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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz
Urteil verkündet am 19.05.2006
Aktenzeichen: 10 A 10795/05.OVG
Rechtsgebiete: GG, AuslG 1990, AufenthG, AsylVfG, GFK, EU RL 20004/83 EG


Vorschriften:

GG Art. 16 a
AuslG 1990 § 51 Abs. 1
AuslG 1990 § 53
AufenthG § 60 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 7
AufenthG, § 60
AsylVfG § 73 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG § 73
GFK Art. 1 Abschnitt C Nr. 5 Satz 1
GFK Art. 1
EU RL 20004/83 EG
Der Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter und der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG ist für Kurden irakischer Staatsangehörigkeit aus dem Nordirak grundsätzlich rechtmäßig.

Für sie bestehen generell auch keine Abschiebungsverbote nach § 53 AuslG 1990 bzw. § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG.


OBERVERWALTUNGSGERICHT RHEINLAND-PFALZ IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

10 A 10795/05.OVG

In dem Verwaltungsrechtsstreit

wegen Asylrechts (Irak)

hat der 10. Senat des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz in Koblenz aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 19. Mai 2006, an der teilgenommen haben

Vizepräsident des Oberverwaltungsgerichts Steppling Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Falkenstett Richter am Oberverwaltungsgericht Hennig ehrenamtliche Richterin Buchhalterin Glässer ehrenamtliche Richterin Versicherungskauffrau Hoffmann

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufungen der Kläger gegen die Urteile des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 27. April 2005 und vom 30. Mai 2005 werden zurückgewiesen.

Die Kläger haben die Kosten der Berufungsverfahren zu tragen.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der im Jahre 1933 geborene Kläger und die 1940 geborene Klägerin sind Eheleute und irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit und muslimischen (sunnitischen) Glaubens; sie stammen aus der nordirakischen Stadt Erbil. Sie wenden sich gegen die Bescheide des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 3. bzw. 6. September 2004, mit denen ihre Anerkennung als Asylberechtigte und die Feststellung, dass bei ihnen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes vorliegen, widerrufen wurden.

Ende 1985 verließen die Kläger zusammen mit einer weiteren Frau des Klägers sowie deren Kindern ihr Heimatland und reisten nach einer mehrwöchigen Reise durch das kurdische Bergland in den Iran ein. Etwa zwei Jahre später gelang der Familie mit einem Visum der österreichischen Botschaft die Ausreise nach Österreich und dann die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland. Auf ihre alsbald gestellten Anträge hin stellte das Bundesamt mit Bescheid vom 7. Oktober 1991 zunächst fest, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes vorlägen, und sprach dann - nach entsprechender verwaltungsgerichtlicher Verpflichtung - mit Bescheid vom 27. November 1992 auch die Anerkennung der Kläger als Asylberechtigte aus.

Im Januar 2004 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren unter Hinweis darauf ein, dass sich die politische Situation im Irak seit dem Krieg gegen das Regime Saddam Husseins und dessen Sturz grundlegend geändert habe. Demgegenüber machten die Kläger geltend, ungeachtet dessen seien die Gründe für die Beendigung des Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht gegeben. Danach reiche eine rein physische Sicherheit für Leib und Leben im Herkunftsland nicht aus. Erforderlich seien darüber hinaus ein funktionsfähiger Regierungs- und Verwaltungsapparat und eine demokratisch gewählte Regierung. Daran fehle es im Irak aber bislang.

Mit Bescheiden vom 3. bzw. 6. September 2004 widerrief das Bundesamt die Bescheide vom 27. November 1992 und vom 7. Oktober 1991. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Die Anerkennung als Asylberechtigte und die Feststellung nach § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes seien zwingend zu widerrufen, weil sich die innenpolitischen Verhältnisse im Irak inzwischen so grundlegend geändert hätten, dass eine politische Verfolgung der Kläger durch das frühere Regime Saddam Husseins auszuschließen sei. Nach den Kampfhandlungen und der ersten Phase der Besatzung hätten die USA die Regierungsgewalt an eine irakische Übergangsregierung übergeben. Damit und durch die weitere Entwicklung seien die Weichen für eine demokratische Neugestaltung des Irak gestellt. Außerdem lägen Abschiebungshindernisse nach § 53 des Ausländergesetzes nicht vor.

Die hiergegen von den Klägern fristgerecht erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteilen vom 27. April 2005 und vom 30. Mai 2005 abgewiesen und sich dabei der vom Bundesamt vertretenden Auffassung angeschlossen.

Mit der vom Senat zugelassenen Berufung verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Zur Begründung verweisen sie darauf, dass die Widerrufsregelung über den Wortlaut des § 73 Abs. 1 Satz 1 des Asylverfahrensgesetzes hinaus auch an der "Wegfall der Umstände"-Klausel des Art. 1 C (5) Satz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention und an Art. 11 Abs. 1 e der Richtlinie des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG) zu messen sei. Danach sei ein Widerruf erst zulässig, wenn sich die Verhältnisse im Herkunftsland grundlegend und dauerhaft geändert hätten und aufgrund dieser Veränderungen sicher gestellt sei, dass der Betroffene im Herkunftsstaat effektiven Schutz erlangen könne. Diese Voraussetzungen lägen zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Irak aber nicht vor.

Die Kläger beantragen,

unter Abänderung der Urteile des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 27. April 2005 und vom 30. Mai 2005 die Bescheide des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 3. bzw. 6. September 2004 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufungen zurückzuweisen.

Sie verweist darauf, dass nach der neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C. 21.04 -, DVBl. 2006, 511) der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung auch mit Blick auf die in Art. 1 C (5) Satz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention enthaltene Klausel dann zu widerrufen sei, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so geändert hätten, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinem Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sei und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung drohe. So läge es aber in der Person der Kläger.

