzen - und das, obwohl der ursprüngliche Termin um sechs Wochen vorverlegt worden war.

Die Wahlen waren ein großer Erfolg, weil sie nicht nur nicht verschoben und auch nicht von Terroristen gestört wurden, sondern auch bei einer recht hohen Wahlbeteiligung von 58 % den festen Willen der Wählermehrheit zeigten, sich nicht einschüchtern zu lassen und das Schicksal selbst in die Hand nehmen zu wollen.

Wenn auch wieder mit Verzögerung und erst nach einem monatelangen Machtkampf wurden im April 2005 die wichtigsten Staatsämter besetzt. Ein sunnitischer Araber wurde Parlamentspräsident, der Führer der kurdischen PUK Dschalal Talabani Staatspräsident und der schiitische Politiker Ibrahim al-Dschaafari Ministerpräsident. Erst weitere Tage später konnte Premier Dschaafari sein Kabinett vorstellen. Aber auch dann waren einige Ministerposten nicht besetzt und eine Regierungserklärung fehlte auch noch (vgl. NZZ vom 4. Mai 2005).

Im August 2005 billigte das Parlament eine neue Verfassung. Diese wurde von den sunnitischen Parteien zunächst fast einhellig abgelehnt, weil sie vor allem mit den Passagen zum föderalen Staatsaufbau, zur Rolle des Islam und zur Verurteilung der Diktatur Saddam Husseins nicht einverstanden waren. (vgl. FAZ vom 29. August 2005). Nach Zugeständnissen vor allem die Schiiten gegenüber den Sunniten riefen dann doch Teile der sunnitischen Parteien ihre Anhänger zur Teilnahme am Mitte Oktober 2005 abgehaltenen Referendum über die neue Verfassung auf. Diese Verfassung wurde auch angenommen, weil die Sperrminorität der Sunniten (Ablehnung der Verfassung von mindestens 2/3 der Wähler in mindestens drei Provinzen) knapp nicht zum Tragen kam. Gleichwohl blieb die neue Verfassung ein Zankapfel. Nun wurde darum gestritten, in welchem Umfang noch Änderungen hieran vorgenommen werden und damit die Interessen der Sunniten und überhaupt der im Zentralirak lebenden Iraker berücksichtigt werden sollen (vgl. FR vom 9. November 2005).

Trotz dieser sehr starken Spannungen und Auseinandersetzungen im Vorfeld, die bis an den Rand eines Bürgerkrieges führten, waren die Wahlen am 15. Dezember 2005 zum irakischen Nationalparlament ein Erfolg. Diesmal beteiligten sich ganz überwiegend auch die sunnitischen Parteien an der Wahl und die Wahlbeteiligung war mit 75 % hoch. Zudem ging das Bündnis schiitischer Parteien "Vereinigte Irakische Allianz" als der erwartete klare Sieger hervor. Mit 128 (von 275 Sitzen) wurde sie die mit Abstand stärkste Fraktion. Allerdings fehlten ihr zehn Sitze zur absoluten Mehrheit (vgl. AA: Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtliche Lage vom 29. Juni 2006 [künftig: Lagebericht Juni 2006], S. 7). Dieser Umstand und die weitere Erwägung, eine breite Basis für die künftige Politik und etwaige Verfassungsänderungen zu schaffen, verhinderten dann die von vielen erwartete schnelle Regierungsbildung. Das Ringen um eine "Regierung der nationalen Versöhnung", die von allen drei großen Bevölkerungsgruppen - Schiiten, Kurden und Sunniten - mit getragen werden sollte, machte umfangreiche Sondierungsgespräche nötig. Diese zogen sich über Gebühr hin und der gesamte Prozeß der Regierungsbildung verlief quälend. Es dauerte monatelang, bis sich Schiiten und Kurden auf den Schiiten Dschawad al-Mailiki Ende April 2006 als Ministerpräsidenten haben einigen können. Fast einen weiteren Monat dauerte es dann noch, bis sich Ministerpräsident Maliki seine Minister (darunter auch einige sunnitische Politiker und eine Christin) durch das Parlament bestätigen lassen konnte. Allerdings konnten auch dann drei "Schlüsselministerien", das Innen- und das Verteidigungsministerium sowie das Ministerium für nationale Sicherheit erst nach einigen weiteren Wochen besetzt werden (vgl. AA, Lagebericht Juni 2006, S. 8).

Rückblickend kann man feststellen, dass das Bagdadabkommen und der Zeitplan weitgehend eingehalten wurden. Problematisch ist aber nach wie vor der Machtkampf der einzelnen Volksgruppen und Religionsgemeinschaften um die Besetzung der Staatsämter und die grundlegenden Aussagen in der Verfassung. Dabei scheint, als nähmen die Probleme und Konflikte noch zu, je mehr der Irak an Souveränität gewinnt und je konkreter es um die Aufsicht über die Erdölquellen und die Verteilung der Einnahmen hieraus geht.

Noch labiler erscheint dieser Prozess, wenn man dessen Begleitumstände berücksichtigt. Der gesamte, ohnehin sehr schwierige Prozess ist bis heute von ungeheurer Gewalt, von Terror und Instabilität begleitet. Bemerkenswert ist, dass diese Gewalt nicht nur bis auf den heutigen Tag anhält, sondern sich im Gegenteil noch steigert. Die Taktik hierbei, die Strategie und die Akteure sind schwer zu durchschauen. Opfer der Anschläge waren zunächst vor allem amerikanische Soldaten. Nach der Machtübernahme des Zivilverwalters Bremer Anfang Mai 2003 starben täglich mindestens ein bis zwei Soldaten (vgl. Fürtig, Jahrbuch 2003, S. 85). In der Folgezeit kamen in das Visier der Terroristen Iraker, die als Dolmetscher o.ä. bei und mit den Besatzungstruppen arbeiteten. Betroffen waren später gerade auch Christen (vgl. dazu den Beschluss des Senats vom 24. Januar 2005 - 10 A 10001/05.OVG). Darüber hinaus wurden zusehends Politiker und Regierungsbeamte ermordet, unter ihnen nicht zuletzt ehemalige Ba'ath-Kader, die sich zur Zusammenarbeit mit der neuen Regierung entschlossen hatten (vgl. NZZ vom 9. Dezember 2004).