Wegen des Sach- und Streitstandes in allen Einzelheiten wird auf die zu den Akten gereichten Schriftsätze und Schriftstücke Bezug genommen sowie auf die das Verfahren betreffenden Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes. Diese Vorgänge sowie die in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse lagen dem Senat vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufungen der Kläger sind zulässig, aber unbegründet.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage der Kläger gegen die Bescheide des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (heute: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) vom 3. bzw. 6. September 2005, mit denen deren Asylanerkennung sowie die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (heute: § 60 Abs. 1 AufenthG) vorliegen, widerrufen wurden, zu Recht abgewiesen. Denn diese Widerrufsbescheide sind rechtmäßig.

Ermächtigungsgrundlage für den Widerruf ist § 73 AsylVfG in der seit dem In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004 ab dem 1. Januar 2005 geltenden Fassung. Diese Fassung des Asylverfahrensgesetzes ist anzuwenden, weil gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, also zum gegenwärtigen Zeitpunkt, abzustellen ist und eine Übergangsregelung insoweit fehlt.

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr gegeben sind. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 -, DVBl. 2006, 511) ist das insbesondere dann der Fall, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Heimatstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht. § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG wird dabei vom Bundesverwaltungsgericht als inhaltlich dem Art. 1 Abschnitt C Nr. 5 Satz 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK) entsprechend ausgelegt. Dieser sieht vor, dass der Betroffene nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Ob dem Ausländer wegen allgemeiner Gefahren im Herkunftsland (z.B. aufgrund von Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage) eine Rückkehr unzumutbar ist, ist beim Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 AsylVfG nicht zu prüfen, sondern im Rahmen der allgemeinen ausländerrechtlichen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes zu berücksichtigen.

Zugleich ist mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts die Frage nach der Bedeutung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie) für den Widerruf beantwortet. Denn wenn das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 1. November 2005 auch nicht ausdrücklich auf die Qualifikationsrichtlinie zu sprechen gekommen ist, so hat es darin doch eindeutig zu erkennen gegeben, dass daraus jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt das Widerrufsrecht nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht eingeschränkt ist.

Diesem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. November 2005 schließt sich der Senat aus Gründen der Rechtssicherheit an. Mit Blick auf § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO hat er keinen Anlass, diese Fragen im vorliegenden Berufungsverfahren erneut grundsätzlich zu problematisieren.

Auf der Grundlage dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung liegen hier die Voraussetzungen für den Widerruf der Asylanerkennung und der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (§ 60 Abs. 1 AufenthG) vor. Zum einen haben sich seit dem Erlass der Anerkennungsbescheide vom 7. Oktober 1991 und vom 27. November 1992 die maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich verändert. Auch eine solche Änderung der Verhältnisse hat das Bundesverwaltungsgericht für das Herkunftsland Irak nach dem Sturz des seinerzeitigen Diktators Saddam Hussein bereits festgestellt (Urteil vom 25. August 2004, AuAS 2005, 5 [7]). Fast zwei Jahre nach dieser in einem Revisionsverfahren getroffenen Feststellung erweist sie sich auch zur Beurteilung der gegenwärtigen Situation als zutreffend. Zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) geht der Senat von folgender allgemeinen Lage im Irak aus:

Im gegenwärtigen Zeitpunkt, also im Frühjahr 2006, steht der Irak mehr als drei Jahre nach dem Beginn des Krieges der USA gegen das Regime Saddam Husseins (immer noch) "am Scheideweg" (vgl. dazu und zum Folgenden: Fürtig: "Zwischen Modelldemokratie und Staatszerfall: Irak am Scheideweg", in: Ratsch/Mutz/Schoch/-Hauswedell/Weller [Hg.]: Friedensgutachten 2005, Münster 2005, S. 33 - 42 - künftig: Friedensgutachten 2005). Der Entwicklungsweg des Irak ist nach Ansicht Fürtigs, die der Senat sich zueigen macht, auch nach den Ereignissen in diesem Jahr noch offen. Die Bandbreite der Möglichkeiten reicht vom Gelingen der politischen Rekonstruktion auf demokratischer Grundlage, über die Restauration einer konfessionellen oder ethnischen Vorherrschaft, den Ausbruch eines Bürgerkriegs bis hin zu einem Irak als Schauplatz des "Krieges der Kulturen". Die beiden letztgenannten Varianten bergen zusätzlich das Risiko eines Auseinanderbrechens des Irak in sich. Dieses breite Spektrum der möglichen Varianten resultiert vor allem aus dem Widerspruch zwischen dem Anspruch, mit dem die US-Regierung den 3. Golfkrieg begann, und der Realität, die sich aus dem Krieg ergeben hat.

Als Rechtfertigung des Krieges wurden zunächst die Existenz von Massenvernichtungswaffen sowie Verbindungen zwischen Saddam Hussein und Osama bin Laden bezeichnet. Als sich beide Gründe nicht hinreichend belegen ließen, wurden als weiterer Kriegsgrund die Befreiung des Irak und die Schaffung von Freiheit und Demokratie für das irakische Volk und weitere Völker der arabischen Welt genannt. Am 20. März 2003 begann der 3. Golfkrieg mit Luftangriffen auf Bagdad. Während die US-Truppen relativ schnell auch Bagdad einnahmen, die Spitzen des Regimes Saddam Husseins flohen und damit die US-Streitkräfte einen relativ leichten Sieg errangen, fiel die Stabilisierung und die beabsichtigte demokratische Neugestaltung des Irak sehr viel schwerer - und ob sie gelingt, ist heute noch ungewisser als zu Beginn des Krieges.

Den ersten Versuch einer Stabilisierung unternahm eine amerikanische Zivilverwaltung unter Führung des demissionierten Generals Jay Garner (vgl. dazu und zum folgenden: Fürtig: Kleine Geschichte des Irak, 2. Aufl., 2004, S. 150 ff - künftig: Kleine Geschichte - sowie ders.: Irak 2003, in: Deutsches Orient-Institut. Hanspeter Mattes [Hg.]: Nahost Jahrbuch 2003, 2004, S. 81 ff [ 84 ff.] - künftig: Jahrbuch 2003). Vorgesehen war eine rasche Übertragung der Regierungsgeschäfte an proamerikanische einheimische Politiker. Indessen wurde Garner schon nach wenigen Wochen abberufen und durch den neuen Zivilverwalter Paul Bremer ersetzt. Ziel Bremers war die Direktverwaltung des Irak durch die USA. Er ging das Kriminalitätsproblem offensiv an und löste die Ba'athpartei sowie die irakische Armee auf. Dies schuf neue Probleme. Denn die Auflösung der Ba'athpartei trieb die Masse der Mitläufer in den Untergrund oder zumindest in die Opposition. Die Liquidierung der Armee brachte 400.000 Bewaffnete um Lohn und Brot und beraubte den Irak seiner Sicherheitskräfte (vgl. dazu: Der Spiegel vom 28. Juni 2004).

Die Direktverwaltung trug dazu bei, dass die Mehrheit der irakischen Bevölkerung die US-Soldaten und die anderen Koalitionsstreitkräfte immer weniger als Befreier und immer mehr als Besatzer wahrnahm. Sie beteiligte sich zwar nicht am Widerstand und Terror, nahm ihn aber billigend hin. Der Irak kam nicht zur Ruhe, durchschnittlich starben nach Bremers Amtsübernahme täglich mindestens ein bis zwei Besatzungssoldaten. Bereits am 17. Juli 2003 sprach der CENTCOM-Kommandeur John Abizaid von einem regelrechten Guerillakrieg. Schon damals - im August 2003 - zeigte sich ein Phänomen, das in der Folgezeit immer wieder festzustellen war: Fahndungserfolge und Schläge gegen das frühere Regime und seine Repräsentanten führten nicht zum Abflauen des Terrors. Nachdem die Söhne Saddam Husseins, Uday und Qusay, bei einem Feuergefecht in Mossul am 22. Juli 2003 getötet worden waren, war der folgende Monat, der August 2003, der blutigste seit dem Ende der offiziellen Kampfhandlungen. Die alsbald ernannte provisorische Regierung war nach einem ethnisch-konfessionellen Proporz besetzt und brachte keine Stabilisierung. Rasch entstand die Wahrnehmung, dass die irakische Regierung von amerikanischen Beratern betrieben werde. Der Terror hielt unvermindert an. Im Oktober 2003 hatten die Besatzungstruppen mit 75 Toten die höchsten Verluste seit dem Kriegsende zu beklagen. Sogar der stellvertretende US-Verteidigungsminister Wolfowitz entkam nur knapp einem Anschlag.

Damit war wiederum ein Plan der USA zur Stabilisierung des Irak gescheitert und US-Präsident Bush erklärte seine Absicht, "die Iraker intensiver in die Regierung ihres Landes einzubeziehen". Daraufhin kam es zum sog. Bagdadabkommen. Danach wurde ein verbindlicher Zeitplan für die Übernahme der Regierungsgewalt durch einheimische Politiker aufgestellt, bis Ende Februar 2004 sollte eine Übergangsverfassung vorgelegt werden und bis Ende Mai 2004 sollte sich die provisorische Nationalversammlung konstituiert haben. Ein Markstein war das Datum des 30. Juni 2004. Zu diesem Zeitpunkt wollte man die Souveränität des Irak wiederhergestellt haben. Ein nächster Fixpunkt war der 15. März 2005. An diesem Tag sollten direkte Wahlen zu einer Verfassung gebenden Versammlung abgehalten werden. Als letzter Schritt war für den Dezember 2005 deren Ratifizierung durch einen Volksentscheid vorgesehen. Auf dieser Grundlage wären dann allgemeine Wahlen zu einer neuen Regierung möglich (vgl. Fürtig, Friedensgutachten 2005, S. 35 sowie, Jahrbuch 2003, S. 87). Die Voraussetzungen für die Realisierung dieses ambitionierten Planes schienen gut, vor allem nachdem es den USA unter entscheidender Mithilfe der Kurden gelungen war, Saddam Hussein am 13. Dezember 2003 in der Nähe von Tikrit gefangen zu nehmen. Aber auch dies brachte nicht die allgemein erwartete Stabilisierung der innenpolitischen Verhältnisse.

Die folgenden zweieinhalb Jahre bis heute sind gekennzeichnet einerseits dadurch, dass die wesentlichen Bestimmungen des Bagdadabkommens erfüllt wurden - wenn auch nicht immer zum vorgesehenen Datum -, andererseits durch eine Fülle von Terroranschlägen, Entführungen, Sabotage und Instabilität.

Der politische Prozess zum Wiederaufbau politischer Institutionen kam besser voran, als man ursprünglich erwartet hatte. Im März 2004 wurde die Übergangsverfassung angenommen, Ende Juni 2004 kam es zur formalen Übergabe der Souveränität und im August 2004 trat die Provisorische Nationalversammlung zusammen (allerdings einige Monate später als geplant, zudem wurden die Mitglieder nicht gewählt, sondern per Akklamation bestätigt). Mit den Wahlen am 30. Januar 2005 für die nationale Übergangsversammlung gelang es, einen Markstein auf dem Weg zur demokratischen Neugestaltung termingerecht zu setzen - und das, obwohl der ursprüngliche Termin um sechs Wochen vorverlegt worden war. Die Wahlen waren ein großer Erfolg, weil sie nicht nur nicht verschoben und auch nicht von Terroristen gestört wurden, sondern auch bei einer recht hohen Wahlbeteiligung von 58 % den festen Willen der Wählermehrheit zeigten, sich nicht einschüchtern zu lassen und das Schicksal selbst in die Hand nehmen zu wollen.

Wenn auch wieder mit Verzögerung und erst nach einem monatelangen Machtkampf wurden im April 2005 die wichtigsten Staatsämter besetzt. Ein sunnitischer Araber wurde Parlamentspräsident, der Führer der kurdischen PUK Dschalal Talabani Staatspräsident und der schiitische Politiker Ibrahim al-Dschaafari Ministerpräsident. Erst weitere Tage später konnte Premier Dschaafari sein Kabinett vorstellen. Aber auch dann waren einige Ministerposten nicht besetzt und eine Regierungserklärung fehlte auch noch (vgl. NZZ vom 4. Mai 2005).