Eine neue Dimension erhielten die Anschläge durch Selbstmordattentate und dadurch, dass immer öfter und immer mehr Schiiten Opfer des Terrors wurden. Im August 2003 wurden bei einem Anschlag mehr als 100 Schiiten und am 2. März 2004 beim Ashura-Fest fast 200 schiitische Pilger getötet (vgl. Fürtig, Friedensgutachten 2005, S. 39). Zu einer weiteren Eskalation kam es, als am 31. August 2005 anlässlich des Gedenkens an den Todestag des siebten Imams eine Massenpanik unter schiitischen Pilgern in Bagdad entstand. Nachdem bereits am Morgen Raketen auf das Heiligtum des Imams gefeuert worden waren, begann die Tragödie, als sich die Pilger auf einer Tigrisbrücke befanden. Ein Gerücht, dass unter ihnen auch Selbstmordattentäter seien, löste eine Massenpanik aus, bei der etwa tausend Pilger starben. Was schon als ein Fanal für einen Bürgerkrieg erschien, brachte aber das Unerwartete hervor: Sunniten, die die Katastrophe am Ufer erlebten, kamen den ertrinkenden Schiiten zu Hilfe und retteten Hunderte von Menschenleben. Dies und die Mahnungen schiitischer Führer wirkten besänftigend. "Diese Tragödie" - so der Sprecher von Großayatollah al-Sistani - "sollte alle Iraker näher zusammenbringen" (Focus vom 5. September 2005).

Dieser Appell blieb nicht ungehört. Er trug mit dazu bei, dass der befürchtete Bürgerkrieg unterblieb. Insbesondere die beiden großen Religionsgruppen, die Schiiten und die Sunniten, vermieden eine Eskalation. Die Konfrontation konnte sogar teilweise abgebaut werden Erschwert wurde dieser Prozess aber durch eine weitere Eskalation der Gewalt. Am verheerensten war am 22. oder 24. Februar 2006 der Anschlag auf die "Goldene Moschee" in Samarra, bei dem die Goldene Kuppel dieses sehr bedeutenden Heiligtums der Schiiten zerstört wurde. Dieser Frevel löste eine Welle von Gewalttaten zwischen Schiiten und Sunniten im ganzen Land aus. Dutzende Moscheen, vor allem sunnitische, aber auch schiitische, wurden zerstört. Mindestens 480 Menschen, meist Sunniten, denn ihnen schrieb man den Anschlag zu, kamen uns Leben. Obwohl viele dies als Fanal für einen hemmungslosen Bürgerkrieg ansahen und die Vergeltungsaktionen zwischen Schiiten und Sunniten sich fortsetzten, ist es zum letzten bislang nicht gekommen (Welt am Sonntag vom 27. Februar 2006, NZZ vom 22. März 2006). Wenn auch vorübergehend andere religiöse Minderheiten, wie etwa Christen, Opfer von Anschlägen wurden, so galten die meisten und schwersten Anschläge immer wieder Schiiten (vgl. NZZ vom 21. Februar 2005).

Inzwischen geht die militärische Opposition im Irak nach Ansicht von Sicherheitsexperten technisch und strategisch immer ausgeklügelter vor. Zwar gibt es nach wie vor Selbstmordattentate; weitaus häufiger aber werden nunmehr Sprengfallen eingesetzt oder Rettungswagen und Fahrzeuge ziviler Hilfsorganisationen gestohlen, um sie als fern gezündete Autobomben einzusetzen. Auffallend sind auch die zunehmenden Raketenangriffe auf Flugzeuge und Hubschrauber der Alliierten (vgl. Berliner Zeitung vom 6. April 2005). Mehr als hundert Anschläge gibt es heute täglich im Irak, doppelt so viele wie vor einem Jahr. 46 schwere Bombenanschläge mit jeweils mehreren Toten wurden im September 2005 verübt, etwa 400 Menschen kamen im November 2005 ums Leben, mehr als viermal so viele wie im Vergleichsmonat des Vorjahres. Der Tod droht vielerorts, an manchen Orten mehr als an anderen. So muss derjenige, der sich vor einer Polizeistation oder auch in der Nähe einer öffentlichen Einrichtung wie einem Krankenhaus aufhält, damit rechnen, Opfer eines Selbstmordattentats zu werden (Der Spiegel vom 5. Dezember 2005).

Für den einzelnen noch gefährlicher sind inzwischen die Entführungen - von Ausländern, aber auch von Irakern. Seit dem Ende des Krieges sind viele tausend Iraker verschleppt worden, allein aus Bagdad werden jeden Tag 10 bis 15 Entführungsfälle gemeldet. Mitunter liegt die Zahl doppelt so hoch, und das sind nur die gemeldeten Fälle. Typische Opfer dieser "Entführungsindustrie", die meist von kriminellen Banden betrieben wird, sind reiche Iraker, irakische Angestellte westlicher Firmen, Übersetzer und Mitarbeiter des US-Militärs, Politiker, Polizisten, Sicherheitsoffiziere, Ärzte, Lehrer und sogar Kinder (FAZ vom 30. November 2005, Der Spiegel vom 5. Dezember 2005).

All dies zeigt, dass das größte Problem im Irak die Sicherheitslage ist. Der Premierminister der früheren Übergangsregierung Ijad Alawi nannte sie kurz vor den Wahlen im Januar 2005 "unsere Katastrophe" (vgl. Der Spiegel vom 10. Januar 2005). Nicht anders beurteilte es der Alawi nachfolgende Ministerpräsident Dschaafari: "Sicherheit ist in der Tat das wichtigste Problem, und es ist deswegen so hoch kompliziert, weil wir es mit einer explosiven Mischung aus innerirakischen Faktoren und aus Entwicklungen jenseits unserer Grenzen zu tun haben" (vgl. Der Spiegel vom 21. März 2005). Auch der neueste Lagebericht des Auswärtigen Amtes von Juni 2006 spricht von einer "prekären" Sicherheitslage und stellt fest: "Durch tausende terroristische Anschläge und fortgesetzte offene Kampfhandlungen zwischen militanter Opposition einerseits sowie regulären Sicherheitskräften und Koalitionsstreitkräften andererseits hat sich die Lage seit Beendigung der Hauptkampfhandlungen Anfang Mai 2003 kontinuierlich verschlechtert. (...) Die andauernden Kampfhandlungen haben zahlreiche Opfer unter Zivilisten gefordert. Nichtregierungsorganisationen schätzen die Zahl auf über 30.00, einige gehen von 100.000 (...) aus." (Lagebericht Juni 2006, S. 15).