Im August 2005 billigte das Parlament eine neue Verfassung. Diese wurde von den sunnitischen Parteien zunächst fast einhellig abgelehnt, weil sie vor allem mit den Passagen zum föderalen Staatsaufbau, zur Rolle des Islam und zur Verurteilung der Diktatur Saddam Husseins nicht einverstanden waren. (vgl. FAZ vom 29. August 2005). Nach Zugeständnissen vor allem die Schiiten gegenüber den Sunniten riefen dann doch Teile der sunnitischen Parteien ihre Anhänger zur Teilnahme am Mitte Oktober 2005 abgehaltenen Referendum über die neue Verfassung auf. Diese Verfassung wurde auch angenommen, weil die Sperrminorität der Sunniten (Ablehnung der Verfassung von mindestens 2/3 der Wähler in mindestens drei Provinzen) knapp nicht zum Tragen kam. Gleichwohl blieb die neue Verfassung ein Zankapfel. Nun wurde darum gestritten, in welchem Umfang noch Änderungen hieran vorgenommen werden und damit die Interessen der Sunniten und überhaupt der im Zentralirak lebenden Iraker berücksichtigt werden sollen (vgl. FR vom 9. November 2005).

Der vorläufig letzte Schritt gelang am 15. Dezember 2005 mit den Wahlen zum irakischen Parlament. Sie brachten den erwarteten Sieg für das Bündnis schiitischer Parteien "Vereinigte Irakische Allianz". Das Ergebnis (wie auch die politische Klugheit) zwingt aber die Allianz, sich bei der Regierungsbildung und anderen wesentlichen Entscheidungen mit den anderen politischen Kräften und Parteien abzusprechen. Angestrebt ist eine "Regierung der nationalen Versöhnung", die von allen drei großen Bevölkerungsgruppen - Schiiten, Kurden und Sunniten - mit getragen wird. Der Prozess dahin ist bisher aber quälend verlaufen. Monatelang hat es gedauert, bis sich Schiiten und Kurden auf den Schiiten Dschawad al-Maliki Ende April 2006 als Ministerpräsidenten haben einigen können. Seine ersten Erklärungen klingen wenig versöhnlich ("Wir Schiiten haben die Mehrheit, das müssen die Sunniten endlich kapieren. " - und: "Die Verfassung wird nicht mehr geändert, auch wenn in letzter Minute uns das Zugeständnis einer nochmaligen Überarbeitung abgerungen wurde."). Bis Ende Mai 2006 hat er noch Zeit, eine "Regierung der Einheit" zu bilden (Die Welt vom 25. April 2006).

Rückblickend kann man feststellen, dass das Bagdadabkommen und der Zeitplan weitgehend eingehalten wurden. Problematisch ist aber nach wie vor der Machtkampf der einzelnen Volksgruppen und Religionsgemeinschaften um die Besetzung der Staatsämter und die grundlegenden Aussagen in der Verfassung. Dabei scheint, als nähmen die Probleme und Konflikte noch zu, je mehr der Irak an Souveränität gewinnt und je konkreter es um die Aufsicht über die Erdölquellen und die Verteilung der Einnahmen hieraus geht.

Noch labiler erscheint dieser Prozess, wenn man dessen Begleitumstände berücksichtigt. Das gilt zunächst für die außerhalb dieses Prozesses liegenden Umstände. Der gesamte Prozess ist bis heute von ungeheurer Gewalt, von Terror und Instabilität begleitet. Bemerkenswert ist, dass diese Gewalt nicht nur bis auf den heutigen Tag anhält, sondern sich im Gegenteil noch steigert. Die Taktik hierbei, die Strategie und die Akteure sind schwer zu durchschauen. Opfer der Anschläge waren zunächst vor allem amerikanische Soldaten. Nach der Machtübernahme des Zivilverwalters Bremer Anfang Mai 2003 starben täglich mindestens ein bis zwei Soldaten (vgl. Fürtig, Jahrbuch 2003, S. 85). In der Folgezeit kamen in das Visier der Terroristen Iraker, die als Dolmetscher o.ä. bei und mit den Besatzungstruppen arbeiteten. Betroffen waren später gerade auch Christen (vgl. dazu den Beschluss des Senats vom 24. Januar 2005 - 10 A 10001/05.OVG). Darüber hinaus wurden zusehends Politiker und Regierungsbeamte ermordet, unter ihnen nicht zuletzt ehemalige Ba'ath-Kader, die sich zur Zusammenarbeit mit der neuen Regierung entschlossen hatten (vgl. NZZ vom 9. Dezember 2004).

Eine neue Dimension erhielten die Anschläge durch Selbstmordattentate und dadurch, dass immer öfter und immer mehr Schiiten Opfer des Terrors wurden. Im August 2003 wurden bei einem Anschlag mehr als 100 Schiiten und am 2. März 2004 beim Ashura-Fest fast 200 schiitische Pilger getötet (vgl. Fürtig, Friedensgutachten 2005, S. 39). Zu einer weiteren Eskalation kam es, als am 31. August 2005 anlässlich des Gedenkens an den Todestag des siebten Imams eine Massenpanik unter schiitischen Pilgern in Bagdad entstand. Nachdem bereits am Morgen Raketen auf das Heiligtum des Imams gefeuert worden waren, begann die Tragödie, als sich die Pilger auf einer Tigrisbrücke befanden. Ein Gerücht, dass unter ihnen auch Selbstmordattentäter seien, löste eine Massenpanik aus, bei der etwa tausend Pilger starben. Was schon als ein Fanal für einen Bürgerkrieg erschien, brachte aber das Unerwartete hervor: Sunniten, die die Katastrophe am Ufer erlebten, kamen den ertrinkenden Schiiten zu Hilfe und retteten Hunderte von Menschenleben. Dies und die Mahnungen schiitischer Führer wirkten besänftigend. "Diese Tragödie" - so der Sprecher von Großayatollah al-Sistani - "sollte alle Iraker näher zusammenbringen" (Focus vom 5. September 2005).

Dieser Appell blieb nicht ungehört. Er trug mit dazu bei, dass der befürchtete Bürgerkrieg unterblieb. Insbesondere die beiden großen Religionsgruppen, die Schiiten und die Sunniten, vermieden eine Eskalation. Die Konfrontation konnte sogar teilweise abgebaut werden Erschwert wurde dieser Prozess aber durch eine weitere Eskalation der Gewalt. Am verheerensten war am 22. oder 24. Februar 2006 der Anschlag auf die "Goldene Moschee" in Samarra, bei dem die Goldene Kuppel dieses sehr bedeutenden Heiligtums der Schiiten zerstört wurde. Dieser Frevel löste eine Welle von Gewalttaten zwischen Schiiten und Sunniten im ganzen Land aus. Dutzende Moscheen, vor allem sunnitische, aber auch schiitische, wurden zerstört. Mindestens 480 Menschen, meist Sunniten, denn ihnen schrieb man den Anschlag zu, kamen uns Leben. Obwohl viele dies als Fanal für einen hemmungslosen Bürgerkrieg ansahen und die Vergeltungsaktionen zwischen Schiiten und Sunniten sich fortsetzten, ist es zum letzten bislang nicht gekommen (Welt am Sonntag vom 27. Februar 2006, NZZ vom 22. März 2006). Wenn auch vorübergehend andere religiöse Minderheiten, wie etwa Christen, Opfer von Anschlägen wurden, so galten die meisten und schwersten Anschläge immer wieder Schiiten (vgl. NZZ vom 21. Februar 2005).

Inzwischen geht die militärische Opposition im Irak nach Ansicht von Sicherheitsexperten technisch und strategisch immer ausgeklügelter vor. Zwar gibt es nach wie vor Selbstmordattentate; weitaus häufiger aber werden nunmehr Sprengfallen eingesetzt oder Rettungswagen und Fahrzeuge ziviler Hilfsorganisationen gestohlen, um sie als fern gezündete Autobomben einzusetzen. Auffallend sind auch die zunehmenden Raketenangriffe auf Flugzeuge und Hubschrauber der Alliierten (vgl. Berliner Zeitung vom 6. April 2005). Mehr als hundert Anschläge gibt es heute täglich im Irak, doppelt so viele wie vor einem Jahr. 46 schwere Bombenanschläge mit jeweils mehreren Toten wurden im September 2005 verübt, etwa 400 Menschen kamen im November 2005 ums Leben, mehr als viermal so viele wie im Vergleichsmonat des Vorjahres. Der Tod droht vielerorts, an manchen Orten mehr als an anderen. So muss derjenige, der sich vor einer Polizeistation oder auch in der Nähe einer öffentlichen Einrichtung wie einem Krankenhaus aufhält, damit rechnen, Opfer eines Selbstmordattentats zu werden (Der Spiegel Nr. 49 vom 5. Dezember 2005).

Für den einzelnen noch gefährlicher sind inzwischen die Entführungen - von Ausländern, aber auch von Irakern. Seit dem Ende des Krieges sind viele tausend Iraker verschleppt worden, allein aus Bagdad werden jeden Tag 10 bis 15 Entführungsfälle gemeldet. Mitunter liegt die Zahl doppelt so hoch, und das sind nur die gemeldeten Fälle. Typische Opfer dieser "Entführungsindustrie", die meist von kriminellen Banden betrieben wird, sind reiche Iraker, irakische Angestellte westlicher Firmen, Übersetzer und Mitarbeiter des US-Militärs, Politiker, Polizisten, Sicherheitsoffiziere, Ärzte, Lehrer und sogar Kinder (FAZ vom 30. November 2005, Der Spiegel Nr. 49/2005 vom 5. Dezember 2005).

All dies zeigt, dass das größte Problem im Irak die Sicherheitslage ist. Der Premierminister der früheren Übergangsregierung Ijad Alawi nannte sie kurz vor den Wahlen im Januar 2005 "unsere Katastrophe" (vgl. Der Spiegel Nr. 2 vom 10. Januar 2005). Nicht anders beurteilte es der Alawi nachfolgende Ministerpräsident Dschaafari: "Sicherheit ist in der Tat das wichtigste Problem, und es ist deswegen so hoch kompliziert, weil wir es mit einer explosiven Mischung aus innerirakischen Faktoren und aus Entwicklungen jenseits unserer Grenzen zu tun haben" (vgl. Der Spiegel Nr. 12 vom 21. März 2005). Auch der neueste Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24. November 2005 spricht von einer "prekären" Sicherheitslage und stellt fest: "Durch tausende terroristischer Anschläge und fortgesetzte offene Kampfhandlungen zwischen militanter Opposition einerseits sowie regulären Sicherheitskräften und Koalitionsstreitkräften andererseits ist die Lage seit Beendigung der Hauptkampfhandlungen Anfang Mai 2003 äußerst unsicher geblieben. (...) Die andauernden Kampfhandlungen haben auch zahlreiche Opfer unter Zivilisten gefordert. Nichtregierungsorganisationen schätzen die Zahl auf über 15.000, einige gehen von 100.000 (...) aus." (Bericht S. 11).