Premierminister Alawi machte für den Terror im Wesentlichen drei Gruppen verantwortlich: radikale islamische Gruppen, Anhänger des alten Regimes und Verbrecher, die Saddam Hussein noch kurz vor Krieg aus den Gefängnissen frei gelassen hatte. Alle diese Gruppen zusammen - so Alawi - ergäben eine schreckliche Mischung an Gewaltpotenzial, wobei es auch noch Querverbindungen gäbe; besonders gefährlich sei der Bin-Laden-Vertraute Abu Mussab al-Sarkawi, der ein "eigenes Terrornetz von üblen Leuten unterhalte" (so Alawi, Der Spiegel vom 16. August 2004). Der irakische Chef des Geheimdienstes geht davon aus, dass die irakische Terror- und Widerstandsfront 200.000 Mann zähle. Etwa 40.000 von ihnen seien hauptberuflich als Bombenleger und Scharfschützen aktiv, 160.000 als Teilzeitguerillas und Sympathisanten, die der kämpfenden Truppe Unterschlupf gewährten und sie mit Logistik versorgten. Das amerikanische Militär hat diesen Angaben nicht widersprochen, obwohl sie um das Zehnfache über die US-Schätzungen hinausgehen. (vgl. Der Spiegel vom 10. Januar 2005). Nach einer neuen amerikanischen Studie gibt es zurzeit mehr als hundert Widerstands- und Terrorgruppen. Sie haben "keinen Schwerpunkt, keine Führung, keine Hierarchie" und handeln nach dem Motto: "Je schlimmer, desto besser." (Der Spiegel vom 5. Dezember 2005).

Bei diesen Unruhen und diesem Blutvergießen trat mehr denn je die gefährliche Rolle der irakischen Milizen und Privatarmeen ins Blickfeld, vor allem die der bewaffneten schiitischen Verbände: Die von dem radikalen Schiitenprediger Muktada al-Sadr kommandierte Mahdi-Miliz und die Badr-Milizen des Revolutionsrates, eine mehr als 10.000 Mann starke Kampftruppe (NZZ vom 28. Februar 2006, Die Zeit vom 2. März 2006, Der Spiegel vom 6. März 2006).

Diesen Aufständischen und Terrorgruppen haben die Koalitionsstreitkräfte und die irakischen Sicherheitskräfte nichts Entscheidendes entgegenzusetzen. Die Besatzungstruppen haben Stützpunkte im Land, sind aber nicht überall im Land präsent. Vor allem meiden sie "No-go-Zonen", in denen sie keine permanenten Stützpunkte haben und in denen sie fast sicher angegriffen werden (vgl. Die Welt vom 20. September 2004). Immer wieder führen sie in verschiedenen Teilen des Landes Offensiven durch, der gewünschte Erfolg bleibt aber oft aus. In der Bevölkerung genießen die Besatzungstruppen wenig Sympathie. Spätestens seit dem Folterskandal in Bagdads Abu-Ghureib-Gefängnis Anfang Mai 2004 sind die USA als moralische Instanz desavouiert. Weitere Aktionen wie die Kämpfe in Falludscha und Mossul sowie die Bombardements von Ramadi haben ihrem Ansehen zusätzlich geschadet. Nach Auswertung einer Umfrage unter Irakern stellte der wissenschaftliche Leiter der Untersuchung fest: "Mit dem Folterskandal von Abu Ghureib haben die USA den Irak verloren." (Der Spiegel vom 12. Dezember 2005). Diese Stimmung ist seitdem nicht besser geworden, wurde doch Anfang Juni 2006 bekannt, dass bei einer Aktion der amerikanischen Marines im November 2005 in der zentralirakischen Stadt Haditha von diesen offensichtlich grundlos 24 Iraker getötet wurden (vgl. SZ vom 5. Juni 2006).

Vor allem die irakischen Sicherheitskräfte müssten die Lage stabilisieren, das geschieht aber nicht. Nach Auflösung der gesamten irakischen Armee war ein gänzlicher Neuaufbau erforderlich, der noch längst nicht abgeschlossen ist. Bei der Übergabe der Macht an die Übergangsregierung Ende Juni 2004 zählte die Armee, die auch zur Terrorbekämpfung im Innern eingesetzt werden soll, 3.000 Soldaten. Der Polizei gehörten nominell 120.000 Polizisten an, sie waren aber schlecht ausgerüstet. Nur dreiviertel von ihnen erschien überhaupt regelmäßig zum Dienst, erst die Hälfte von ihnen hatte irgendeine Form von Ausbildung erhalten (vgl. Der Spiegel vom 28. Juni 2004). Die Nationalgarde, die mit 40.000 Angehörigen die Hauptwaffe der Übergangsregierung im Kampf gegen Aufständische ist, wird eher als eine undisziplinierte Truppe angesehen, die zudem häufig Ziel von Anschlägen der Rebellen sei (vgl. NZZ vom 30. Dezember 2004). Daran hat sich in der Zwischenzeit wenig geändert. Nach einer Einschätzung des US-Verteidigungsministeriums sind die neu gebildeten irakischen Armee- und Polizeieinheiten für den Einsatz gegen Terroristen und Aufständische vorerst nur bedingt einsatzbereit. Lediglich drei von 107 Bataillonen seien voll einsatzfähig. Zudem erweise sich die Ausbildung von Irakern in westlichen Polizeitechniken besonders schwierig (vgl. NZZ vom 22. Juli 2005). Ein recht neues zusätzliches und nur sehr schwer zu lösendes Problem ist schließlich, dass die schiitische Mahdi-Miliz und die Badr-Milizen inzwischen mit Duldung des Innenministeriums die staatlichen Sicherheitskräfte unterwandert haben und weiter unterwandern (vgl. NZZ vom 21. Juni 2005, SZ vom 27. Juli 2005, NZZ vom 28. Februar 2006, Die Zeit vom 2. März 2006, Der Spiegel vom 6. März 2006).

Viele politische Beobachter und Akteure befürchten den offenen Ausbruch des Bürgerkriegs. Schon im Juni 2004 sprach der damalige irakische Außenminister diese Gefahr an (vgl. Der Spiegel vom 7. Juni 2004). Dann warnte der Ministerpräsident der Übergangsregierung Alawi vor den Wahlen im Januar 2005, Ziel der Terroristen sei es, "ethnische und religiöse Konflikte zu schaffen". Tatsächlich nahm nach den Wahlen, aus denen die Schiiten mit einer deutlichen Mehrheit hervorgingen, der Terror gegen sie weiter zu. Die schiitischen Führer sahen sich veranlasst, vor der Gefahr eines Bürgerkriegs zu warnen und sahen in den Anschlägen den Versuch, im Irak einen Religionskrieg zwischen Sunniten und Schiiten auszulösen (vgl. NZZ vom 21. Februar 2005). Mitte Juli 2005 schließlich rechnete nach einer Serie von Anschlägen gegen die Schiiten der Berater des schiitischen Großayatollahs Ali al-Sistani mit einem Bürgerkrieg, wenn die Sicherheitskräfte nicht endlich in der Lage seien, die Schiiten zu schützen, denn dann müssten deren Milizen aktiviert werden (vgl. Die Welt vom 19. Juli 2005). Wenn gleichwohl derzeit auch die aktuelle Gefahr eines Bürgerkrieges - insbesondere in Gestalt eines Krieges zwischen Sunniten und Schiiten - gebannt erscheint, bestehen die aufgezeigten Konflikte doch unverändert fort. Es bleiben die Aufständischen und Terroristen, die mit ihren Anschlägen einen Bürgerkrieg anzetteln wollen, es bleiben die interkonfessionellen Spannungen, vornehmlich zwischen Sunniten und Schiiten. Ebenso bleibt der Einfluss des Nachbarstaates Iran im Süden des Irak.

Die Prognose vieler Irak-Kenner ist dementsprechend düster. In nicht näher bezeichneten deutschen Sicherheitskreisen rechnet man kaum damit, dass der Irak bis zum Ende des Jahrzehnts "eine Erfolgsgeschichte" werde. Es wird sogar nicht ausgeschlossen, dass der Irak bald zu den "gescheiterten Staaten" gehört, die praktisch nur noch auf dem Papier stehen und tatsächlich in Chaos und Anarchie verfallen (Berliner Zeitung vom 6. April 2005). In einer kürzlich für die amerikanische Regierung verfassten Denkschrift "Sieben Schritte zu einer letzten Chance im Irak" heißt es, das Jahr 2006 werde die Entscheidung bringen. Es bleibe nur noch "ein Zeitfenster von sechs bis zwölf Monaten", um den Bürgerkrieg zu vermeiden. Vorrangiges Ziel sei es dabei nicht, Terroristen zu jagen, sondern weiten Teilen der Bevölkerung ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Wenn ein Minimum an Sicherheit hergestellt werden könne, sollten die Vereinten Nationen und die zivilen Organisationen in den Irak zurückkehren, um das "zertrümmerte Land" aufzubauen (Der Spiegel vom 6. März 2006). Äußerst besorgt sind die Politiker und Journalisten, die wegen des Konfessionalismus (und Tribalismus) eine "Libanisierung" des Irak fürchten (vgl. dazu: Fürtig, Friedensgutachten 2005, S. 42). Aufgrund der eigenen Erfahrungen in seinem Heimatland geht ein libanesischer Politologe davon aus, dass das irakische Modell des religiösen und stammesmäßigen Proporzes nicht aufgeht. Die meisten arabischen Gesellschaften, auch der Irak, seien ethnisch wie religiös vom Zerfall bedroht. "Jeder wird (...) sein eigenes Volk, seinen Stamm oder seine Konfession wählen. Das zerreißt den Staat und führt zu Gewalt und Bürgerkrieg" (Der Spiegel vom 5. Februar 2005).

In dieser äußerst gefährlichen Situation hat der neue Ministerpräsident Maliki inzwischen an Kompetenz und Ansehen gewonnen. Wenn auch seine ersten Erklärungen ("Wir Schiiten haben die Mehrheit, das müssen die Sunniten endlich kapieren. " - und: "Die Verfassung wird nicht mehr geändert, auch wenn in letzter Minute uns das Zugeständnis einer nochmaligen Überarbeitung abgerungen wurde.") wenig versöhnlich klangen, so hat er doch eine Reihe mutiger Initiativen ergriffen. So hat er einen Versöhnungsplan mit 24 Einzelpunkten vorgelegt. Mit diesem geht es darum, den blanken Terror vom nationalistischen Widerstand zu isolieren, den gedemütigten Sunniten eine Brücke zu bauen und die verschiedenen rivalisierenden Volksgruppen und Glaubensrichtungen zusammenzuführen - und damit das geschundene Land zu befrieden. Auch scheut sich Maliki, der selbst Schiit ist, nicht, gegen die Schiiten vorzugehen. So hat er über die südirakische, vor allem von Schiiten bewohnte Stadt Basra einen einmonatigen Ausnahmezustand und ganztägige Ausgangssperren verhängt. Zudem ist es seine Absicht, auch die schiitischen Milizen aufzulösen. Schließlich machte er den Vorschlag, zur Aufarbeitung der Vergangenheit eine Wahrheitskommission nach südafrikanischem Vorbild ins Leben zu rufen. Bei dieser Politik hat er auch die volle Unterstützung der amerikanischen Regierung (vgl. Das Parlament vom 28. Juni 2006, Der Spiegel vom 3. Juli 2006, FAZ vom 6. Juli 2006). Der Beginn der Amtszeit des neuen Ministerpräsidenten und seines Kabinetts fiel überdies zusammen mit der Tötung des seit vielen Monaten intensiv gesuchten al-Qaida-Führers al-Sarwaki durch die amerikanischen Interventionstruppen.