Premierminister Alawi machte für den Terror im Wesentlichen drei Gruppen verantwortlich: radikale islamische Gruppen, Anhänger des alten Regimes und Verbrecher, die Saddam Hussein noch kurz vor Krieg aus den Gefängnissen frei gelassen hatte. Alle diese Gruppen zusammen - so Alawi - ergäben eine schreckliche Mischung an Gewaltpotenzial, wobei es auch noch Querverbindungen gäbe; besonders gefährlich sei der Bin-Laden-Vertraute Abu Mussab al-Sarkawi, der ein "eigenes Terrornetz von üblen Leuten unterhalte" (so Alawi, Der Spiegel Nr. 34 vom 16. August 2004). Der irakische Chef des Geheimdienstes geht davon aus, dass die irakische Terror- und Widerstandsfront 200.000 Mann zähle. Etwa 40.000 von ihnen seien hauptberuflich als Bombenleger und Scharfschützen aktiv, 160.000 als Teilzeitguerillas und Sympathisanten, die der kämpfenden Truppe Unterschlupf gewährten und sie mit Logistik versorgten. Das amerikanische Militär hat diesen Angaben nicht widersprochen, obwohl sie um das Zehnfache über die US-Schätzungen hinausgehen. (vgl. Der Spiegel Nr. 2 vom 10. Januar 2005). Nach einer neuen amerikanischen Studie gibt es zurzeit mehr als hundert Widerstands- und Terrorgruppen. Sie haben "keinen Schwerpunkt, keine Führung, keine Hierarchie" und handeln nach dem Motto: "Je schlimmer, desto besser." (Der Spiegel Nr. 49/2005, vom 5. Dezember 2005).

Bei diesen Unruhen und diesem Blutvergießen trat mehr denn je die gefährliche Rolle der irakischen Milizen und Privatarmeen ins Blickfeld, vor allem die der bewaffneten schiitischen Verbände: Die von dem radikalen Schiitenprediger Muktada al-Sadr kommandierte Mahdi-Miliz und die Badr-Milizen des Revolutionsrates, eine mehr als 10.000 Mann starke Kampftruppe (NZZ vom 28. Februar 2006, Die Zeit vom 2. März 2006, Der Spiegel Nr. 10/2006 vom 6. März 2006).

Diesen Aufständischen und Terrorgruppen haben die Koalitionsstreitkräfte und die irakischen Sicherheitskräfte nichts Entscheidendes entgegenzusetzen. Die Besatzungstruppen haben Stützpunkte im Land, sind aber nicht überall im Land präsent. Vor allem meiden sie "No-go-Zonen", in denen sie keine permanenten Stützpunkte haben und in denen sie fast sicher angegriffen werden (vgl. Die Welt vom 20. September 2004). Immer wieder führen sie in verschiedenen Teilen des Landes Offensiven durch, der gewünschte Erfolg bleibt aber oft aus. In der Bevölkerung genießen die Besatzungstruppen wenig Sympathie. Spätestens seit dem Folterskandal in Bagdads Abu-Ghureib-Gefängnis Anfang Mai 2004 sind die USA als moralische Instanz desavouiert. Weitere Aktionen wie die Kämpfe in Falludscha und Mossul sowie die Bombardements von Ramadi haben ihrem Ansehen zusätzlich geschadet. Nach Auswertung einer Umfrage unter Irakern stellte der wissenschaftliche Leiter der Untersuchung fest: "Mit dem Folterskandal von Abu Ghureib haben die USA den Irak verloren." (Der Spiegel Nr. 50/2005 vom 12. Dezember 2005).

Vor allem die irakischen Sicherheitskräfte müssten die Lage stabilisieren, das geschieht aber nicht. Nach Auflösung der gesamten irakischen Armee war ein gänzlicher Neuaufbau erforderlich, der noch längst nicht abgeschlossen ist. Bei der Übergabe der Macht an die Übergangsregierung Ende Juni 2004 zählte die Armee, die auch zur Terrorbekämpfung im Innern eingesetzt werden soll, 3.000 Soldaten. Der Polizei gehörten nominell 120.000 Polizisten an, sie waren aber schlecht ausgerüstet. Nur dreiviertel von ihnen erschien überhaupt regelmäßig zum Dienst, erst die Hälfte von ihnen hatte irgendeine Form von Ausbildung erhalten (vgl. Der Spiegel Nr. 27 vom 28. Juni 2004). Die Nationalgarde, die mit 40.000 Angehörigen die Hauptwaffe der Übergangsregierung im Kampf gegen Aufständische ist, wird eher als eine undisziplinierte Truppe angesehen, die zudem häufig Ziel von Anschlägen der Rebellen sei (vgl. NZZ vom 30. Dezember 2004). Daran hat sich in der Zwischenzeit wenig geändert. Nach einer Einschätzung des US-Verteidigungsministeriums sind die neu gebildeten irakischen Armee- und Polizeieinheiten für den Einsatz gegen Terroristen und Aufständische vorerst nur bedingt einsatzbereit. Lediglich drei von 107 Bataillonen seien voll einsatzfähig. Zudem erweise sich die Ausbildung von Irakern in westlichen Polizeitechniken besonders schwierig (vgl. NZZ vom 22. Juli 2005). Ein recht neues zusätzliches und nur sehr schwer zu lösendes Problem ist schließlich, dass die schiitische Mahdi-Miliz und die Badr-Milizen inzwischen mit Duldung des Innenministeriums die staatlichen Sicherheitskräfte unterwandert haben und weiter unterwandern (vgl. NZZ vom 21. Juni 2005, SZ vom 27. Juli 2005, NZZ vom 28. Februar 2006, Die Zeit vom 2. März 2006, Der Spiegel Nr. 10/2006 vom 6. März 2006).