Trotz dieser für Maliki guten Vorzeichen hat er mit äußerst großen Problemen zu kämpfen. Seine Schwäche liegt, wie schon die seines Vorgängers Dschaafari, vor allem im Sicherheitsbereich. Er selbst verfügt über keine Miliz und die staatlichen Sicherheitskräfte sind weiterhin sehr schwach, die Polizei ist durch Aufständische und Milizen stark unterwandert und ihre Einsetzbarkeit ist äußerst gering (vgl. AA: Lagebericht Juni 2006, S. 13).

Dementsprechend ist auch dem neuen Ministerpräsidenten bislang kein Durchbruch zum Besseren gelungen. Sein Versöhnungsplan wird von immer mehr Gruppen und Einzelpersonen abgelehnt (vgl. FAZ vom 6. Juli 2006), der getötete al-Qaida-Chef al-Sarwaki hat sehr schnell einen Nachfolger gefunden (von dem es heißt, er habe jüngst zwei Geiseln eigenhändig die Kehlen durchgeschnitten, vgl. Berliner Zeitung vom 22. Juni 2006) und die Sicherheitslage im Irak hat sich seit seinem Amtsantritt noch einmal dramatisch verschlechtert (im Monat Mai 2006 starben seit Kriegsbeginn die meisten Menschen, allein im Bagdader Leichenschauhaus zählte man in diesem Jahr mehr als 6000 Mordopfer, vgl. Der Spiegel vom 12. Juni 2006 und vom 3. Juli 2006).

So Besorgnis erregend diese Einschätzungen auch sind, so zeigt die Analyse der gegenwärtigen Situation und die Vorschau auf die nähere Zukunft doch zweierlei: Zum einen, dass das bisherige Regime Saddam Husseins vollständig beseitigt ist. Seine Herrschaft war eine persönliche Diktatur. Saddam Hussein war Präsident und Ministerpräsident der Republik, Vorsitzender des Revolutionären Kommandorats als höchstem legislativen und exekutiven Organ des Irak, Oberbefehlshaber aller Streitkräfte, Generalsekretär der Ba'ath-Partei und ihres Militärbüros. Er war eine "Spinne im Zentrum des Machtnetzes des Irak" (so: Fürtig: Kleine Geschichte, S. 139). Zum anderen zeigt das Vorstehende, dass der Prozess der demokratischen Neugestaltung von ungeheurer Gewalt, Terror und Instabilität begleitet wird.

Vor diesem Hintergrund hat der Senat keinen Zweifel, dass sich die maßgeblichen Verhältnisse i.S.d. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 1. November 2005, DVBl. 2006, 511) nachträglich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Klägers in den Irak eine Wiederholung der für seine Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist. Denn Saddam Hussein und die sein Regime mit tragenden Personen sind inzwischen nicht nur alle auf der Flucht und durch das irakische Volk abgewählt, sondern zum Teil getötet oder außer Landes. Ihm selbst und seinen führenden Helfern, denen man habhaft werden konnte, wird zudem zurzeit der Prozess gemacht, ihnen droht die Todesstrafe, auf jeden Fall aber lebenslange Haft. Deshalb ist zum heutigen Zeitpunkt eine Verfolgung des Klägers wegen tatsächlicher oder vermeintlicher früherer Gegnerschaft zu Saddam Hussein und seinem damaligen Regime, die Anlass für die seinerzeitige Flucht aus dem Irak war, auszuschließen.

Angesichts der aufgezeigten innenpolitischen Situation droht den Klägern bei einer hier allein wegen des Asylrechts und seines Widerrufs in Betracht zu ziehende Rückkehr in den Irak auch keine politische Verfolgung aus anderen Gründen, d.h. aus solchen, die keinerlei Verknüpfung mehr mit den früheren aufweisen, die zur Anerkennung geführt haben.

Dabei ist zu sehen, dass die gegenwärtigen Verhältnisse im Irak außer durch die demokratische Neugestaltung von einer bürgerkriegsähnlichen Krisensituation mit geprägt ist. Wie beim Guerilla-Bürgerkrieg bleiben die nichtstaatlichen Akteure, die Terroristen und Gewalttäter, um keine Angriffsfläche zu bieten und um effektiv zu sein, im Verborgenen und höhlen das staatliche Gewaltmonopol fortschreitend aus. In dieser Situation erscheinen weniger die staatlichen Sicherheitskräfte als Verfolger, sondern eher schon die nichtstaatlichen Akteure, die durch das Aufeinanderhetzen vor allem der verschiedenen Religionsgemeinschaften den Staat weiter destabilisieren und den Bürgerkrieg provozieren wollen.

Von daher haben Schiiten wie die Kläger von den staatlichen Sicherheitskräften keine politische Verfolgung zu befürchten. Das gilt umso mehr, als sie mit über 60% nicht nur die Bevölkerungsmehrheit im Irak stellen, sondern nach den inzwischen abgehaltenen Wahlen über fast die absolute Mehrheit der Parlamentssitze verfügen und mit dem Ministerpräsidenten Maliki und der Mehrheit der Minister seines Kabinetts die gegenwärtige Regierung klar dominieren.

Aber auch von nichtstaatlichen Akteuren droht den Klägern als Schiiten keine politische Verfolgung. Dabei verkennt der Senat allerdings nicht, dass die Schiiten als Gruppe in einer Vielzahl von Fällen schweren Repressalien ausgesetzt sind. Dies hat historische und religiöse Gründe, die bis in die Gegenwart hineinreichen und in der augenblicklichen Phase sogar noch gravierender werden.