Viele politische Beobachter und Akteure befürchten den offenen Ausbruch des Bürgerkriegs. Schon im Juni 2004 sprach der damalige irakische Außenminister diese Gefahr an (vgl. Der Spiegel Nr. 24 vom 7. Juni 2004). Dann warnte der Ministerpräsident der Übergangsregierung Alawi vor den Wahlen im Januar 2005, Ziel der Terroristen sei es, "ethnische und religiöse Konflikte zu schaffen". Tatsächlich nahm nach den Wahlen, aus denen die Schiiten mit einer deutlichen Mehrheit hervorgingen, der Terror gegen sie weiter zu. Die schiitischen Führer sahen sich veranlasst, vor der Gefahr eines Bürgerkriegs zu warnen und sahen in den Anschlägen den Versuch, im Irak einen Religionskrieg zwischen Sunniten und Schiiten auszulösen (vgl. NZZ vom 21. Februar 2005). Mitte Juli 2005 schließlich rechnete nach einer Serie von Anschlägen gegen die Schiiten der Berater des schiitischen Großayatollahs Ali al-Sistani mit einem Bürgerkrieg, wenn die Sicherheitskräfte nicht endlich in der Lage seien, die Schiiten zu schützen, denn dann müssten deren Milizen aktiviert werden (vgl. Die Welt vom 19. Juli 2005). Wenn gleichwohl derzeit auch die aktuelle Gefahr eines Bürgerkrieges - insbesondere in Gestalt eines Krieges zwischen Sunniten und Schiiten - gebannt erscheint, bestehen die aufgezeigten Konflikte doch unverändert fort. Es bleiben die Aufständischen und Terroristen, die mit ihren Anschlägen einen Bürgerkrieg anzetteln wollen, es bleiben die interkonfessionellen Spannungen, vornehmlich zwischen Sunniten und Schiiten. Ebenso bleibt der Einfluss des Nachbarstaates Iran im Süden des Irak.

Die Prognose vieler Irak-Kenner ist dementsprechend düster. In nicht näher bezeichneten deutschen Sicherheitskreisen rechnet man kaum damit, dass der Irak bis zum Ende des Jahrzehnts "eine Erfolgsgeschichte" werde. Es wird sogar nicht ausgeschlossen, dass der Irak bald zu den "gescheiterten Staaten" gehört, die praktisch nur noch auf dem Papier stehen und tatsächlich in Chaos und Anarchie verfallen (Berliner Zeitung vom 6. April 2005). In einer kürzlich für die amerikanische Regierung verfassten Denkschrift "Sieben Schritte zu einer letzten Chance im Irak" heißt es, das Jahr 2006 werde die Entscheidung bringen. Es bleibe nur noch "ein Zeitfenster von sechs bis zwölf Monaten", um den Bürgerkrieg zu vermeiden. Vorrangiges Ziel sei es dabei nicht, Terroristen zu jagen, sondern weiten Teilen der Bevölkerung ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Wenn ein Minimum an Sicherheit hergestellt werden könne, sollten die Vereinten Nationen und die zivilen Organisationen in den Irak zurückkehren, um das "zertrümmerte Land" aufzubauen (Der Spiegel Nr. 20/2006 vom 6. März 2006). Äußerst besorgt sind die Politiker und Journalisten, die wegen des Konfessionalismus (und Tribalismus) eine "Libanisierung" des Irak fürchten (vgl. dazu: Fürtig, Friedensgutachten 2005, S. 42). Aufgrund der eigenen Erfahrungen in seinem Heimatland geht ein libanesischer Politologe davon aus, dass das irakische Modell des religiösen und stammesmäßigen Proporzes nicht aufgeht. Die meisten arabischen Gesellschaften, auch der Irak, seien ethnisch wie religiös vom Zerfall bedroht. "Jeder wird (...) sein eigenes Volk, seinen Stamm oder seine Konfession wählen. Das zerreißt den Staat und führt zu Gewalt und Bürgerkrieg" (Der Spiegel Nr. 6/2005 vom 5. Februar 2005).

So Besorgnis erregend diese Einschätzungen auch sind, so zeigt die Analyse der gegenwärtigen Situation und die Vorschau auf die nähere Zukunft doch zweierlei: Zum einen, dass das bisherige Regime Saddam Husseins vollständig beseitigt ist. Seine Herrschaft war eine persönliche Diktatur. Saddam Hussein war Präsident und Ministerpräsident der Republik, Vorsitzender des Revolutionären Kommandorats als höchstem legislativen und exekutiven Organ des Irak, Oberbefehlshaber aller Streitkräfte, Generalsekretär der Ba'ath-Partei und ihres Militärbüros. Er war eine "Spinne im Zentrum des Machtnetzes des Irak" (so: Fürtig: Kleine Geschichte, S. 139). Zum anderen zeigt das Vorstehende, dass der Prozess der demokratischen Neugestaltung von ungeheurer Gewalt, Terror und Instabilität begleitet wird.

Vor diesem Hintergrund hat der Senat keinen Zweifel, dass sich die maßgeblichen Verhältnisse i.S.d. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 1. November 2005, DVBl. 2006, 511) nachträglich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr der Kläger in den Irak eine Wiederholung der für ihre Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist. Denn Saddam Hussein und die sein Regime mit tragenden Personen sind inzwischen nicht nur alle auf der Flucht und durch das irakische Volk abgewählt, sondern zum Teil getötet oder außer Landes. Ihm selbst und seinen führenden Helfern, denen man habhaft werden konnte, wird zudem zurzeit der Prozess gemacht, ihnen droht die Todesstrafe, auf jeden Fall aber lebenslange Haft. Deshalb ist zum heutigen Zeitpunkt eine Verfolgung der Kläger wegen tatsächlicher oder vermeintlicher früherer Gegnerschaft zu Saddam Hussein und seinem damaligen Regime, die Anlass für die seinerzeitige Flucht aus dem Irak war, auszuschließen.

Angesichts der aufgezeigten innenpolitischen Verhältnisse droht den Klägern bei einer hier allein wegen des Asylrechts und seines Widerrufs in Betracht zu ziehende Rückkehr in den Irak auch keine politische Verfolgung aus anderen Gründen, d.h. aus solchen, die keinerlei Verknüpfung mehr mit den früheren aufweisen, die zur Anerkennung geführt haben. Solche Gründe haben die Kläger nicht geltend gemacht, sie sind für den Senat auch nicht ersichtlich.

Dabei ist zu sehen, dass die gegenwärtigen Verhältnisse im Irak außer durch die demokratische Neugestaltung von einer bürgerkriegsähnlichen Krisensituation mit geprägt ist. Wie beim Guerilla-Bürgerkrieg bleiben die nichtsstaatlichen Akteure, die Terroristen und Gewalttäter, um keine Angriffsfläche zu bieten und um effektiv zu sein, im Verborgenen und höhlen das staatliche Gewaltmonopol fortschreitend aus. In dieser Situation erscheinen weniger die staatlichen Sicherheitskräfte als Verfolger, sondern vielmehr die nicht-staatlichen Akteure, die durch das Aufeinanderhetzen vor allem der verschiedenen Religionsgemeinschaften den Staat weiter destabilisieren und den Bürgerkrieg provozieren wollen.

Von daher droht (sunnitischen) Kurden wie den Klägern von den staatlichen Sicherheitskräften keine politische Verfolgung, das gilt umso mehr, als sie mit dem langjährigen Kurdenführer Dschalal Talabani das Staatsoberhaupt stellen und in den bisher gewählten Parlamenten und Regierungen eine maßgeblich Rolle gespielt haben und auch gegenwärtig spielen.

Aber auch von nicht-staatlichen Akteuren haben (sunnitische) Kurden in ihrer Gesamtheit keine politische Verfolgung zu befürchten. Wie dargelegt gehen die Anschläge und Entführungen - soweit sie nicht ohnehin einen rein kriminellen Hintergrund haben - vornehmlich von sunnitischen Arabern aus. Sie provozieren Vergeltungsschläge der Schiiten, vor allem von deren Milizen. Des Öfteren greifen die schiitischen Milizen aber auch zuerst die Sunniten und ihre religiösen Orte an.

An diesen Auseinandersetzungen und Gewaltakten sind die (sunnitischen) Kurden sowohl als Angreifer als auch als Opfer nicht beteiligt. Sie sind eine starke Bevölkerungsgruppe (ca. 16 Prozent der irakischen Gesamtbevölkerung), die sich nicht entscheidend über die Religion, sondern über die Ethnie definiert. Zudem haben sie nicht nur eine starke Position im Gefüge des Irak insgesamt, sondern gerade auch in ihrem traditionellen Siedlungsgebiet im Nordirak.

Nachdem die Kurden durch Saddam Hussein jahrzehntelang unterdrückt und verfolgt wurden - beginnend 1969 mit dem Bombardement zahlreicher kurdischer Dörfer mit Napalm und Raketen, über die Erschießung 8.000 männlicher Angehöriger der Barzani-Großfamilie und dem Giftgasangriff auf Halabja mit 5.000 Opfern, beides 1988, bis hin zur Niederschlagung des Kurdenaufstandes und der Flucht von etwa 1,5 Millionen Kurden 1991 -, wurde nach dem 2. Golfkrieg auf Veranlassung der Amerikaner im April 1991 nördlich des 36. Breitengrades eine Schutzzone für Kurden eingerichtet (vgl. Fürtig: Kleine Geschichte, S. 121 und 131; Presseerklärung der Gesellschaft für bedrohte Völker vom 19. Oktober 2005). Dadurch erhielten sie einen weitgehend autonomen Status im Norden des Landes. Die Realität im diesem Landesteil unterschied sich erheblich von der im Rest des Landes. Als wesentlicher Umstand kam hinzu, dass die Kurden den Krieg der USA gegen das Regime Saddam Husseins unterstützten. Dadurch erlitt der kurdische Norden keine Kriegsschäden und die Region kam in den Genuss von Investitionen, die ihre Entwicklung vorantrieben. Außerdem blieben die kurdischen Provinzen, von einigen besonders blutigen Zwischenfällen abgesehen, weitgehend von Terroranschlägen verschont. Die kurdischen Peshmerga ("Die dem Tod entgegengehen") üben als Miliz in den drei kurdischen Provinzen Dahuk, Arbil und Suleimanyia staatliche Sicherheitsfunktionen aus. Es sind Kontrollpunkte eingerichtet, in dem jedes Auto überprüft wird. Auch das Kontrollnetz im Übrigen ist engmaschig (vgl. ai: Schriftliche Stellungnahme vom 29. Juni 2005, S. 8; UNHCR: Schriftliche Stellungnahme vom 6. September 2005, S. 7; Gesellschaft für bedrohte Völker, Presseerklärung vom 21. Dezember 2005; FAZ vom 2. März 2006).

Diese starke Position konnte der kurdische Norden festigen. In der aktuellen Verfassung ist die Autonomie weitgehend verankert, ein indirektes Vetorecht sichert die eigene Rechtsetzung gegenüber neuen Gesetzen des Zentralstaats ab. Außerdem wurde die Rückkehr von ca. 200.000 Kurden zugesichert, die Saddam Hussein seinerzeit zwangsumgesiedelt hatte. Anders als die anderen Milizen sollen die Peshmerga-Einheiten nicht aufgelöst, sondern staatliche Sicherheitskräfte werden. Auch ist vorgesehen, die wegen ihrer Ölquellen wichtige Region um Kirkuk alsbald in den kurdischen Teilstaat zu integrieren (vgl. NZZ vom 8. Mai 2006).

Aus alledem folgt, dass eine Verfolgung der Kläger bei einer Rückkehr in ihre Heimatstadt Arbil unwahrscheinlich ist. Deshalb kommt es zur Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits auch nicht darauf an, welcher Maßstab für die zu treffende Prognoseentscheidung hierfür maßgeblich ist (offen gelassen auch von BVerwG, Urteil vom 1. November 2005, DVBl. 2006, 511).

Liegen damit die Voraussetzungen für den zwingend vorgeschriebenen Widerruf vor, so hat das Verwaltungsgericht die Klagen hiergegen zu Recht abgewiesen.

Da auch dafür nichts vorgetragen und auch nichts ersichtlich ist, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG 1990 (heute: § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG) bestehen, können die Berufungen insgesamt keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten beruht auf § 167 VwGO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe der in § 132 Abs. 2 VwGO bezeichneten Art nicht vorliegen.

Ende der Entscheidung

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