Die Schiiten sind die Angehörigen der Schia, der "Partei Alis" (Schi'at Ali). Das ist die Bezeichnung für all diejenigen Muslime, die Ali, den Vetter und Schwiegersohn Mohammeds, als dessen ersten rechtmäßigen Nachfolger anerkennen. Damit unterscheiden sie sich von den anderen Muslimen, vor allem von den Sunniten, die getreu der historischen Realität in Abu Bakr (gest. 634), Umar (gest. 644), Utman (gest. 656) und dann erst in Ali (gest. 661) die vier ersten rechtgeleiteten Kalifen sehen (vgl. dazu und zum Folgenden: Halm: Sunniten und Schiiten am Persischen Golf, in: Geographische Rundschau 2005, Heft 11, S. 42 ff.; FAZ vom 30. September 2005). Leitsatz der Schiiten ist: Wer Nachfolger Mohammeds ist, entscheidet Gott und wurde durch Mohammed verkündet. In diesem Sinne ist Ali der erste rechtmäßige Nachfolger Mohammeds und nach ihm derjenige seiner Nachkommen, der die Voraussetzungen für das Amt erfüllt. Die eigentliche Entzweiung zwischen Schiiten und Sunniten vollzog sich nach Alis Tod. Die Schiiten hielten nämlich zu seinen Söhnen Hasan (gest. 669) und Husain (getötet 680). Das Martyrium des 3. Imams Husain, des Enkels Mohammeds, ist bis heute der Dreh- und Angelpunkt des schiitischen Glaubens. Husain war mit seiner Familie und einer kleinen Schar Getreuer von Mekka nach Kufa (heute: Südirak) gekommen, um sein Recht auf die Nachfolge seines Großvaters und seines Vaters Ali geltend zu machen. Der Gouverneur von Kufa, der Staathalter des Kalifen von Damaskus, ließ sie aber nicht in die Stadt hinein. Vielmehr wurden sie von Soldaten verfolgt und bei Kerbala (im heutigen Südirak) kam es zu einem Massaker, bei dem Husain und seine männlichen Begleiter von den Soldaten getötet wurden. Aus diesem Martyrium ist das wohl höchste Fest der Schiiten hervorgegangen, das Aschura-("Zehner"-)Fest am 10. des Monats Muharram. Dabei gedenken die Schitten mit Klageliedern, Prozessionen, blutigen Selbstgeißelungen und Passionsspielen der Ermordung Husains.

Husains Tod brachte die Spaltung des Islam in Sunniten und Schiiten, die von beiden Seiten mit starken Emotionen belastet ist. Seit Jahrhunderten verfluchen die Schiiten all jene, denen sie die Schuld an Husains Tod und an der Verdrängung der Prophetenfamilie von der politischen Macht geben, vor allem auch die ersten Nachfolger Mohammeds, die Kalifen Abu Bakr, Umar und Utman. Diese sind für die Sunniten verehrenswürdige Prophetengefährten und Garanten der islamischen Überlieferung, der Sunna. Den Schiiten gelten sie hingegen verbrecherische Usurpatoren. Das Aschura-Fest der Schiiten ist seitdem immer wieder Anlass für handgreifliche, gelegentlich auch blutige Auseinandersetzungen der Sunniten mit den Schiiten.

Die Schiiten waren Jahrhunderte lang eine Minderheit in ihrer jeweiligen Umgebung im Nahen Osten und standen meist in Opposition zur jeweiligen politischen Herrschaft. Lediglich im Iran war es das Königshaus der Safawiden (1501 - 1722), das die Schia zum offiziellen staatlichen Bekenntnis machte. Diese Religionspolitik wirkt bis heute fort. Der Iran ist seit 1979, seit dem Sieg der islamischen Revolution, das einzige Land der Welt, in dem nicht nur die Schia Staatsreligion ist, sondern schiitische Religionsgelehrte zugleich die Macht im Staat ausüben.

Die Geschichte der Schiiten im Irak verlief hingegen in der Neuzeit anders. Im Irak, der Jahrhunderte lang zum Osmanischen Reich gehörte, waren die Schiiten gegenüber den Sunniten zurückgesetzt und dies war im gesellschaftlichen Bewusstsein tief verankert (vgl. Fürtig: Kleine Geschichte, S. 96). Allerdings gab es in jener Zeit nur relativ wenige Schiiten im Irak. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts waren die für Schiiten heiligen Städte Kerbala (mit dem Grab Husains in der Nähe) und Nadjaf (mit dem Grab Alis) sowie die Stadt Samarra und der Stadtteil al-Kadhimiyya im Norden von Bagdad schiitische Inseln. Sie waren bewohnt von Religionsgelehrten mit ihren Familien und Schülern; fast alle waren Iraner oder iranischer Abkunft. Als die Türken begannen, die im Süden des heutigen Irak lebenden arabischen Beduinen mit Gewalt sesshaft zu machen, fanden diese schiitischen Gelehrten von Nadjaf und Kerbala ein fruchtbares Feld für ihre schiitische Mission. So wurde im 19. Jahrhundert der ganze Süden des Irak schiitisch, wobei die ganz überwiegende Zahl der Schiiten arabischer Herkunft waren und sind (vgl. Halm, in: Geographische Rundschau 2005, Heft 11, S. 43 f.).

Dieser sehr starken Bevölkerungsgruppe gestanden die Osmanischen Herrscher erst im Jahr 1908 das Recht auf freie Religionsausübung zu. Das bedeutete aber keinesfalls die soziale und politische Gleichberechtigung der Schiiten mit den Sunniten. Diese Benachteiligung setzte sich in dem neu entstandenen Staatsgebilde Irak fort. Mitte der 1970er Jahre beispielsweise waren nur 5,7 % der höheren Führungsränge mit Schiiten besetzt. Das korrespondierte mit der Tatsache, dass die Hauptsiedlungsgebiete der Schiiten südlich von Bagdad zur selben Zeit zu den Regionen mit dem geringsten staatlichen Investitionsvolumen gehörten (vgl. Fürtig, Kleine Geschichte, S. 96).

Unter dem Regime Saddam Husseins verschlechterte sich noch deren Situation dramatisch. Die schiitische Bevölkerungsmehrheit zählt zu den Hauptopfern des Diktators. Die größten Verfolgungen erlitt sie im Vorfeld und im Zuge des 1. Golfkrieges, des Kriegs Saddam Husseins gegen den Iran (1980 - 1988). Nachdem es im Jahr 1980 Schiitenunruhen im Südirak gegeben hatte und der Groß-Ayatollah Muhammad Baqir al-Sadr zusammen mit seiner Schwester auf Geheiß Saddam Husseins exekutiert wurde, verfolgte das Regime Saddam Husseins die Schiiten und deportierte Zehntausende von ihnen in den Iran. Diese "ethnischen Säuberungen" waren dann das Vorspiel zum irakisch-iranischen Krieg (vgl. Fürtig: Kleine Geschichte, S. 167; Die Welt vom 19. Oktober 2005).

Zur nächsten massenhaften Verfolgung der Schiiten kam es unmittelbar nach der Beendigung des 2. Golfkrieges, des Kriegs Saddam Husseins gegen Kuweit (1990 - 1991). Kurz nach Kriegsende hatten sich die Schiiten im Südirak - ermuntert durch die Amerikaner - gegen Saddam Hussein erhoben. Da die damalige von den USA geführte Kriegskoalition ihren Marsch auf Bagdad stoppte und nichts unternahm, um das Regime zu stürzen, konnte Saddam Hussein gegen die Aufständischen vorgehen. Mit äußerster Brutalität wurden die heiligen Städte Nadjaf und Kerbala bombardiert und geplündert. Zudem trieben Artillerie, Kampfpanzer und Flugzeuge die Schiiten im Süden in unwirtliche Sümpfe. Es gab tausende von Toten. Als schiitische Stämme in der Sumpflandschaft des Schatt al-Arab mehrere irakische Einheiten aufgerieben hatten, die versucht hatten, in die Sümpfe vorzudringen, begann das Regime umgehend mit der Trockenlegung dieser Sumpflandschaft. Damit zerstörte Saddam Hussein nicht nur eine der ältesten Agrarlandschaften der Geschichte, sondern raubte Zehntausenden Menschen ihre Lebensgrundlagen.

Das letzte Massaker an den Schiiten ereignete sich im Jahr 1999. Nachdem Saddam Hussein den führenden schiitischen Geistlichen Ayat Allah al-Sayyid Mohammed Sadiq al-Sadr mit zweien seiner Söhne in Nadjaf hatte ermorden lassen und sich die Schiiten ein weiteres Mal gegen das Regime erhoben hatten, wurden auch diese Unruhen blutig niedergeschlagen (vgl. Halm, in: Geographische Rundschau, 2005, S. 45 f.; Die Welt vom 19. Oktober 2005).

Angesichts dieser Geschichte und des skizzierten religiösen Hintergrundes waren die Schiiten im Irak bis vor kurzem eine benachteiligte, unterdrückte und auch verfolgte Mehrheit, die anders als die (sunnitischen) Kurden im Norden des Irak nicht so autonom gelebt haben und auch gegenwärtig nicht so autonom leben. Die Schiiten sind immer wieder in Anschläge und Entführungen involviert. Diese gehen - soweit sie nicht ohnehin einen rein kriminellen Hintergrund haben - vornehmlich von sunnitischen Arabern aus. Sie provozieren Vergeltungsschläge der Schiiten, vor allem von deren Milizen (vgl. dazu jetzt auch die Äußerung des amerikanischen Botschafters im Irak, Zalmay Khalilzad: "Es gibt einen Teufelskreis: Die Terroristen wollen Bürgerkrieg. Die Qaida greift die Schiiten an. Die schiitischen Milizen rächen sich an den Sunniten. Und die Sunniten werden extremistischer, manche schließen sich der Qaida an", zit. nach: Der Spiegel vom 3. Juni 2006).

An diesen Auseinandersetzungen und Gewaltakten sind die Schiiten auch als Angreifer und Täter beteiligt. Des Öfteren sind es die schiitischen Milizen, die zuerst gegen die Sunniten und ihre religiösen Orte vorgehen. Es kommt hinzu, dass das Verhältnis der Schiiten untereinander nicht spannungsfrei ist. "Die Schiiten" gibt es bei genauerer Betrachtung nicht, sie bilden keinen monolithischen Block. Auch unter ihnen gibt es unterschiedliche Tendenzen und zum Teil und vorübergehend massive Rivalitäten. Grund dafür sind etwa die verschiedenen religiösen Strömungen, Schulen, denen die Repräsentanten, die Groß-Ayatollah, angehören und die dann ihre Anhänger beeinflussen. Weitere Unterschiede ergeben sich aus der ethnischen oder biografischen Herkunft, stammen doch nicht wenige geistliche Führer aus dem Iran und haben sich auch viele Schiiten (teilweise auch gezwungenermaßen aufgrund der Deportationen) in den 1980er und 1990er Jahren im Iran aufgehalten. Schließlich kommen noch unterschiedliche politische Einstellungen zum Tragen, insbesondere auch hinsichtlich des Verhältnisses zur Gewalt (vgl. FAZ vom 23. April 2003; FAZ vom 16. April 2004 "Bruderzwist im Hause Ali"; FAZ vom 18. August 2004; FR vom 23. August 2004).

Außerdem ist das Verhältnis der Schiiten zu den Interventionstruppen eher zwiespältig. Anders als bei den Kurden ist bei ihnen nicht vergessen, dass sie bei ihrem Aufstand im Jahre 1991 von den Amerikanern im Stich gelassen wurden; sie fühlten sich damals verraten und das prägt noch heute ihr kollektives Bewusstsein (vgl. Halm, in: Geographische Rundschau, 2005,S. 46). Zudem haben auch die Briten, deren Interventionstruppen im Süden stationiert sind, in den Augen der Iraker schwerwiegende Fehler begangen und dadurch erheblich an Sympathie verloren (vgl. NZZ vom 28. Oktober 2005). Nach einer Umfrage im November 2005 befürworteten in den vor allem von Schiiten bewohnten Südregion nur 58 % für den Einmarsch der Interventionsstreitkräfte, während 38 % sich dagegen aussprachen, 59 % waren gegen eine Präsenz der alliierten Truppen im Irak (37 % dafür) und 51 % (gegenüber 43 %) empfanden die Art und Weise, wie die USA und die übrigen alliierten Truppen seit dem Krieg ihren Verpflichtungen nachkommen als schlecht (vgl. Der Spiegel vom 12. Dezember 2005; s. auch: FAZ vom 8. Mai 2006).

Nimmt man all dies in den Blick, so ist für den Senat eine politische Verfolgung der Schiiten "wegen" ihres Glaubens nicht erkennbar. Die sehr große Zahl ihrer Opfer erklärt sich vornehmlich daraus, dass sie die eindeutige Bevölkerungsmehrheit darstellen. Bei "wahllosen und willkürlichen" Attentaten auf belebten Plätzen, Märkten u.a. droht ihnen schon rein statistisch gesehen die größte Gefahr aller Bevölkerungsgruppen - ohne dass dies allerdings eine politische Verfolgung darstellt. Da die Schiiten selbst bewaffnete Milizen unterhalten, die im Widerstand gegen die Interventionsstreitkräfte, in Auseinandersetzungen mit sunnitischen Militanten und Terroristen stehen und sich teilweise auch selbst bekämpfen, vermag der Senat auch in diesen Gewaltakten, sofern Schiiten Opfer sind, keine politische Verfolgung zu erkennen. Anders ist es hingegen bei Anschlägen auf schiitische Moscheen und Gläubige, insbesondere auf Wallfahrten und an religiösen Festen und vor Moscheen. Wenn diese auch immer wieder vorkommen und dann viele schiitische Opfer zu beklagen sind - wie im August 2003 bei einem Anschlag mit mehr als 100 schiitischen Toten, am 2. März 2004 beim Ashura-Fest mit fast 200 getöteten schiitischen Pilgern, am 31. August 2005 bei einer Massenpanik auf der Tigrisbrücke in Bagdad mit etwa 1.000 getöteten Pilgern und dem Anschlag am 22. Februar 2006 auf die "Goldene Moschee" in Samarra - so stellen diese doch auch in ihrer Gesamtheit und in ihrer Wirkung auf die schiitische Bevölkerung insgesamt keine politische Verfolgung dar, von der sich gleichsam jeder Schiit betroffen fühlen müsste. Dies relativiert sich, wenn man bedenkt, dass es im Irak gegenwärtig schätzungsweise 15 Millionen Schiiten gibt und dass die Anschläge und Morde auf Pilger und Moscheen einen konkreten räumlichen und zeitlichen Anknüpfungspunkt haben und man als "einfacher Schiit" es durchaus vermeiden kann, sich in solche Gefahrensituationen unmittelbar zu begeben.

Es kommt noch die besondere Situation von Nadjaf hinzu, der Stadt, in der der Kläger geboren ist, die Kläger zuletzt im Irak gelebt haben und in der Angehörige des Klägers auch gegenwärtig noch leben. Denn die fast eine Million Einwohner zählende Großstadt Nadjaf ist auch heute eine der wichtigsten Städte der Schiiten, befindet sich dort doch das Grab des Imam Ali mit seiner weithin sichtbaren goldenen Kuppel. Es ist das Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit, in dem auch viele iranische Schiiten studieren. Einem Bericht zufolge ist Nadjaf fest im Griff der schiitischen Geistlichkeit (FAZ vom 2. August 2003). Längst ist dort eine für Außenstehende unsichtbare Ordnung entstanden, die ohne Soldaten und irakische Polizei lautlos und gut funktioniert. Dort herrscht kein Chaos wie in anderen Gebieten des Landes. Plünderungen und Rachakte hat es kaum gegeben, obwohl Saddam Hussein Zehntausende Menschen aus Nadjaf hinrichten und mehr als 40.000 verschleppen ließ. Abschließend wird in dem Bericht ein Mann mit den Worten zitiert: "Wir wollen die Amerikaner hier nicht haben; unsere eigenen Leute sorgen gut für uns" (FAZ vom 2. August 2004).

Von daher können die Kläger als Schiiten nach Nadjaf zurückkehren, ohne dass sie politische Verfolgung zu befürchten haben.

Keine der Klägerin günstigere Betrachtungsweise ergibt sich aus dem Umstand, dass sie persischer Herkunft ist. Das gilt gerade auch im Hinblick auf eine Rückkehr nach Nadjaf. Denn wie zuvor ausgeführt, war schon früher Nadjaf eines der Zentren persischer schiitischer Religionsgelehrter und ihrer Anhänger. Noch bis vor einigen Jahren war etwa die Hälfte der Bevölkerung von Nadjaf iranischen Ursprungs. Viele flüchteten allerdings vor der Unterdrückung durch Saddam Hussein in den Iran bzw. wurden dorthin verschleppt, jedoch kehren sie inzwischen wieder nach Nadjaf zurück (vgl. FAZ vom 23. April 2003). Auch studieren viele schiitische Iraner in Nadjaf. Dort unterrichtet u.a. der GroßAyatollah al-Sistani, der selbst iranischer Herkunft (vgl. FAZ vom 2. August 2003). Von daher hält es der erkennende Senat für praktisch ausgeschlossen, dass die Klägerin wegen ihrer persischen Herkunft politische Verfolgung zu befürchten hat.

Letztlich ist auch nicht nachvollziehbar, dass dem Kläger politische Verfolgung durch die irakischen Sicherheitskräfte wegen seines Bruders droht. Die angeblich von seinem Bruder begangenen Verfehlungen haben keinen erkennbaren politischen Hintergrund. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass nach dem Kläger deswegen nach nunmehr mehreren Jahren gesucht wird, geschweige denn, dass dies im Sinne des Flüchtlingsrechts eine politische Verfolgung sein könnte. Dies hat er auch selbst nicht näher dargetan. Im Übrigen ist nach der aufgezeigten Situation in Nadjaf nicht erkennbar, dass irakische Sicherheitskräfte überhaupt einer Strafverfolgung nachgehen können.

Angesichts der sich daraus ergebenden Unwahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung kommt es zur Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits auch nicht darauf an, welcher Maßstab für die zu treffende Prognoseentscheidung hierfür maßgeblich ist (offen gelassen auch von BVerwG, Urteil vom 1. November 2005, NVwZ 2006, 707 = AuAS 2006, 92).

Liegen damit die Voraussetzungen für den zwingend vorgeschriebenen Widerruf vor, so hat nach alledem das Verwaltungsgericht die Klagen dagegen zu Recht abgewiesen.

Danach konnten die Berufungen keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 159 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten folgt aus § 167 VwGO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe der in § 132 Abs. 2 VwGO bezeichneten Art nicht vorliegen.

Ende der Entscheidung

Zurück